Festung Europa oder das Theater mit den Flüchtlingen
Schafft Verzweiflung ein neues politisches Theater?
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 29. April 2015. Im Sommer 2014 harrte eine Gruppe von Menschen tagelang auf dem Dach der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg aus, um gegen die Räumung dieses symbolischen Orts des Refugee-Movement zu protestieren. Unten auf der Straße zog sich ein Publikum zusammen, das die dramatische Situation durch das Skandieren von Solidaritäts- und Anti-Polizei-Slogans zu einem Theaterstück im öffentlichen Raum überhöhte. Es bezog seine Spannung ganz klassisch daraus, dass sein Ende nicht vorhersehbar war.
Suche nach einem neuen politischen Theater
Denn hier wurde ein gesellschaftliches Problem eklatant, auf das es keine bewährten Antworten gibt. Deshalb hatte die Dauer-Demo, organisiert aus bewährten Einzelteilen (Gruppenchöre – "Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here", aufpeitschende Reden, aufpeitschende Musik, Straßenblockaden gegen Polizei-Nachschub) auch etwas Künstliches. Bestimmt nicht nur bei mir, die ich nah bei der Schule wohne und an mehreren Abenden Teil der demonstrierenden Menge war, rumorte unter dem romantischen Gefühl des sommerabendlichen Zusammensitzens an den Straßensperren um die Schule das schlechte Gefühl, dass es die so individuelle wie unbekannte Verzweiflung der Menschen auf dem Dach war, die diese Gemeinschaft stiftete.
Nach ein paar Tagen solidarisierten sich auch Berliner Theater und Kunstschaffende mit den Flüchtlingen auf dem Dach. Diese Geste, so klein oder schein man sie finden mag, bedeutete eine deutliche Kritik an der Berliner Landespolitik. So deutlich war sie – außerhalb von theaterpolitischen Belangen – länger nicht mehr von Theaterseite angegangen worden. Außerdem war der Offene Brief von KünstlerInnen und Kulturschaffenden an die Politik und sich selbst Vorläufer einer Annäherung von Kunst und politischem Aktivismus, von der beide Seiten profitieren können. Es sieht so aus, als brächte "die Flüchtlingsproblematik" in der deutschsprachigen Theaterszene ein von formal-ästhetischem Leistungsdruck sich befreiendes, neues politisches Theater hervor,
Soziale Plastik im Beuys’schen Sinne
Im November 2014 hat die Aktionskunstgruppe Zentrum für politische Schönheit mit dem "Ersten Europäischen Mauerfall" unter der Schirmherrschaft des Berliner Maxim Gorki Theaters eine weitere Produktion ihres Medientheaters lanciert, das die Kopräsenz des Publikums in den virtuellen Raum auflöst. Als öffentlichkeitswirksame Aktion war geplant, an der bulgarischen EU-Außengrenze ein Stück des Grenzzauns aufzuschneiden, um Europa nach außen zu öffnen (auch nachtkritik.de twitterte, bloggte live und berichtete) – nachdem dieses Unterfangen sich als unrealistisch entpuppt hatte, wurde möglichst viel Klein-Skandal inszeniert, um "die Medien" bei der Stange zu halten. Soviel zu den Fallstricken, in die diese Theaterform gehen kann.
Trotzdem passt sie nicht nur zur Aufmerksamkeits-dezentralisierten "Social Media-Gesellschaft", sondern auch zum Thema der Kunstaktion. "Die Flüchtlingsproblematik" ist außerhalb der Institutionen und tradierter Formen zu einem Thema für Kunst und Theater geworden; das Zentrum für politische Schönheit ist mit seinen Aktionen nur ein (prominentes) Beispiel. Weitere Beispiele: Die Bühne für Menschenrechte, die ihre Stücke "Asylmonologe" und "Asyldialoge", in denen Flüchtlings- und Solidaritätsgeschichten dokumentiert werden, durch die Lande schickt und wo in den Publikumsgesprächen nach den Vorstellungen nicht über das eben Gesehene gesprochen wird, sondern darüber, "was man tun kann". Das Grandhotel Cosmopolis in Augsburg, Kunstort, Hotel und Flüchtlingsheim unter einem Dach, das sich als soziale Plastik im Beuys’schen Sinne versteht; eine Idee, die auch Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard aufgegriffen hat, als sie zusammen mit der Künstlergruppe Baltic Raw eine – allerdings nur temporäre – Unterkunft für Lampedusa-Flüchtlinge schuf.
Jeder Erzähl-Ansatz wird bewusst zum Scheitern verdammt
Muss es in einer kritischen Reflektion des EU- und deutschen Umgangs mit Menschen, die aus anderen Teilen der Welt hierher zuwandern wollen, nicht auch zunächst um die Bewusstwerdung der "Festung Europa" gehen, in der wir leben? Es ist nur logisch, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht in den Schutzräumen geboren wird oder sich in sie zurückzieht, das Festungsprinzip sozusagen imitiert, sondern neue Orte sucht, um von dort aus Neues zu sehen und zu verkünden. Mittlerweile hat das Thema "Flüchtlinge" im weitesten Sinne aber auch die Köpfe der Intendant*innen und demzufolge die Spielpläne erobert – und erhält mit einem ganzen Thementag zur Theatertreffen-Eröffnung den offiziellsten Relevanz-Stempel des Betriebs.
Dem Thementag voran geht Nicolas Stemanns Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Da kapituliert die hochkomplexe Stemann-Ästhetik strategisch vor sich selbst und zwingt Jelinek dazu mitzukapitulieren. Aischylos' "Schutzflehende" hat Jelinek zu "Schutzbefohlenen" gemacht. Im Chor erheben sie ihre Stimmen – beziehungsweise Jelineks Stimme. Wer darf sie sprechen, wer die Geschichten erzählen, die Jelinek unter anderem aus einer Kirchenbesetzung durch Flüchtlinge in Wien gegriffen hat? Bei Stemann versuchen es Schauspieler des Thalia-Theaters und "echte Flüchtlinge", sie sprechen chorisch, einzeln, sie streiten sich und singen zusammen. Jeder Erzähl-Ansatz wird systematisch zum Scheitern verdammt, es ist eine Studie mehr oder weniger verkappter Rassismen. Den Realitäts-Hintergrund bilden große rote Digitalziffern, die mutmaßlich die statistische Anzahl der Menschen anzeigen, die in den anderthalb Stunden Aufführungsdauer auf der Flucht ums Leben kommen.
Ratlosigkeit oder Offenheit?
Apropos Realitäts-Hintergrund: Nicolas Stemann hat angekündigt, sich im Rahmen der Theatertreffen-Eröffnung mit dem Berliner Bündnis My right is your right zu solidarisieren. Im März stellte es sich im Studio des Maxim Gorki Theaters mit einer Pressekonferenz vor, bei der die Sprecher mehrerer der beteiligten Interessengruppen nacheinander ihre Anliegen vorbrachten. Da saß ein "non-citizen" aus der Gerhart-Hauptmann-Schule, der um schnelle Solidarität mit allen Mitteln bat, weil die Schule mal wieder von der Räumung bedroht ist; ein Aktivist von Berlin Postkolonial, die sich für die Tilgung bzw. negative Kenntlichmachung der vielen Spuren der deutschen Kolonialvergangenheit in Berlin engagieren; die Dramatikerin Marianna Salzmann, Leiterin des Gorki Studio, die dazu aufrief, die Kluft zwischen Kunst und Aktivismus zu schließen, eine Frau vom JugendtheaterBüro Berlin, das unter anderem das interkulturelle "Festiwalla" organisiert, und die sinngemäß sagte, sie wollten politisches Theater in der Tradition von Brecht und Piscator machen, um ihr Publikum antirassistisch zu agitieren.
Es war eine disparate Veranstaltung – und sie war das Gegenteil von langweilig, weil in einem Theaterraum ernsthaft nach gemeinsamen Fragen gesucht, um sie gerungen wurde. Die Ernsthaftigkeit kam gerade in der maximal uninszenierten Art und Weise zum Vorschein, wie auch mal einer zwanzig Minuten ausholte, um sein Anliegen zu beschreiben. Natürlich war diese Pressekonferenz kein Theaterstück (so wie auch die Demos bei der Hauptmann-Schule keines waren). Aber sie markierte Zweierlei: Erstens einen inhaltlichen Umgang mit der großen Ratlosigkeit oder, positiv: Offenheit, die sich angesichts der zunehmenden Präsenz der Themen Flucht und Migration in unseren EUropäischen Wohlstands-Insel-Köpfen ausbreitet. Und zweitens: eine Erweiterung des Theaters an diesen Themen zum auch formal offenen Diskursraum. Eine Entwicklung, die das Publikum auf und vor dem Podium/der Bühne dazu auffordert, sein Rezeptorenspektrum zu erweitern – woraus sich neue Ästhetiken ergeben können. Und woraus, ganz nebenbei, auch die "Festungen", also zum Beispiel die guten alten Stadttheater, neue Relevanz schöpfen können. Sie haben ja schon damit angefangen.
Sophie Diesselhorst, Jahrgang 1982, ist nachtkritik.de-Redakteurin. Sie studierte Philosophie und Kulturjournalismus. Seit 2005 ist sie von Berlin aus als freie Autorin und Redakteurin für verschiedene Print- und Online-Medien tätig.
Mehr zum Thema: Am 28. April fragte sich Georg Kasch in seiner Kolumne "Queer Royal" angesichts der aktuellen Flüchtlingspolitik: Kann man als Europäer derzeit noch in den Spiegel schauen? Eines der letzten Projekte, das nachtkritik.de zu dem Thema besprochen hat, war Ultima Ratio am Heimathafen Neukölln (Premiere: 18. April), in dem Nicole Oder eine reale Fluchtgeschichte als Graphic Novel inszenierte.
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