Der Schauspieler des 21. Jahrhunderts - Milo Raus Rede zur Alfred-Kerr-Preis-Verleihung beim Theatertreffen 2018
"Der einzige Autor, der mich im Theater interessiert"
von Milo Rau
Auf dem Weg nach Berlin, 21. Mai 2018.
Liebe Freundinnen und Freunde,
als Anleitung zu dieser Rede haben mir die Kollegen von den Berliner Festspielen freundlicherweise eine Reihe von vier Leitfragen zugestellt, auf die ich auf der Zugfahrt zum Alfred-Kerr-Darstellerpreis geantwortet habe, soweit es mir zeitlich möglich war. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen.
Erste Frage: Wenn Sie auf Ihr Heranwachsen und Ihre bisherige Arbeit zurückschauen – was empfinden Sie als ein Erbe, das Sie prägt und Ihnen ein gutes oder schlechtes Beispiel fürs Theater gibt?
Antwort: Meine Eltern sind mit mir auf Demonstrationen gegangen, nicht ins Theater, da sie der Meinung waren, die Gefahr, die von den Atomkraftwerken vor der Stadt ausging, sei grösser als die Gefahr, die vom örtlichen, dem St. Galler Theater ausging. Irgendwann in den 90er Jahren, zur Zeit des sogenannten Poptheaters, ging ich mit dem Deutschlehrer trotzdem hin. Es war aber ein russisches Stück, nämlich die "Drei Schwestern" von Tschechow. Die Schauspielerinnen, sicher ganz gut, rannten um Birken herum, ab und zu spielte jemand Gitarre, eine Schauspielerin übergab sich, eine andere schredderte im Dritten Akt eine Birke, die dritte zog sich etwa gleichzeitig aus, und sie sprachen halb zueinander und halb zum Publikum, also eigentlich zu niemandem.
Aus mir unbekannten Gründen waren sie, wie die Geigenspielerinnen an meiner Schule, die dieses traurige Geigenmal hier am Hals hatten, vom Stadttheater dazu verbannt worden, ihren Gedanken mit den Worten und Gefühlen eines Mannes Ausdruck zu geben, der seit 100 Jahren tot war, angeleitet von einem anderen Mann, dem Regisseur, und das jeden Abend. An verabredeten Stellen schredderten sie eine Birke, spielten Klavier oder küssten einen Offizier. Sogar die Witze, die Tschechow sich ausgedacht hatte, erzählten diese Schweizerinnen wortwörtlich, und zwar jeden Abend, und die Zuschauer lachten unfröhlich, so wie Eingeweihte eben lachen.
Doch zu einem guten Beispiel. Denn etwa zur gleichen Zeit (in der Erinnerung verschwimmt ja alles zu einem Kontinuum) folgte ich einer Konzerttour von Sonic Youth. Es gab eine Stelle in einem Lied, welches weiss ich nicht mehr, in dem die Bassistin der Band nach einer Art Minisolo, überwältigt von der Gewalt der Musik rückwärts taumelte und über eine der Boxen und schliesslich sogar von der Bühne fiel im Versuch, zu fliegen. Ihre Kollegen, erschrocken wie das Publikum, rannten zu ihr und halfen ihr auf: Sie hatte sich nicht den Hals gebrochen, Gott sei Dank!
Beim zweiten Konzert jedoch: genau das gleiche Solo, die gleiche Überwältigung, der gleiche Sprung von der Bühne! Dann beim dritten, vierten, fünften Konzert immer die gleiche Show. Aber wissen Sie was? Die Besessenheit und Hybris der Bassistin, ihr Fall und ihre wundersame Rettung, wie naiv und ausgeklügelt das inszeniert und verkörpert war, die Tatsache, dass das ihr Song war, ihr Ding, ihre Tour, das gleichzeitige Bei-sich-und-beim-Publikum-sein, die Eitelkeit und doch die Hingabe an etwas, das, nun ja, größer als sie selbst war, eben die Musik: Gerade in der Wiederholung, der Ritualhaftigkeit beeindruckte mich das zutiefst.
Zweite Frage: Was unterscheidet die Schauspielkunst des 21. Jahrhundert von früheren Zeiten? Was prägt das 21. Jahrhundert in einer Weise, die Sie im Theater wiederfinden?
Die Tschechow-Inszenierung, von der ich sprach, gehört offensichtlich noch zur Schauspielkunst des 20. Jahrhunderts. Die totale Dekonstruktion der Klassiker, der aufgesetzte Spass und der aufgesetzte Terror nach Stundenplan, die über die Schauspieler, ihre wahre Körperlichkeit, ihre wahre Beziehung zum Publikum und zueinander hinwegging wie eine Werbekampagne der Deutschen Bank oder eine Aldi-Jubiläumsfeier: Das war alles schon uralt, als ich selbst Anfang des neuen Jahrhunderts Theater zu machen begann.
So wie Brecht einst, Mitte des 20. Jahrhunderts sagte: "Der bürgerliche Darstellungsstil kann alles Antibürgerliche aus der neueren Zeit dem Bürgertum als das Seine verkaufen" so waren im Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts die Schauspieler nichts anderes als solche "Verkäufer" im Gemischtwarenladen des bürgerlichen Zeitalters, die mit irgendwelchen Performance-Tricks aus der "neueren Zeit" den Tschechow oder den Brecht allabendlich an den Mann bringen mussten. Angestellte, die mir eine geliehene Notwendigkeit vorspielten, die mich langweilte und ärgerlich stimmte, die mir meine Zeit in doppelter Weise stahl: weil dann ein Abend, oft sogar ein Freitag- oder Samstag-Abend weg war, aber auch als Anmassung, weil sie meine Musik, meine Wut, meine Zeit klauten, um genau das weiterzutreiben, wogegen sich diese Wut, diese Musik, diese ganze Zeit auflehnte, nämlich die absterbende bürgerliche Welt. Sorry, ausgehendes 20. Jahrhundert, aber du warst schlaff und verlogen, wie vielleicht alle ausgehenden Jahrhunderte.
Das 21. Jahrhundert, das sich im Konzert von Sonic Youth bereits angekündigt hatte, begann für mich an zwei Orten: In Chiapas, in Südmexiko, wohin ich im Alter von 20 Jahren fuhr, um mich den Zapatisten anzuschliessen (und da ich mich in eine Mexikanerin verliebt hatte). Mit der unglaublichen Insistenz, mit der die mexikanischen (und später die kongolesischen, die kurdischen usw.) Rebellen mir davon erzählten, wie sie von ihrem Land vertrieben worden waren, wie ihre Sprachen und Kulturen vernichtet und unterdrückt wurden, beeindruckte mich zutiefst: postmoderne Kohlhaas-Figuren waren das, die mir die rauchenden Ruinen ihrer Dörfer zeigten, die mir die Gräber zeigten mit den kleinen Leichen ihrer Kinder darin, die ihrerseits zu Räubern und Mördern wurden und die oft nicht mehr als ein paar Jahre lang zu leben hatten.
Der andere Ursprung des Theaters des 21. Jahrhunderts war, als ich ein paar Jahre später, wieder aus Liebesgründen, nach Berlin kam und in den Prater an der Kastanienallee ging. Dort wurde gerade René Polleschs "Prater-Trilogie" aufgeführt: Stücke, die für den Abend, für den Moment geschrieben und inszeniert waren (so wie einst natürlich auch die Tschechow-, die Schiller-, die Shakespeare-Stücke, weshalb ich sie trotz allem liebe). Ich merkte sofort: Pollesch, das waren die "Räuber" unserer Zeit, wirre Monologe wie in Schillers Jugendstück, die mich mit Wut erfüllten, die man kannte, die man wiedererkannte, die mich wiederkannten.
Wie alle grosse Kunst sprachen diese Schauspieler von mir, von meiner Zeit. Das waren Menschen, die ihre Stimme fanden auf der Bühne, die in der Ekstase dieser Selbstfindung waren, die diese neue, verwirrende, neoliberale Zeit austesteten, Menschen in Scheisshotels und Scheissjobs. Diese Schauspieler waren so klug, so souverän, wie ich es gern sein wollte, nichts Poliertes, nichts Überliefertes, nichts Künstlich-Isoliertes war da dabei. Alles musste sich im Moment beweisen und ging doch weit über diesen hinaus. Es wurden keine überlieferten Textlein gelutscht, sondern alles war ein kollektiver Wutanfall, und der Text wurde, wenn er vergessen ging, vom Publikum auf die Bühne gerufen.
Das war so energetisch wie redundant, alles (vor allem das Bühnenbild und die psychologische Letztbegründung des Ganzen) war so simpel wie möglich und funkelte doch wie verrückt.Was für eine Intelligenz! Was für ein Unterschied zum Söldnertum des Stadttheater-Schauspielers, dem kein eingespielter Sonic-Youth- oder Nirvana-Song, kein Schlagzeug und kein Plattenteller jemals hatte aus seiner Stückfassungs-Sklaverei helfen können!
Dritte Frage: Welche Bedeutung haben Sprache und Texte in Ihrer Arbeit? Hat die Diversifizierung unserer Gesellschaft, das Bemühen um Inklusion oder die Internationalisierung unserer Produktionsformen Einfluss auf Ihren Umgang mit Sprache?
Die Antwort lautet: Ja. Dieser Einfluss ist total. In meinen Stücken (das Wort "mein" bedeutet hier, dass ich an ihrer Erarbeitung beteiligt bin) spricht jede Darstellerin und jeder Darsteller seine eigene Sprache, was heisst: Griechisch oder Flämisch oder Kurdisch oder Französisch oder Englisch, oder, wenn jemand zum Sprechen nicht fähig ist oder keine Lust dazu hat, eben etwas Anderes, was man im Roland-Bartes'schen Sinn als "Sprache" verstehen (oder nicht verstehen) kann.
Das strategische Verbot von mehr als 20 Prozent Klassiker-Text pro Aufführung für alle Produktionen des NTGent, wie wir es im "Genter Manifest" festgelegt haben, liegt genau darin: Dass die Schauspieler (und an ihrer Seite auch die Bühnenbildner, die Techniker, die Regisseure) wieder zu Autoren ihres Textes werden, so wie sie es im zapatistischen oder Polleschschen Theater sind und im Shakespearschen einst waren.
Aber man sollte nicht ungerecht sein: Wir haben im deutschen bürgerlichen Theater der letzten zwei Jahrhunderte Unglaubliches erleben dürfen, oft war es anstrengend, manchmal war es wirklich toll, und noch immer macht es Spass, den exquisiten Rauchwirbeln, die über seinen Ruinen aufsteigen, zuzugucken. Es ist lustig, den verbliebenen bürgerlichen Grosskünstlern bei ihrem Scheinkonservativismus und ihrer angelernten Begeisterung für Schiller oder Goethe zuzugucken.
Die Gegenwart aber gehört dem entgrenzten, dem globalen Schauspieler, dem Performer, dem Aktivisten, dem schauspielerischen Grosshirn, dem Zeugen, der Kassandra, jenem Menschen, der an Bord der Tradition und der Tagesaktualität steht wie ein Kapitän an Bord eines brennenden Schiffes: verrückt genug, sich selbst, das eigene Leben, die eigenen Lektüren, den Moment der Aufführung als äussersten und letzten Moment zu verstehen, von dem er deshalb Kunde tun muss.
Wie sollte die Sprechweise dieses Schauspielers eine andere sein als eine, die alle Sprachen und alle Sprachquellen – die biographische, die der alten und neuen Texte, des Internet-Chats, des Lebens in den Städten oder in den Wäldern, schliesslich den physischen, politischen und psychischen Wahnsinn der Proben und Recherchereisen – umfasst? Wie könnte es ein anderer Schauspieler sein als der totale: zugleich ganz sich selbst (und niemand anderes), die reine Gabe einer totalen Individualität, eines fremden Lebens, und doch eben etwas völlig Allgemeines, etwas, das uns allen gehört, eine Intelligenz, eine Präsenz, ein Ruf nach Gerechtigkeit oder Schönheit, den es nur auf der Bühne gibt?
Vierte Frage: Was unterscheidet Schauspielerei auf der Bühne von den Aktivitäten der Rollenexpert*innen des Alltags?
Ist der Mann, der in der "General Assembly", unserem Weltparlament den Untergang des Landes seiner Vorfahren in den Rodungsfeuern der Palmöl-Monokulturen beklagt, der bessere oder der schlechtere Schauspieler als Ursina Lardi, die in "Mitleid" eine NGO-Mitarbeiterin spielt, pisst, zu Gott schreit, verzweifelt? Seit einigen Jahren, man weiss es, läuft in deutschen Kritikerkreisen ein Krieg zwischen zwei Schulen des Schaupiels, und Alfred Kerr hätte sicherlich daran teilgenommen.
Die eine Schule verlangt vom Darsteller Autorenschaft: dass er sich nicht auf toten Figuren ausruhe, dass er als Überlebender eines ganz bestimmten (seines eigenen oder eines von ihm erfundenen) Lebens spreche, Spezialist seines Berufs, seines Milieus, seines Schicksals. Die andere Schule dagegen feiert die mimetische Kraft des Menschen, die Tatsache, dass irgendein zufälliger Mann oder eine zufällige Frau, wenn sie in Darmstadt oder St. Gallen oder Berlin auf die Bühne tritt, eine der "Drei Schwestern" spielen kann. Diese Idee: dass der Künstler zum Medium der Tradition wird, dass er vom Strom der alten oder neuen grossen Texte, den Worten toter Diktatoren und ihrer Opfer ergriffen wird, hochgewirbelt – sie steht hier im Zentrum.
Zwei Schulen also: Wahrhaftigkeit gegen Verwandlung, Performance gegen Darstellung, das Selbst gegen das Fremde. Was für eine absurde Unterscheidung ist das aber? Bin ich mehr Zugfahrer oder bin ich mehr ein Individuum, wenn ich gerade mit 200 Stundenkilometern von Hannover nach Wolfsburg rase? Spreche ich oder spricht die Sprache? Was ist das Selbst, was ist das Äusserliche? Die Schauspieler, mit denen ich seit 15 Jahren arbeite, gehören zu beiden Schulen, wie jeder Mensch.
Auf dem Weg nach Berlin habe ich die Liste der bisherigen Alfred-Kerr-Preisträger angeguckt, und es stehen viele Namen von Leuten darauf, mit denen ich bereits gearbeitet habe. Zum Beispiel Valery Tscheplanowa und Julia Häusermann, die ich gleichermassen bewundere für ihre Radikalität: unmöglich, sie zu vergleichen. Oder der zapatistische Revolutionär und der Pollesch-Schauspieler, der mexikanische Dschungel und die Kastanienallee in Berlin: ebenfalls völlig unmöglich, sich da zu entscheiden. Wofür soll man sich denn auch entscheiden? Warum sich nicht einfach mal mit der Totalität des Theaters abfinden?
Bitte entschuldigen Sie, dass ich also keine Antwort dafür bereit habe, ob der "Rollenexperte des Alltags" oder die "Schauspielerei auf der Bühne" das bessere, mir mehr entsprechende Modell ist. Oder vielleicht ist das ja die Antwort: Dass der Schauspieler des 21. Jahrhunderts gleichzeitig sich selbst und jemand anderes ist, Experte und Darsteller. "Die Wahrheit zu kennen, ist keinem gegeben", schrieb der russische Attentäter Boris Sawinkow, "einen Teil haben wir, den anderen die anderen." Denn worauf es beim Spielen ankommt, denke ich, ist die rituelle Hinnahme der Tatsache, dass man nie erfahren wird, wer man ist und wer der andere ist.
Verstehen Sonic Youth die Macht, die ihre eigenen Songs über sie haben? Warum sie sie ständig wiederholen müssen? Verstehe ich, wie sich dieser Text im Bordbistro der Deutschen Bahn geschrieben hat im Lauf der letzten zwei Stunden? Und vor allem: Verstehen wir, wozu wir da sind? Um was zu beweisen, um was zu zeigen, wir alle, wir "Menschen"? Nein, es geht immer um alles (und damit um nichts Spezielles), wenn man auf eine Bühne tritt: um die unendliche Zärtlichkeit und Sehnsucht, die in jedem Wort liegt, das man an ein Gegenüber richtet. Aber auch um die – melancholische, wütende, ironische – Absage an eine Gemeinschaft, an ein Wissen, an eine Zeit oder Kultur, die über den einzelnen Abend hinausgeht.
Ja, etwas darstellen heisst, ihm Gewalt, aber auch Liebe anzutun. So erschafft jeder Theaterabend die Welt neu, aus Zwang und Freiheit, aus Vorbestimmung und Phantasie. Der Schauspieler des 21. Jahrhunderts ist ein Schöpfer, ein Autor. Er braucht keinen Regisseur, keinen Intendanten, keinen Text, ausser vielleicht, um ihm bei seiner Arbeit behilflich zu sein. Denn was mich angeht: Der Darsteller ist der einzige Autor, der mich im Theater interessiert.
Es gäbe noch viel, sehr viel mehr zu sagen. Aber man hat mich gebeten, nicht mehr als 12 Minuten zu sprechen, was ich vermutlich schon überschritten habe.
Vielen Dank für Ihre Geduld und meine herzlichsten Gratulationen dem Preisträger!
Die Rede von Milo Rau wurde hier anfangs nach dem gesprochenen Wort veröffentlicht. Im Dialog mit der Redaktion hat der Autor kurz darauf eine unangemessene Passage zurückgezogen.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
- 28. September 2024 Schauspielerin Maggie Smith gestorben
- 26. September 2024 Nicolas Stemann wird 2027 Intendant in Bochum
- 26. September 2024 Berlin: Bühnenverein protestiert gegen drastische Sparauflagen
neueste kommentare >
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
-
Spardiktat Berlin Gagen
-
Faust, Frankfurt Video
-
Spardiktat Berlin Intransparente Bosse
-
Spardiktat Berlin Menschen wie Max Reinhardt
-
Augenblick mal Jurybegründung
-
Medienschau Peter Turrini In der DDR
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Mich stört der schiefe Vergleich mit dem einen, dem eingeübten Katastrophen/Revolte-Ritual, das ebenso routiniert abgezogen wurde wie jene Rau anekelnden im Theater. Der von ihm trotzdem herangezogen wird als Beleg für ein verkommenes, weil überkommenes Schauspiel. Der Schauspieler ist schon immer ein Schöpfer und mithin auch Autor gewesen. Wenn denn ein Text vorhanden war, war er immer Autor einer, nämlich seiner, Interpretation einer Figur. Wenn er AutorIn wäre, heute, würde er gar nicht Schauspieler sein und mit den anderen Texte erarbeiten. Er würde dann nämlich welche schreiben und die Bühne wäre ihm - dies ein inneres Mal eines Ausdruckswillens - zunehmend lästiger dabei! Weil sie ihn dann eher von der Bühne entfernte als sie ihm/ihr näher zu bringen. Und er/sie sich in Textform ihr, der Bühne.
(...)
(Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben die Passage in Abstimmung mit Milo Rau korrigiert. Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
(In einer gekürzten Fassung hier: https://www.tagesspiegel.de/kultur/-laudatio-auf-benny-claessens-die-kunst-sitzt-im-kerker/22586896.html
Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
Der Text ist eine Laudatio, das will ich nicht vergessen. Trotzdem dies: ich las neulich auf wired.co.uk einen Text zu Childish Gambino und dem Fanboy als Kritiker (gerne auch unisex). Die Referenzen die Milo Rau hier zitiert, sind diesbezüglich von einem vergleichbaren Standpunkt. Ich wertschätze die Ehrlichkeit. Ein Mensch soll machen und nicht folgen! Richtig. Und dann.
War es Benny Claessen damals, es kann auch jemand anders gewesen sein, der sagte "Du schüchterst mich ein" und fortan das Gespräch verweigerte. Hauptsache wir sind in einer messbaren Dimension. Selektive Wahrnehmung.
Die von Milo Rau angeführten Referenzen sind *irgendwie* Rock'n'Roll. Lateinamerikaische Separatisten, Demos, Rockbands (mit oder ohne Kim Gordon). Soweit so männlich. Alles andere ist super langweilig. Geiger*inner? Fuck off.
Es ist ein Standpunkt. In einer Zeit da sich viele nicht trauen/zumuten einen Standpunkt einzunehmen. Ich befürworte dies, mit dem Zusatz, dass mehr Menschen sich trauen müssen einen (kreativen) Standpunkt einzunehmen. Zum Klatschen bin ich nicht gekommen.
"Der Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung des Vortrags, den Milo Rau bei der Kerr-Preisverleihung hielt." So steht es lapidar unter der von Ihnen veröffentlichten Rede Milo Rau's.
Mir liegt eine Fassung vor, da heißt es nach dem Satz: "Dort wurde gerade René Polleschs "Prater-Trilogie" aufgeführt: ..." folgendermaßen:
"Stücke, die nicht nach der KZ-Manier des deutschen Stadttheaters funktionierten, wo alle etwas aufführen müssen, was ihnen die Lagerleiter vorgeschrieben hat, weil es eben zur deutschen Kultur gehört." Wie ist das zu erklären? Was wurde wirklich gesagt? Gruß SG
(Sehr geehrte Frau Germer, es geht bei dieser Veröffentlichung nicht darum, die mündliche Rede, wie sie beim Kerr-Preis gehalten wurde, zu dokumentieren, sondern darum, einen Entwurf der Schauspieltheorie von Milo Rau vorzustellen. In Abstimmung mit dem Autor wurde die Passage des mündlichen Vortrags gestrichen, die von beiden Seiten als problematisch eingestuft wurde. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Sehr richtig. Das "Grundsatz-Statement zu zeitgenössischer Schauspielkunst" kam beim TT eben nicht - wie fälschlicherweise von der Redaktion der "nachtkritik" anmoderiert - von Milo Rau. Die wichtigen Statements zu dieser Frage kamen von Fabian Hinrichs. Denn die entscheidende Frage eines Theaterabends ist tatsächlich: Kann sich ein Schauspieler als Teil des künstlerischen Prozesses begreifen oder ist er lediglich Erfüllungsgehilfe eines Inszenierungskommandeurs? Dass Ersan Mondtag sogleich versucht, sich als angeblicher Vertreter des "Regietheaters" gegen die Auffassungen von Fabian Hinrichs in Stellung zu bringen, ist dabei so durchsichtig wie fadenscheinig. Denn natürlich gibt es Regietheater, das dem Schauspieler Platz gibt, seine eigene Kreativität innerhalb einer Inszenierung auszuleben. Andernfalls gäbe es keinen Martin Wuttke und keine Sophie Rois. Fabian Hinrichs hingegen hat dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, das inzwischen eine "Blue Man Group" des Regietheaters unterwegs ist, personifiziert in Ersan Mondtag, Susanne Kennedy, Ulrich Rasche u.a., die - unterstützt von einigen Kritikern - daran arbeitet, Schauspielern jegliche Individualität auszutreiben und sie robotergleich auf den Bühnentableaus herumzuschieben. Gerne berufen sich die Vertreter dieser Richtung auf Einar Schleef und liegen auch hier völlig falsch. Denn anders als die genannten Jungregisseure war es Schleef immer gelungen, zwischen seinen Marschkolonnen Inseln "echter" Schauspielkunst zu etablieren. Etwas das Fabian Hinrichs völlig zurecht bei Mondtag, Rasche und Kennedy vermisst. Interessanterweise hat das Volksbühnenpublikum ja nicht nur Chris Dercon, sondern auch dem auf Entindividualisierung setzenden Regiekonzepten von Susanne Kennedy die "rote Karte" gezeigt.Auch ich möchte an dieser Stelle meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass dieser Spuk möglichst bald vorüber ist.
(Werter OH, wir werden Fabian Hinrichs Rede im Laufe des Tages in der ungekürzten Fassung, in der sie vorgetragen werden, hier online stellen. Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
herbert fritsch im dlf bringt die erklärung dafür wohl auf den punkt: willst du journalistisch-politisches theater oder schauspielkunst?
"Herbert Fritsch hält die Kritik für nachvollziehbar. Hinrichs Rede sei "sehr brillant" gewesen, sagte der Regisseur und Schauspieler im Deutschlandfunk Kultur. "Sie beschreibt natürlich etwas ganz Entscheidendes. Nämlich die Stellung des Schauspielers am Theater bei uns, was das bedeutet. Wie wenig man sich über Schauspielkunst Gedanken macht, da hat er schon sehr sehr recht...
Es sollte nicht darum gehen, dass das Theater journalistisch, politisch werde. "Ich kann mich dem nur anschließen, was er da gesagt hat."
http://www.deutschlandfunkkultur.de/herbert-fritsch-zur-theatertreffen-kontroverse-der.2156.de.html?dram:article_id=418448
Und weil Rau in seinem Theater darauf setzt, jeden in seiner Sprache sprechen zu lassen, immer auf die universelle Kraft vertrauend, dass trotzdem alle von allen verstanden werden, sei hier aus aktuellem Post-Pfingstanlasss noch die entsprechende Stelle aus der Apostelgeschichte zitiert: "Sie entsetzten sich aber alle, verwunderten sich und sprachen untereinander: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeden in unserer Sprache?"
Mittwoch, 23.05.2018
KZ-Idee auf der Zugfahrt Eklat bei der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises
Zum Abschluss des diesjährigen Theatertreffens wurde zum wiederholten Mal der mit 5000 Euro dotierte Alfred-Kerr-Preis für den besten Darsteller verliehen. Diesmal ging er an den 1981 geborenen belgischen Schauspieler Benny Claessens für seine Leistung in der Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“. Bei der Verleihung hielt Milo Rau, gefeierter Dokumentartheatermacher und designierter Intendant des Genter Nationaltheaters, eine Festrede über den „Schauspieler des 21. Jahrhunderts“, die er nach eigener freimütiger Angabe „auf der Zugfahrt“ verfasst hatte. Darin berichtete er über sein Erweckungserlebnis beim Besuch einer René-Pollesch-Trilogie. Das seien für ihn Stücke gewesen, „die nicht nach der KZ-Manier des deutschen Stadttheaters funktionierten, wo alle etwas aufführen müssen, was ihnen der Lagerleiter vorgeschrieben hat, weil es eben zur deutschen Kultur gehört“. Nicht nur die Präsidentin der Kerr-Stiftung, sondern auch die Angehörigen von Holocaust-Überlebenden im Publikum ließ dieser geschmacklose Vergleich mit Entsetzen zurück. In der bei nachtkritik.de publizierten Fassung seiner Rede hat Rau den Passus inzwischen geändert. Thomas Oberender, Leiter der Berliner Festspiele, ließ mitteilen, den Vergleich empfinde er „als falsch“, obgleich die Rede im Ganzen doch „ideenreich“ gewesen sei. Wie viel Inspiration man in anderer Sache von jemandem erwarten darf, der an entscheidender Stelle so danebenlangt, ist allerdings fraglich. Ebenso wie das professorale Angeben damit, seinen Vortrag erst im Zug geschrieben zu haben. stra
(Werter Neill, so schnell schießen die Preussen nicht :-) Wir werden die Rede im Laufe des Tages veröffentlichen. Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt).
(Werter Neill, möglicherweise sind Sie mit den Gepflogenheiten des Publikationswesens und auch den Feinheiten des Urheberrechts nicht so vertraut, deswegen erlauben Sie mir den Hinweis, dass wir hier nicht einfach ins Netz stellen können, was wir wollen, sondern zunächst Genehmigungen der jeweiligen Autor*innen benötigen, wenn die Texte nicht in unserem Auftrag entstanden sind. Und so etwas dauert manchmal eben seine Zeit. Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
Es tut mir Leid, dass wegen dieser völlig blödsinnigen und allen Opfern der deutschen KZs völlig zu Recht übel aufstossenden Metapher ein Schatten auf die für mich und alle anderen Gäste intellektuell und menschlich äusserst inspirierende Veranstaltung gefallen ist. Die Wortwahl ist im Hinblick auf den Betriebsalltag in einem Stadttheater Quatsch und von der eigentlichen Frage (nämlich der nach der künstlerischen Rolle bzw. Freiheit von Schauspielern im Theater heute) ablenkend - wie man an den (leider fast ausschliesslich anonymen) Kommentaren hier sieht. Dass jedoch diese Debatte heute früh von Simon Strauss in der FAZ hervorgeholt und ins Moralische verdreht wurde, als sie bereits beigelegt war, gehört zu den Dingen, die vielleicht in einem anderen Zusammenhang einmal zu besprechen sind: Man hüte sich vor seinen Anwälten, vor allem wenn es um die Erinnerung an den Holocaust geht.
Aber dies alles sind Nebengeräusche: Noch einmal meine Entschuldigung an alle, die ich unabsichtlich mit der Formulierung beleidigt habe, vor allem aber an die Kerr-Familie und den Stiftungsrat, die den Mut und die Grösse haben, im Rahmen einer Preisverleihung solch grundsätzliche und spannende Auseinandersetzungen zur Rolle des Schauspielers im 20. Jahrhundert zu führen und damit Alfred Kerrs kritischem Erbe selbst alle Ehre widerfahren lassen. Ich freue mich auf erneute Treffen und neuen Streit über das, was Stadttheater ist, sein kann, sein soll - eine Frage, die mich aktuell intensiv beschäftigt.
Milo Rau
Im Namen der Kerr-Stiftung
Dr. Deborah Vietor-Engländer, Präsidentin.