Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!) - Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach inszenieren am Schauspielhaus Wien einen Abgesang auf unsere kaputte Welt
Kassandras Erben
von Andrea Heinz
Wien, 9. November 2017. Man befürchtet schon das Schlimmste. "Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!) Eine postheroische Schuldenkantate" nennt sich das Stück von Thomas Köck, das er gemeinsam mit Elsa-Sophie Jach am Schauspielhaus Wien zur Uraufführung gebracht hat. Das Programmheft hat die Anmutung eines Proseminar-Readers: Wissenschaftliche Texte, Interviews und Zeitungsartikel, alles schön unterstrichen und angemalt, damit auch wirklich kein Zweifel aufkommt. Es geht hier um das Erbe. Darum, was für eine schrecklich kaputte Welt die Alten den Jungen hinterlassen werden.
Und dann steht Sophia Löffler auf der komplett weiß verkleideten Bühne (als Kassandra, wie sich später herausstellen wird) und lässt einen batteriebetriebenen Vogel fliegen. Der sogleich sinnfällig an die Wand knallt: Mit der Hoffnung ist es hier natürlich nicht so weit her. Am Boden liegen ordentlich ausgereiht weiße Leichensäcke. Zu atmosphärischer Klaviermusik erzählt Löffler mit kindlicher Begeisterung und großer Erweckungsgeste eine Geschichte von den Menschen, wie sie einst in ständiger Dunkelheit lebten – bis sie die Welt schließlich erfolgreich in eine dauererleuchtete, offensichtlich völlig degenerierte Moderne verwandelt hatten. Die Dialektik der Aufklärung halt: Wohin ein "mehr Licht" führen kann...
Der Jugendchor mit Wut im Bauch
Kaum eine viertel Stunde und die Schlüsselwörter sind schon fast alle gefallen: Freihandelskonzerne, Après-Ski-Partys, Großraumbüros, Sweatshops, ... Beinahe hätte man sich an dieser Stelle damit abgefunden, zeitkritischem Frontalunterricht beizuwohnen – wären da nicht diese Jugendlichen. Vierzehn Jugendliche sind, während Löffler immer ekstatischer ihren Monolog hält, auf die Bühne gekommen, und man muss sie an dieser Stelle alle beim Namen nennen, denn sie sind eine Schau: Mona Abdel Baky, Nils Arztmann, Hanna Donald, Nathan Eckert, Lena Frauenberger, Alexander Gerlini, Ljubica Jaksic, Daniel Kisielow, Anna Kubiak, Rhea Kurzemann, Cordula Rieger, Karoline Sachslehner, Gemma Vanuzzi und Juri Zanger.
Wie eine verschlagene Zombie-Gang drücken sie sich auf der Bühne herum, mit kalkweißen Gesichtern, in glitzernden schwarzen Leggins und mit pastellfarbenen Bomberjacken, auf denen Dinge stehen wie "Game Over". Präpotent lehnen sie an der Wand, stolzieren aufreizend langsam über die Bühne, werfen provozierende Blicke ins Publikum. Sie bilden den Chor, und als solcher ergehen auch sie sich erst einmal ausgiebig in Untergangsvisionen: Was sie nicht alles sehen müssen jeden Tag in ihrer Timeline, durch wie viele Katastrophen und Bedrohungen sie sich nicht jeden Tag hindurchscrollen müssen. Donald Trump! Sebastian Kurz!
Elternmörder
Es sind zuerst nur die blutig ernsten Mienen der Jugendlichen, ihre aggressive Entschlossenheit, die ahnen lassen, dass das eben doch kein bequem konsumierbares Diskursstück ist, in dem man gemeinsam die Welt anklagt. Irgendwann schnappen sie sich die Leichensäcke am Boden, bandagieren sich die Hände und beginnen einen Boxkampf mit den Toten. Verbal machen sie dann nicht mal vor den Lebenden halt. Sie erzählen von der Mutter, einem entfremdeten Wesen mit offensichtlich katastrophaler Work-Life-Balance und davon, wie sie mit einem Kissen in der Hand zu ihr gehen – um plötzlich ganz unberührt zu wiederholen: "sie wird nichts spürn, sie wird nichts spürn".
Genau an diesen Stellen entwickelt der Abend eine ungeheure Wucht: wenn der Diskurs aufhört. Wenn man selbst anfangen muss zu denken, weil es einem auf der Bühne nicht mehr vorgedacht wird. Ein Muttermord also, entsprechend dem antiken Vatermord. Aber kann das die Lösung sein? Über die Sinnhaftigkeit des Elternmordes denkt auch ein kleines Kind im 68ten Stock des Trump Towers nach, von dem Sophia Löffler nun zu erzählen beginnt. In einer trashigen Splatterszene (inklusive Blutregen vom Balkon) werden die Jugendlichen versuchen, auch sie zu ermorden – bis sich die Situation dreht und Kassandra den plötzlich sehr pubertären Kindern die Leviten liest. Denn ist die Jugend von heute nicht in Wahrheit überprivilegiert? Wer ist eigentlich im Recht?
Spätestens ab diesem Punkt schlägt der Abend genüsslich Haken. Während die Erzählpassagen oft langatmig wirken, nimmt die Inszenierung immer dann Fahrt auf, wenn der Chor auftritt, wenn er mit sich selbst oder seinem Gegenpart Kassandra in Widerstreit gerät. Immer, wenn ein Abschluss gefunden scheint, kommt plötzlich doch noch Widerspruch. Die Lösung gibt es natürlich nicht und eine einfache schon gar nicht. Was Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach mit diesem auf so kluge Weise uneindeutigen Abend schaffen, ist: Man fühlt sich gemeint. Was hier verhandelt wird, geht einen an.
Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)
von Thomas Köck
Regie: Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach, Bühne: Stephan Weber, Kostüme: Giovanna Bolliger, Dramaturgie: Anna Laner.
Mit: Sophia Löffler, Mona Abdel Baky, Nils Arztmann, Hanna Donald, Nathan Eckert, Lena Frauenberger, Alexander Gerlini, Ljubica Jaksic, Daniel Kisielow, Anna Kubiak, Rhea Kurzemann, Cordula Rieger, Karoline Sachslehner, Gemma Vanuzzi, Juri Zanger.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.at
"Hoch sollen diese Jugendlichen leben!", ruft Barbara Petsch in der Presse (10.11.2017), denn der 14-köpfige Chor sei "atemberaubend einstudiert". Mit der sinnlichen und amüsanten Produktion werde das Theater sicher "viele Angehörige der Youngsters locken", so Petsch. Köck, "einer der smartesten neueren Autoren", packe das Thema Erben in ein Griechendrama. Inszeniert sei dieser "Cluster mit wirklich vielen Ingredienzien" als "Saalschlacht Pubertierender mit einer Protagonistin". Daneben geben es "eine fette Abrechnung" mit Politik und Kapitalismus: "Kinder Reicher erben große Vermögen, Kinder der Armen nichts – und beide eine zerstörte Welt."
Mit seinem "Mash-up von griechischer Tragödie und zarter Science-Fiction" wandle Köck "famos auf den Spuren Elfriede Jelineks", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (10.11.2017). Dabei schaffe Köck "unverbrauchte Denkfiguren als Diskursangebot aus dem Geist von Poesie und Heiterkeit". Die Seherin werde bedrängt von einer "jungen mitteleuropäischen Erbengemeinschaft jenseits der Charmegrenze", so Affenzeller. "Aus dieser Dynamik entwickelt sich ein prächtiger Abend, der diverse Textgattungen in sich vereint und dessen von kühnen Wendungen und Stilbrüchen getragener belletristischer Redestrom lebhaftes Denken verursacht." Des Publikums Reaktion? "Großer Jubel."
Als "das kleine Theaterwunder in dieser Wiener Herbstsaison" annonciert Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (13.11.2017) den Abend. "Vierzehn fulminant als Chor der aufgebrachten Trotzköpfe auftretende Jugendliche, sprech- und spielbegabt wie nur je eine klassische Mahner-Meute, lesen auf grandiose Art und ungehörige Weise all den Katastrophen-Verursachern und Perspektiven-Verhinderern die Leviten." Bachs eher lethargisches "Klagt, Kinder, klagt!" verwandelten sie in einen Schlachtruf, "gegen eine durch ‚strahlende Dunkelheit‘ irrende Kassandra (beeindruckend: Sophia Löffler)" Sturm skandierend. "Das ist auch mal holzschnittartig und kreuz-quer (von Trump zu Kurz, von Flüchtlingen zu ungedeckten Derivaten), doch immer aus tiefster Seele gegen all das, was die alten ‚abgehängten weissen Männer‘ angerichtet und liegengelassen haben." Köcks sprachgewaltiger Text sei "mit Drive und viel Spass im Ernst inszeniert, mit einem Funken Hoffnung sogar".
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Einer der besten Stücke die ich gesehen habe!
Ups, hat sich da jemand über den gestrigen Tag die Mühe gemacht, rege und begeisterte Kommentare zu schreiben.
Wäre ja cool, wenn's wirklich ein Zuschauer wäre. Würde dann auf jeden Fall für Stück und Inszenierung sprechen.
(Liebe*r Kommentator, tatsächlich kommen die Kommentare von unterschiedlichen IP-Adressen, was zwar nicht ausschließt, aber die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sie, wie Sie argwöhnen, von ein und derselben Person stammen. Mit freundlichem Gruß aus der Redaktion, sd)
Über die Form hinaus ist jedoch der Inhalt zu loben, der einem Lebensgefühl Ausdruck gibt, das meiner Generation so noch niemand nahe gebracht hat. So wünsche ich mir gesellschaftliche Relevanz des Theaters.
Die Grundfrage, wie „wir“ – auch dies eine Konstruktion – mit der uns gegebenen Welt umgehen, stellt er nicht nur, ihre Antwortoptionen exerziert er nicht nur durch, sondern er befragt auch die Frage selbst, ihre Zulässigkeit und Gültigkeit. Damit öffnet er den Raum weit: für den zum Denken gezwungenen, die Fragwürdigkeit der Voraussetzungen dieses Denken erkennen müssenden Zuschauers, aber auch den des Theaters als Spielraum, als Ort des Diskurses wie des Spiels, der Körperlichkeit, der Sprache, auch der Musik. die kommentierend und widerborstig unterstützt wie stört. Das Ergebnis ist ein Abend von solch theatraler Kraft, wie man es diesem gern so behäbig daherkommenden Medium kaum noch zutraut, weil es viel zu oft bestätigt statt aufwühlt, versichert statt verunsichert. Dieser Text, dieser Abend tut all das gleichzeitig, er akzeptiert kein „statt“. Eine Lehrstunde darin, was Theater vermag. „Game over“ steht auf einer der Jacken. „Game on!“ trifft es besser.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/19/game-over-game-on/
Sie haben den Abend ohne Zweifel gut gewuppt, aber es blieb doch ein bisschen ein "Pollesch-für-Arme" Beigeschmack. Wenn "talent borrows, genius steels" hier Programm gewesen sein sollte, hat sich das nicht vermittelt.
Das Sperrfeuer dieser Anklage ist schwungvoll und präzise choreographiert. Auch wenn die Textverständlichkeit manchmal leidet, gehört der Wiener Teenager-Chor zu den Publikumslieblingen dieser beiden Festival-Wochen. Gegenspielerin des Chores ist Sophia Löffler als die Seherin Kassandra. Im hohen, pathetischen Ton und blauen Abendkleid hat sie den ersten Auftritt des Abends, bevor der Chor die Bühne entert. Die Wortgefechte zwischen der Solistin und den Pubertierenden, denen sie die Leviten lässt, und die Verfolgungsjagden mit Hooligan-Baseballschlägern erinnern sehr an René Pollesch und seine Guerilla-Chöre, die Sophie Rois oder Fabian Hinrichs hetzen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/19/die-zukunft-reicht-uns-nicht-koeck-wutchor-schauspielhaus-wien-kritik/
Und zweites Beispiel von Behrens: "Mal lässt er die Stimme auf dem Hochton überschnappen, mal gibt er mehr Bruststimme hinzu, mal bricht er mit kleinen Ausrastern ganz aus dem Modell aus. Immer aber wohnt diesem Sprechen etwas eigenartig Appellatives inne, das die Zuschauer sofort umhüllt und mitnimmt – besonders deutlich ist das in den Momenten, in denen Hinrichs mit ausgebreiteten Armen aufs Publikum zugeht, als wolle er sagen: Kommt mit! Vertraut euch meiner Litanei an, es wird euer Schaden nicht sein!"
Das sind beispielhaft zwei Versuche, so etwas wie eine Stimme in einem Raum zu beschreiben und in welche Dimension Zuschauer und auch Text durch solche Beseelung gelangen können. Von alldem ist dieser Abend (natürlich) so weit entfernt wie die Weltgesellschaft vom Ende des Kapitalismus. Und um im Kontext dieser Plattform hier zu bleiben zitiere ich ein letztes Mal Wolfgang Behrens, diesmal jedoch aus einer Kritik über all die Kopisten Schleefs (Rasche/auch Mondtag), welche man aber eben auch auf diese Pollesch-Kopie anwenden sollte: Man solle nicht vergessen, "dass Schleefs Formen nicht einfach zufällig übergestülpte Mittel waren, sondern in einer zwingenden Spannung zum Inhalt seiner Kunst standen. Es ist dieser unbedingte Ernst im Umgang mit den Gehalten, dieser obsessive Anspruch, Form und Inhalt wechselseitig auseinander hervorgehen und aneinander explodieren zu lassen, an den erinnert werden muss. Und das geschieht selten und viel zu selten leider auch bei den Regisseuren, die sich heute auf Schleef berufen. Nicht Einar Schleefs Mitteln, seinem Anspruch gälte es nachzueifern."
Die überschwänglichen Kritiken zum Köck-Stück lassen ahnen, wie ahnungslos man in Wien zu sein scheint.
hinzufügen möchte ich: einsatz einer drohne, aber nicht als deko oder als kalauer - sondern mit gehirn.als vorbote einer anderen zukunft. im gegesatz zum vögelchen, daß noch auf mechanische hilfe des menschen angewiesen ist.
ausserdem: den jungen dartseller*innen das grösste kompliment - die sind so überzeugt, die meinen was sie sagen - die sind nicht dressierte sondern handelnde subjekte.
und please: pollesch ist inzwischen ein genre - und die machen das super, klar erinnert das an Chor irrt sich gewaltig. sowie jede sebastian hartmann inszeinierung auich irgendwie an castorf erinnert - aber das ist doch total OK.
1) #14 hat nie geschrieben "alles irgendwie okay", sondern "das [Hartmann/Castorf] ist okay". Woher kommt ihre verallgemeinerte Prämisse?
2) Was genau ist die "Pluralismushölle"?
3) Selbst wenn wir einen Pluralismus im Heute beobachten, warum wäre dann Hartmann ein - gewissermaßen - Sohn der Hölle?
4) Wie hängen Vielfalt und Pluralismus und auch deren jeweilige Vermeintlichkeit zusammen?
Für mich stehen herausragende künstlerische Leistungen (im Einzelnen) und Vielfalt (in der Breite) nicht im Widerspruch. Ich finde beides 'irgendwie total okay'.