Tote in der Wirtschaft

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 20. Mai 2015. Ein Wurm, ein Würmchen. Wer sich selbst so charakterisiert, verdient Misstrauen wegen Koketterieverdacht. Doppelte Vorsicht ist am Platz, wenn sich ein solches  "Würmchen" durch untadelige Manieren und geschmeidige Eloquenz in Ohren und Herzen der Obrigkeiten schmeichelt. Im Dorf geht er um, die Gutsbesitzer sind seine potentiellen Kundschaften: Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ist einer der ersten Wirtschaftsverbrecher in der Literaturgeschichte. Vielleicht sogar der erste im Sinn, den das Wort mittlerweile hat. Zu Dumpingpreisen kauft er die Namen von verstorbenen Bauern, deren Tod noch nicht aktenkundig ist. Sozialbetrug heißt das moderne Wort dafür. Was Nikolai Gogol 1842 in seinen Roman "Die toten Seelen" beschrieben hat, taugt immer noch als Geschäftsmodell. Die Tschitschikows unserer Tage luchsen dem wirtschaftsliberalen Staat Bauprojekte und Kanalsysteme, zu verwettende Schulden oder ungeliebte Spitalsleistungen ab. Derivate, "Heuschrecken": Wetten, dass Gogol selbst die Panik erfasste ob dem, was er da bedrohlich hellsichtig heraufbeschwor.

"Tote Seelen" – so heißt die Produktion des Gogol-Zentrums Moskau in der Regie des russischen Kult-Theatermannes Kirill Serebrennikow. Der Artikel ist weg, es wird allgemein. An Gogols Roman braucht Serebrennikow nicht lang zu justieren, um alles Gestrige weitgehend vergessen zu machen. Neun Schauspieler und einen Pianisten schickt er ins Rennen in einem geräumigen, schmucklosen, nach hinten sich leicht verengenden Kubus aus Pressspanplatten. Drei große alte Autoreifen, drei Tische, ein paar Sessel. Unaufwändiger kann Theater nicht sein.

Fast wie bei Tschechow

Tschitschikow treibt seine Mauscheleien dort mit Menschen, die der Regisseur bei aller Überdrehtheit, bei allem Slapstick mehr als ernst nimmt. Klar sind sie selbst tote Seelen, haben sich überlebt, sind aus der Zeit gefallen. Aber sie waren vermutlich früher nicht weniger Schlitzohren als der Erzschurke Tschitschikow. Sie treten ihm mit übertriebener Vorsicht oder mit Misstrauen, mit Bauernschläue oder mit merkantilem Gespür entgegen.

ToteSeelen2 560 AlexYocu uIm Seelen-Kaufmannsladen. © Alex Yocu

Rasche Identitätswechsel, Verwandlungen, Verkleidungen, alles in blendendem Timing. Da dürfen die Herren sich schon mal kurz in eine Hundemeute verwandeln oder in Frauenkleider schlüpfen und als Mägde der Witwe Petrowna den vermeintlichen Weltmann beäugen. Auf den ersten Blick mag mancher der Typen klischeehaft aussehen, ein wenig wie eine Figur in einer nicht ganz bewältigten Tschechow-Inszenierung. Aber eben nur auf den ersten Blick. Denn die Regie dreht immer deutlich weiter an der Schraube. Da bekommen die Herren Gutsbesitzer bizarre und dämonische Züge. Sie werden echte Herausforderungen für den Seelenkäufer Tschitschikow, sind äußerst vital und temperamentvoll und geben sich wirklich widerständisch. Es ist ein Kräftemessen auf Augenhöhe.

Musikalische Fragen ans Heute

Ohne dass Kirill Serebrennikow die Geschichte äußerlich in die Gegenwart manövriert, bringt er uns die Story ganz nahe. Die Kostüme: reizvoll im Mix und der Bizarrerie der Szenen gut angemessen, Zeitloses mit kleinen Ausreißern ins 19. Jahrhundert oder in die Gegenwart. Heute wäre der um kein Plädoyer in eigener Sache verlegene Tschitschikow wahrscheinlich in der ego-zentrierten Beratungs-Branche tätig. "Tote in der Wirtschaft, wozu sollen sie zunutze sein?", fragt einer zweifelnd. Augenblicklich wendet Tschitschikow die Argumentationstaktik, um den Preis für ein paar Namen noch Mal zu drücken: "Mit Toten kann man höchstens einen Zaun abstützen."

"Tote Seelen" ist in dieser auch ob der schauspielerischen Ensembleleistung beeindruckenden Aufführung durchs Moskauer Gogol-Zentrum bei den Wiener Festwochen zum ersten Mal im deutschen Sprachraum zu sehen. Viel, enorm viel Text – und dass man mit dem Lesen der deutschen Übertitel ziemlich gut beschäftigt ist, erschwert gelegentlich der Wahrnehmung der mimischen und gestischen Feinmotorik, die diese Theaterarbeit auszeichnet.    

Nicht zu vergessen: Das Klavier am linken Bühnenrand. Es wird nämlich auch gesungen. Alexander Manotskow hat Gogols "lyrische Abschweifungen" in Chansons, Balladen und Bänkelsängerlieder verwandelt, in tollkühnem Stil-Mix. Das sind dann Kommentare, die die Story nochmal herauszuheben helfen aus der historischen Ferne. "Russland, was willst du von mir?", singen sie zuletzt. Gute Frage.  

Tote Seelen
von Nikolai Gogol
Bühnenbearbeitung von Kirill Serebrennikow
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikow, Komposition: Alexander Manotskow, Musikalische Leitung: Arina Zvereva, Licht: Igor Kapustin.
Mit: Odin Biron, Oleg Guschtschin, Ilja Kovrischnikh, Anton Kukuschkin, Nikita Kukuschkin, Andrej Poliakow, Jewgeni Sangadschiew, Sergej Sosnowski, Semjon Steinberg, Michail Troinik, Anton Wassiljew.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Der Regisseur Kirill Serebrennikow fiel mit seiner Lars-von-Trier-Adaption "Idioten" auch beim letztjährigen FIND-Festival der Berliner Schaubühne auf.

 

Kritikenrundschau

"Sollte in Kirill Serebrennikows Inszenierung von Tote Seelen vielleicht sogar von Putin-Russland die Rede sein?", fragt Ronald Pohl in Der Standard (22.5.2015). Die bis zum Anschlag heitere Produktion des Moskauer Gogol-Zentrums lasse darüber im Wiener Volkstheater kein Sterbenswörtchen verlauten. "Sie lärmt sich - auf streckenweise amüsante Weise - in die slawophilen Herzen der Festwochen-Besucher."

"Gogols Ton zu treffen hat Regisseur Kirill Serebrennikow gar nicht erst versucht", schreibt Bettina Steiner in Die Presse (22.5.2015). "Da ist nichts elegant oder raffiniert", aber "komisch und manchmal übertrieben, mit viel Spaß an Slapstick". Serebrennikows Inszenierung zeige eine "von Macht und Testosteron besessene Gesellschaft, die kraftvoll ist und gerissen, selbstzufrieden und brutal". "Am Ende muss Tschitschikow fliehen. (…) Russland ist stärker", so Steiner: "Wohin er fliehen wird? Wir behaupten: in den Westen."

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