Liebe dich selbst!

3. Juni 2022. In Elsa-Sophie Jachs Kleist-Inszenierung werden aus Doppelgängern multiple Persönlichkeiten und aus Göttern Göttinnen. Auch befreit frau sich beherzt von barocken Haartürmen und üppigen Reifröcken. Dafür fällt die Botschaft des Abends überraschend klar aus.

Von Valeria Heintges

Elsa-Sophie Jachs Kleist-Inszenierung "Amphitryon" am Luzerner Theater © Ingo Hoehn

3. Juni 2022. Wer bin ich, und wenn ja wie viele? Der Buchtitel von Richard Precht wird oft zitiert. Aber selten passte er so wie auf eine Szene in "Amphitryon" am Luzerner Theater, in der sich Alkmene drei Doppelgängerinnen gegenübersieht, die mit gleichem Kostüm und Masken vor dem Gesicht aussehen wie sie selbst.

Es gingen bereits einige Momente voraus, in denen Alkmene an ihrem Verstand zweifeln musste. Ihr Mann Amphitryon verbringt mit ihr – nach sechsmonatiger Abwesenheit – eine überraschend wilde Liebesnacht und behauptet am nächsten Tag, er sei am Abend vorher gar nicht dagewesen. Was beide nicht wissen: Gott Jupiter erschien der Gattin in Gestalt des Ehemannes. Der Ehekrach, der folgen musste, hatte sich gewaschen. Man weiß doch schließlich, wo man wann ist. Oder?

Identitätsspiele im Social-Media-Zeitalter 

Diesem "oder" hat Heinrich von Kleist ein Werk gewidmet, das sich aus seiner Arbeit an einer Übersetzung des gleichnamigen Molière-Stücks ergab und zur Komödie um Identitäten mauserte. Ein hochaktuelles Thema in einer Zeit von sozialen Medien, Avataren und Fake-Profilen, wie Karin Henkel etwa 2013 theatertreffentauglich am Zürcher Schauspielhaus bewies.

Amphitryon2 Ruediger Hauffe Ingo HoehnÜppiges Dekor, karges Inneres: Rüdiger Hauffe in Johanna Stenzels Bühnenbild © Ingo Höhn

Doch darum geht es Regisseurin Elsa-Sophie Jach in Luzern nicht. Sie verdoppelt nur Alkmene in dieser einen Szene, in der sie den Doppelgängerinnen Worte in den Mund legt, die im Original Jupiter spricht. Nicht mit dem Gott redet jetzt also die Sterbliche, sondern mit sich selbst. In Luzern sowieso nicht mit dem Gott, sondern mit der Göttin: Hier gibt Anna Elisabeth Kummrow eine sehr weibliche Jupita und Helene Krüger als deren Gefährtin eine Merkuria, die sich ebenfalls ihrer Reize sehr bewusst ist.

Entgrenzung im wilden Diskotanz

Aber nicht um gleichgeschlechtliche Liebe geht es, sondern um ein "Erkenne dich selbst" in der Liebe. Denn diese Figuren, vor allem Alkmene, lassen nach der heißen Nacht ihre ganze aufgetürmte Künstlichkeit fahren, entgrenzen sich im wilden Diskotanz, weil sie eine andere Seite ihres Ichs erlebt haben. Zwar wird die Liebesnacht nur als innige, aber kurze Umarmung gezeigt, bei der Jupita Alkmene den Mantel als großes, rotes Herz zurücklässt (ja, wirklich!). Dafür ist das Erwachen schmerzhaft und ausdauernd: Plötzlich gibt sich der Gatte abweisend. Ist Anja Signitzers Alkmene erst noch von ihrer Unschuld überzeugt, melden sich tiefe Zweifel, als sie merkt, dass auf dem Diadem des Geliebten kein A für Amphitryon, sondern ein völlig unverständliches J prangt. In dieser Szene des Zweifels hat sie ihren barocken Haarturm und den sie einengenden Reifrock bereits gegen einen schlafanzugartigen Zweiteiler getauscht, auch ihr Haar trägt sie jetzt offen. Der Flokati der Liebesnacht liegt nicht mehr in der Ecke, sondern im Mittelpunkt des edlen Palastsalons.

Amphitryon Wiebke Kayser Ingo HoehnDünne Essenz, aber tolles Spiel: Wiebke Kayser als Dienergattin Charis © Ingo Höhn

Nach der (bei einer Spielzeit von 90 Minuten völlig unnötigen) Pause sieht man die Darsteller:innen auf dem jetzt spiegelnden Boden im Halbdunkel, erkennt sie kaum, sieht die im Schwarzlicht strahlenden weißen Masken vor dem Gesicht und Köpfe ohne Perücken – die Damen ohne Haarturm, Rüdiger Hauffe ohne seine blonden Locken. Jetzt ziehen sie sich gender-unspezifische Gazehosen und Röcke an, die alles durchscheinen lassen. Und wer ist jetzt Amphitryon – wird Alkmene gefragt. Sie zögert, sie zaudert – sagt grob geschätzt 100 Mal: "Verflucht". Bis sie den Satz schließlich vollendet: "Verflucht die Seele, die nicht so viel taugt, um ihren eigenen Geliebten und sich selbst zu erkennen!" Sie spricht es, küsst reihum jeden Einzelnen und jede Einzelne – und geht ab; bricht dafür durch die Tapete in der Hinterwand, verlässt regelrecht die Szenerie. Denn ja, glücklich lieben kann nur, wer sich selbst liebt, wie sie jetzt weiß.

Üppiges Dekor, karges Inneres

Um das aussagen zu können, haben Elsa-Sophie Jach und ihre Dramaturgin Eva Böhmer Kleist hart zusammengestrichen und das Personal auf sechs Figuren reduziert. Das spielt durchweg gut, vor allem Anja Signitzer als Alkmene und Wiebke Kayser als Dienergattin Charis. Doch ist die Essenz ein wenig dünn, ähnelt den Sprüchen auf Abreißkalendern und bleibt höchstens auf halber Strecke zur Kleistschen Vielstimmigkeit und seinem komplexen Spiel um Identitäten stehen. Da wären etwas differenziertere Aussagen möglich gewesen, die auch dem Parallelpaar Sosias (Christian Baus) und Charis mehr Bedeutung gegeben hätten. Oder, um es passend zur Ausstattung von Johanna Stenzel zu formulieren: Es ist ein wenig wie die Kunst des Barock: Viel Trara nach außen, und reichlich üppiges Dekor und überbordender Stuck verhüllen ein recht karges Inneres.

 

Amphitryon
Von Heinrich von Kleist
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne und Kostüme: Johanna Stenzel, Licht: Marc Hostettler, Sounddesign: Charlotte Brandi, Dramaturgie: Eva Böhmer.
Mit: Anja Signitzer, Wiebke Kayser, Rüdiger Hauffe, Christian Baus, Anna Elisabeth Kummrow, Helene Krüger.
Premiere am 2. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

Elsa-Sophie Jachs Inszenierung sei zwar ein Augenschmaus, aber inhaltlich ohne konsequente, tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem selbstauferlegten Thema, schreibt Stephan Welzel in der Luzerner Zeitung (2.6.2022). Doch gerade dieser Stoff Kleists "mit seiner Heldin Alkmene, die sich in der totalen Desorientierung, Spiegelung und Täuschung mit besitzergreifenden und machtgeilen Männern herumschlagen muss", hat aus Sicht des Kritikers "durch seine schlichte Präsenz genug, um damit Aktualitätsbezug zu schaffen. Da brauchen wir eigentlich keine Sosias oder Amphitryons, die in der zweiten Hälfte nach der Pause in langen Fummelroben – im Klischeedenken ergo in Frauenkleidern – zu Technobeats auf der Bühne herumhoppeln. Oder zwingend Göttinnen anstatt Götter. So wird die vermeintliche Befreiung vom Klischee zum Abklatsch."

 

Kommentare  
Amphitryon, Luzern: Interpreten
Danke für die informative Kritik, die erfreulicherweise informiert, was da geboten wird. "Kleist hart zusammengestrichen", "Essenz ein wenig dünn, ähnelt den Sprüchen auf Abreißkalendern und bleibt höchstens auf halber Strecke zur Kleistschen Vielstimmigkeit und seinem komplexen Spiel um Identitäten stehen (...). Viel Trara nach außen, und reichlich üppiges Dekor und überbordender Stuck verhüllen ein recht karges Inneres." Abgesehen davon, dass Barock genau so nicht war (das Innere war nie karg, sondern geistig reich und sehr sinnlich): Warum wird ein so fantastischer Stoff mit tollen Rollen und Themen offenbar so klein gemacht und auf zeitgeistig gebürstet? Und wer kauft dafür Karten zum Preis von 85 Schweizer Franken? (sogar der Mindespreis von 25 Franken ist nicht gerade günstig) Wann verstehen Theatermacher endlich wieder, dass sie in erster Linie Interpreten sind und manchmal möglicherweise deutlich weniger kluge oder interessante Ideen haben als die Autoren und deren Stücke? Nachsatz: Das Luzerner Bühnenbild und die Kostüme sehen zumindest gut aus.
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