Blog: Eines langen Berliner Theatertages Reise in die Abschiedsnacht
Luftschlösser und Nationaltheater
Berlin, 1./2. Juli 2017. Berlin feiert Abschied – in alten und neuen Gewändern. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gingen vergangene Nacht die Lichter der Ära Castorf aus (und die Flaggen mit dem legendären Räuberrad zapfenstreichmäßig vom Mast). In Reinickendorf eröffneten Vegard Vinge und Ida Müller derweil ihr Nationaltheater Reinickendorf (über dessen Struktur und Werkgehalt man noch nichts verraten darf, denn es war eine Vorpremiere. Die Kritik folgt am 7. Juli). Und Vinge / Müller grüßten kräftig zum Rosa-Luxemburg-Platz hinüber. Am heutigen Sonntagabend endet auch die Intendanz von Claus Peymann am Berliner Ensemble. nachtkritik.de-Autorinnen waren hier und dort und protokollieren eines langen Theatertages Reise in die Abschiedsnacht.
In der Höhe schwindelnd sterben
16:15 Uhr. Was für ein Gedränge! Akute Nervosität bei den Gästen und dem Einlasspersonal: Jede*r Karteninhaber*in kriegt ein Bändchen, damit sich in der Pause niemand unberechtigt in den Saal stehlen kann. Dann hakt auch noch die Technik. Mit einer Viertelstunde Verspätung geht's los: Hanna Hilsdorf und Daniel Zillmann stolpern auf Bert Neumanns Bühne und fangen an, hinreißend schräg zu singen. Warum ausgerechnet "Baumeister Solness" nach Henrik Ibsen?
Endspurt: Heute nach dem allerletzten BAUMEISTER SOLNESS laden wir zum großen Straßenfest. Ab ca. 20:30 Uhr auf dem Rosa-Luxemburg-Platz! pic.twitter.com/7yWeRAMZFd
— Volksbühne Berlin (@Volksbuehne) 1. Juli 2017
"Baumeister Solness" ist die Geschichte eines Architekten, der seine Karriere auf Kosten aller Menschen, die ihn umgeben, gemacht hat. Solness hat in die Höhe gebaut und wird in der Höhe schwindelnd sterben. Für Frank Castorf ist es ein Selbstporträt, a portrait of the artist as an elderly man. Graumelierte Henry-Hübchen-Puppen säumen die Bühne, fliegen mitunter im hohen Bogen umher. "Henry" als Inbegriff der goldenen Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz. Und jetzt?
Baumeister Solness. @Volksbuehne Letzte Vorstellung. Großartig. @danielzillmann, Kathi Angerer & andere tollen Nicht-Ensemble-Mitgliedern. pic.twitter.com/L4KO41zfIj
— Klaus Lederer (@klauslederer) 1. Juli 2017
"Die Jugend" nahe heran, nölt Marc Hosemann als "Frank" alias Solness mit unnachahmlichem Furor (und obergeiler Nerd-Brille) – eine Jugend, die ihn überwinden werde. Diese Jugend kommt in Person der ehemaligen Castorf-Lebensgefährtin Kathrin Angerer im sexy Britney-Spears-Lolita-Look daher. Sehnsucht nach einem einstmals versprochenen "Luftschloss" treibt sie an. Bald trägt sie Puschelpantoffeln. Der Castorf'sche "Baumeister Solness" stammt von 2014, also aus der Zeit vor der Intendanz-Entscheidung pro Dercon-Nachfolge (in einem beiläufigen Witz spekuliert Angerer auf Sebastian Baumgarten als Nachfolger).
An diesem letzten Abend, drei Jahre nach der Premiere, hört man in jedem Satz einen frischen Doppelsinn, die heitere Selbstdemontage in der erhabenen Künstlergeste. Es ist die Spannung, die das Haus stets ausgemacht hat: Das Große kam immer im Gewand des Albernen daher. Kunst als permanenter Überwindungsakt, vom Abgründigen ins Luftige, vom Heiteren ins Tiefschwarze.
Und zurück.
Nach sechs Monaten Bauzeit: Heute geht's los! Vegard Vinge und Ida Müller eröffnen Ihr Haus. pic.twitter.com/rlz9iXT0dS
— Thomas Oberender (@tobfs) 1. Juli 2017
Das neue Haus
17:50 Uhr. Eine Treppe hoch. Eingangshalle, instant pleasure: Nationaltheater Reinickendorf. 128 Zuschauer passen rein. Und genau 128 müssen es sein, "wegen der Statik" ruft ein Ausrufer hoch über unseren Köpfen – ein schmieriger, ruckeliger Maskenträger mit gemaltem Hemd, gemalter Krawatte und einer verzerrten Comic-Stimme, die von woanders kommt. Das Vinge/Müller-Universum lebt! Phantastisch schaurig-schön wie eh und je. Portale, Plakate, Aufschriften: "Das neue Haus", "King Kong, Level 2". Eine riesige Zahnradkonstruktion mit Schaufelrädern pufft und klackert vor sich hin, wie alles hier aus bemalter Pappe.
"Das Schauspiel sei die Schlinge" steht als Motto überm Portal, darunter baumelt ein Galgenseil.
#volksbühne #NTReinickendorf pic.twitter.com/r2gyHZwbIS
— Ersan Mondtag (@ErsanMondtag) 1. Juli 2017
Im fernen Dom zu Speyer
18 Uhr, ungefähr. Ob die Historie von Zufällen oder doch von geheimen Korrespondenzen beherrscht wird, ist auch eine der ungeklärten Fragen. Dass aber gerade an dem Tag die Volksbühne ihr verregnetes Abschluss-Fest abgehalten hat, an dem man im fernen Dom zu Speyer den Altkanzler Helmut Kohl zu Grabe lobpreiste, jenen Mann also, den Christoph Schlingensief vor 21 Jahren im Prater-Garten eben dieser Volksbühne mit einer Performance beehrte, die unmissverständlich Tötet Helmut Kohl hieß, und bei der ja auch einer Helmut-Kohl-Puppe der Kopf abgeschlagen wurde – das macht den Glauben ans Zufällige zumindest schwer. Aber die Zeiten haben sich doch sehr geändert.
Während nämlich der damalige Kultursenator Peter Radunski meinte, diese Schlingensief-Aktion verletze nicht nur die "Grenzen des guten Geschmacks, sondern auch die Würde und das Recht auf Unversehrtheit einer Person der Zeitgeschichte", so dass man fragen müsse, "ob das dem Publikum noch zugemutet werden kann", stand der jetzige Kultursenator Klaus Lederer auf der Bühne und ließ sich als Frank-und-Volksbühnen-Freund feiern, was der Frank mit Klaus-Lobhudeleien konterte, als wollten sie einen SED-Parteitag aufführen, als wären die Politik und das Theater wieder die besten Kumpel. Einer wie Schlingensief fehlte an diesem sonderbaren Abend einmal mehr, um zu gewährleisten, was Lederer in Worten beschwor, nämlich der "gefährlichen Verlockung gesellschaftlicher Konsensbeschwörung" zu widerstehen.
Der Abschied. pic.twitter.com/8Rb0hMcDcf
— Kai Diekmann (@KaiDiekmann) 1. Juli 2017
Was soll man denn zu einer Theater-Beerdigung anziehen? #Volksbuehne
— Lea Streisand (@LeaStreisand) 1. Juli 2017
Volksbühnentod
20 Uhr. Während wir hier in Reinickendorf sitzen, läuft am anderen Ende der Stadt das Abschiedsfest der Volksbühne. Ansage Vinge: "Heute ist hier ein Vertretungsstück. Heute gibt es nur Liebe und Verehrung an die Helden." Projektionen von gezeichneten Kampfplakaten: Vom Dach der Volksbühne springen Dutzende Männchen wie die Lemminge in die Tiefe, unten ein blutiger Leichenhaufen. Statt des Rades steht auf dem Vorplatz eine Statue mit der Unterschrift "Il commandante Bert Neumann" – auf einem anderen Bild hängt ein Stalin-Bild im Intendantenbüro, auf einem dritten liegt ein Mann mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne, Unterschrift: "Der Kritiker in der goldenen Badewanne – Peter Laudenbach: 'Ich sterbe für das Haus und für dich, Frank!'"
#NTReinickendorf #volksbühne #peterlaudenbach pic.twitter.com/tZpiBz12EN
— Ersan Mondtag (@ErsanMondtag) 1. Juli 2017
Rappelvoll und Balkan-Pop
20:15 Uhr, schätzungsweise. Vorstellungsende am Rosa-Luxemburg-Platz. Dann wiederum schätzungsweise 45 Minuten Applaus, Balkan-Bläserband auf der Bühne. Fast alle der prägenden Spieler*innen der Volksbühne sind mit einem Mal auf der Bühne. Rappelvoll. Henry Hübchen (jetzt in echt), Alexander Scheer, Birgit Minichmayer, Jeanette Spassova, Anne Ratte-Polle, Lilith Stangenberg, Milan Peschel, Martin Wuttke und ...
Der letzte Applaus in der #Volksbuehne #nomoreservice pic.twitter.com/i8kUvNRyzq
— Dominique Seppelt (@DominiqueSpplt) 1. Juli 2017
Schön war die Zeit #Castorf #Volksbühne #danke pic.twitter.com/WPYSq6xzR5
— Johanna Adorján (@ADORJ) 1. Juli 2017
Jetzt fangen wir an
21 Uhr. "Jetzt fangen wir an!" Das sagt Vegard Vinge immer wieder. Und fängt immer wieder mit etwas Neuem an, jetzt mit "Baumeister Solness", dem Stück, mit dem eben in der Volksbühne die letzte Vorstellung der Ära Castorf bestritten wurde. Solness ist in Reinickendorf ein alter Widerling mit künstlichem Darmausgang, der gleichzeitig die Rolle des Nationaltheater-Intendanten füllt, der sich von einer Assistentin einen blasen lässt und danach sein Sperma wieder von ihrem Körper kratzt und in ein Glas mit der Aufschrift "Artistic Juice" füllt.
Oh, und übrigens: Fuck you very much @rennersen#volksbühne
— Johanna Adorján (@ADORJ) 1. Juli 2017
Ein Asozialer wie Du
21.30 Uhr. Irre viele Leute hängen noch in einer endlos langen Schlange am Bierstand fest, als Frank Castorf zu reden anfängt.
für die Balance von Kopf- und Handarbeit @FrankCastorf vor der #Volksbuehne#AufWiedersehenpic.twitter.com/eMRaiTZokd
— nachtkritik.de (@nachtkritik) 1. Juli 2017
Castorf sagt: "Mich hat letztens ein sehr starker, ein sehr großer, ein sehr schwarzer Mann angerufen und hat gesagt: 'Frank, verwechsle den Zorn nicht mit der Wut!' Und er hat Recht. Er hat gesagt: 'Wenn alles daneben geht, dann gehen wir nach Afrika.' Das war das schönste Angebot, das ich in den letzten Jahren bekommen habe. Danke Komi.
Das Rad, unter dem so viele gearbeitet haben, das ist nicht nur ein Symbol, das ist unsere Haltung gewesen, seit 25 Jahren, all die Leute, die mitgearbeitet haben, die ... also Klaus sagte das, die sich in diesen Rausch von Arbeit versetzt haben, dieses Rad ist dazu da, dass das, was Frank Castorf und Bert Neumann 1989/90 gefunden haben ... und dieses Rad ist ein Räuberrad und ein Rad hat sich zu bewegen, das ist kein Museum, das steht nicht, das geht zum nächsten Ort. Weil man nämlich in diesem ganzen Land, in dieser Bundesrepublik Deutschland, von der ich hoffe, dass sie nicht macronisiert wird, ... dieses Rad geht weiter, es wird vielleicht auch wiederkommen. Aber es ist unser Räuberrad und das hieß: 'Achtung, Volksbühne! Hier lauert Gefahr!'
(Frank Castorfs komplette Abschiedsrede im Audio-Mitschnitt) Hier geht's zum >>> Video.
Und das haben wir gemacht, wir haben Solidarität geübt mit Obdachlosen, mit politisch Aussätzigen, mit Asozialen. Eine Freundin von mir aus Hamburg sagte: 'Es ist unglaublich, wie ein Asozialer wie Du solange durchgehalten hat und tatsächlich Menschen durch Arbeit zusammengeführt hat und durch künstlerische Arbeit. Ich möchte nicht, dass dieser Platz hier, wieder, als wir das kleinere Übel in Deutschland gewählt haben, dass dieser Platz wieder Horst-Wessel-Platz heißt. Es ist eine Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz!'"
... und wünschte einen symbolischen Tag mit viel Regen.
Vorher hatte Kultursenator Klaus Lederer das Wort. (Video)
Das ist das Fest. Das. @Volksbuehne Es regnet. Es ist unfassbar. Es ist #Volksbühne. pic.twitter.com/JCMcs5LAMa
— Klaus Lederer (@klauslederer) 1. Juli 2017
Ja, als Bierfass verkleidet...
— Tim Renner (@rennersen) 2. Juli 2017
#Volksbühne #Don'tLookBack pic.twitter.com/NxPfjYNa4n
— Maike Plath (@Maikeplath) 1. Juli 2017
... und dann
Noch einmal #volksbuehne noch einmal #HeldHenry noch einmal Abschied mit Gesang pic.twitter.com/bjdiyioG2F
— nachtkritik.de (@nachtkritik) 1. Juli 2017
Just 12 more hours
01:00 Uhr. Während am Rosa-Luxemburg-Platz die Sperrstunde anbricht und in unpiratischer Ordnungsamtstreue die Musik auf der Showbühne ausgeht, gibt's in Reinickendorf endlich: Auftritt Vinge als Radikal-Performer, der übrigens diesmal ohne Verzerrung ins Mikro spricht.
3:45 Uhr. Vinge kündigt "just 12 more hours" an und fordert das Publikum auf sich zu erheben, "denn es wird ein erhabener Moment erwartet". Es sind höchstens 20 Leute übrig, einige davon im Tiefschlaf.
5:30 Uhr. Vinge kündigt "eine letzte Szene" an: wir sehen, wie Solness in einem Trauerzug durch den Wald getragen wird. Dann schließt sich der Vorhang. Und es ist Schluss, kaum zu glauben. An die ungefähr zehn verbliebenen "Freunde der Ausdauer" verschenkt Vinge Schallplatten mit Ophelias Arie "Ich will gehorchen" aus "Psycho-Hamlet". Und sie applaudieren ihm so laut sie noch können.
#vinge: 23 Stunden Spieldauer waren Fake News/wishful thinking-es endete morgens um 6 mit einem Präsent an die übriggebliebenen Zuschauer: pic.twitter.com/N2w8IiyDe6
— nachtkritik.de (@nachtkritik) 2. Juli 2017
... aber in die Tagesthemen der ARD schafft es dann am Tag darauf nur EINER:
"Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Lichte" - Caren Miosga zum Abschied von Claus Peymann vom Berliner Ensemble. pic.twitter.com/nxwYYmqUIY
— tagesthemen (@tagesthemen) 2. Juli 2017
Ab 18 Uhr am 2. Juli 2017. Auf der Bühne des Berliner Ensembles eine fünfstündige Gala für Claus Peymann: "Abschied". Prominente Gäste von Nina Hagen über Herbert Grönemeyer bis Kultursenator Klaus Lederer.
Letzter Vorhang am #berlinerensemble unter der Intendanz von Peymann. Danke & alles Gute, alter Grantler! #brecht #müller #shakespeare &... pic.twitter.com/tUA7qiCPIq
— Klaus Lederer (@klauslederer) 2. Juli 2017
... er war der Mann, der Eier hatte
"Einst steht auf seiner Ruhmesplatte, er war ein Mann, der Eier hatte", kolportiert die Berliner Zeitung eine Gedichtzeile einer Zuschauerhymne auf Claus Peymann am Ende des Applauses.
23:30 Uhr, ungefähr. Ein barockes Feuerwerk, von Peymann selbst bezahlt wie die Berliner Morgenpost festhält. "Es begann fast zart mit fluffenden Lichtern zu 'Yesterday' von den Beatles, dann aber böllerten die Salven aus allen Theaterfenstern, dass man fast Angst um das Haus und das eigene Leben oder zumindest das Gehör hatte," schreibt die Berliner Zeitung.
Ende einer Ära am #BerlinerEnsemble. Zum Abschied ein Feuerwerk für Claus Peymann. @blnensemble @Theater_BE pic.twitter.com/6iLfv9EwfN
— Nina Barth (@ninabarth_hsb) 2. Juli 2017
Da waren die Tagesthemen schon gelaufen, wo Claus Peymann mit dem Satz zitiert wurde: "Der klassische Theaterdirektor als König tritt ab. Denn es kommt eine neue Zeit."
In der Stille nach Mitternacht: Das Einholen der weißen BE-Fahne vom Dach. (Ein ähnlich halbmilitärisches Zeremoniell gabs am Tag zuvor schon vor der Volksbühne beim Einholen des Räuberrad-Flagge) ...
.... die Sachen, die waren nicht zu vergessen und zu ehren:
ein BE-Abschiedsvideo von Anatol Käbisch, Winfried Peter Goos und Felix Strobel:
(Erlebt, gedacht, aufgezeichnet, gesammelt und gesampelt von Naomi Birnbach, Sophie Diesselhorst, Gabi Hift, Georg Kasch, Nikolaus Merck, Dirk Pilz, Christian Rakow und Esther Slevogt > letztes Update 5.7., 11:18 Uhr)
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a) Marcon
b) Dercon
c) Macron
Aber vielleicht mag Castorf auch einfach keine Makkaroni. Oder ich hab die in den Ohren gehabt.
de.wikipedia.org/wiki/Emmanuel_Macron
So heisst der Mann.
Und Castorf sagte "macronisiert".
Ein besonderer Moment in diesem Juni war die letzte Vorstellung von „Keiner findet sich schön“: Fabian Hinrichs hatte bei den stehenden Ovationen des Publikums mit den Tränen zu kämpfen und brachte nur ein paar letzte Abschiedsworte heraus. Es war nicht ganz klar, ob er sich mit belegter Stimme von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verabschiedete oder dem Theater überhaupt Adieu sagte und nur noch im Film zu erleben sein wird (so hat ihn auch Annett Gröschner in ihrem ZEIT -Essay verstanden).
Der Abschiedsschmerz von Hinrichs gab auch dem gesamten „Keiner findet sich schön“-Abend eine ganz andere Aura: als Pollesch und Hinrichs das Stück im Sommer 2015 zur Uraufführung brachten, erlebte ich sie als selbstironische, augenzwinkernde Performance eines hervorragenden Schauspielers, der über das Beziehungsleben des modernen Großstädters zwischen Tinder-Matches, Pizza-Services und Pop-Konzerten philosophierte. Zwei Jahre später hatte Hinrichs mit vielen Texthängern zu kämpfen und er sprach seinen Text mit so viel Wehmut, dass die Grundstimmung wesentlich düsterer war und es nur wenige Momente zum Schmunzeln.
Zum Start in die letzte Woche erinnerte die Volksbühne an einen Künstler, der viel zu früh starb und dessen kluge, anarchisch-provozierende Interventionen schmerzlich vermisst werden. Christoph Schlingensief gründete im Frühjahr 1998 seine Partei „Chance 2000“, die im Alphatier-Duell Kohl gegen Schröder lustige und nachdenkliche Akzente setzte. Aus dem Archivmaterial montierten Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich die Dokumentation „Abschied von Deutschland. Chance 2000“. Der Film verzichtet völlig auf historische Einordnung oder Off-Kommentare, sondern lässt die Archivaufnahmen, die recht chronologisch aneinander montiert wurden, für sich sprechen.
Das Straßenfest auf dem Rosa Luxemburg-Platz nach der allerletzten „Baumeister Solness“-Aufführung litt unter dem kühlen und regnerischen Wetter. Das hinderte Kultursenator Klaus Lederer aber nicht, gemeinsam mit Gorki-Intendantin Shermin Langhoff und dem Trio Martin Wuttke, Milan Peschel und Alexander Scheer die Rio Reiser-Hymne „Für immer und dich“ auf Frank Castorf. Nach dem Ostrock-Refrain „Hier brennt der Wald im Abendrot“ und einem gestammelten „Ich liebe euch“ des scheidenden Hausherrn endete eine Ära am Sonntag, 2. Juli, mit preußischer Ordnungsamts-Pünktlichkeit um 1 Uhr nachts.
Kompletter Text: daskulturblog.com/2017/07/04/abschied-von-castorfs-volksbuehne-notizen-aus-dem-letzten-monat-dieser-aera/
Jutta Ferbers hat eine Best-of-Revue kurzer Ausschnitte aus längst abgespielten und aktuellen Repertoire-Inszenierungen zusammengestellt, die mit deutlicher Verspätung erst gegen 19.30 Uhr begann, inklusive Zugaben aber auch bis weit nach Mitternacht ging.
Der Abschiedsabend glich einer Achterbahnfahrt. Das Publikum bekam zahlreiche Highlights geboten, die aus Peymanns Intendanz in Erinnerung bleiben: Carmen-Maja Antoni, die als „Mutter Courage“ ihren Wagen zieht, Matthias Mosbach als „Baal“ auf seinem Hochsitz, Leander Haußmanns Soldaten-Aufmarsch, der beim „Woyzeck“ das BE zum Beben brachte, Robert Wilsons verspielte Choreographien beim „Faust I und II“-Musical, Christopher Nells „Hamlet“ im Fechtkampf. In diesen Momenten präsentierte sich das BE so lebendig, wie es seine Gegner nicht wahrhaben wollten. Andere Szenen schleppten sich aber so zäh dahin, wie es dem Klischee als vielgeschmähtes Theater-Museum entspricht.
In den besten Momenten dieser Revue gelangen fließende Übergänge: Antonia Bill wird als „Amalia“ gerade noch von der Räuberbande umringt, die sich grölend zurückzieht, langsam leiser wird und für Sabin Tambrea als „Ferdinand“ Platz macht, der mit Antonia Bill als „Luise“ eine Szene aus „Kabale und Liebe“ spielt.
Für Promi-Glamour sorgten Nina Hagen, die Brechts „Lob des Lernens“ vortrug, Herbert Grönemeyer mit seinem „Verweile doch“-Song aus dem „Faust“, Katharina Thalbach mit einer Lesung aus Thomas Braschs „Mercedes“ und Cornelia Froboess, die melancholisch vom „Kirschgarten“ Abschied nahm. Natürlich gab es auch Filmeinspieler der großen, bereits verstorbenen Burgschauspieler der Peymann-Ära wie Gert Voss, der den Brandteigkrapfen in „Ritter, Dene, Voss“ hinunterwürgte, oder Traugott Buhre als Alt-Nazi „Vor dem Ruhestand“.
Kompletter Text: daskulturblog.com/2017/07/04/abschied-von-peymanns-berliner-ensemble-fuenf-stunden-revue-mit-best-of-szenen/
www.change.org/p/zukunft-der-volksb%C3%BChne-neu-verhandeln
Dieser Sachverhalt kommt in der Petition nicht zum Ausdruck. Dort heißt es lediglich: „...die Volksbühne steht für einzigartige, international anerkannte Formexperimente im deutschsprachigen Sprechtheater, deren Entwicklung ohne die nachhaltigen Produktionsbedingungen, die das Modell Volksbühne bislang getragen haben, nicht denkbar sind.“ Formexperimente und Produktionsbedingungen sind aber, mindestens in einem Theater, die Resultate politischer Überzeugungen, nicht ihre Ursachen. Den Mut, für den Erhalt der Volksbühne als einem – seiner Tradition gemäßen – linken Volkstheater offen zu plädieren, hat die Petition nicht, sie versteckt sich absichtsvoll hinter Haushaltsplan- und Kulturbetriebsformeln, die so unspezifisch sind, daß sie für jedes Theater in Anspruch genommen werden können. Darum werde ich sie nicht unterschreiben.