RealFiktionen – Ein Fragenkatalog zur Rolle des Textes im zeitgenössischen Theater
Es gibt Gesprächsbedarf
Berlin, 22. April 2015. Was ist die Rolle von AutorInnen und Texten im Theater heute? Wie kann eine Auseinandersetzung über Theatertexte abseits des Theaterbetriebs geschaffen werden? Können Theatertexte für sich sprechen? Werden sie gelesen? Wie greifen sie auf Realität zu? Und warum gibt es immer wieder Missverständnisse wenn Theater und Texte sich begegnen?
Vom 6. bis 15. Mai 2015 findet im Kreuzberger Literaturhaus Lettrétage unter dem Namen "RealFiktionen" ein Symposium für zeitgenössische Theatertexte statt. Es werden Lesungen, Haltungen, Meinungen und Missstände präsentiert, um Theatertexte in ihrer Vielfalt auch außerhalb des Theaters wieder als eigenständige, literarische Form ins Bewusstsein zu holen.
Zur nächsten Debatte, hier entlang: Eingang zur Lettrétage in Berlin Kreuzberg Foto: Lettrétage
Im Februar 2015 kamen die zehn an der Schnittstelle von Theater, Prosa und Performance arbeitenden AutorInnen Jörg Albrecht, Hannes Becker, Nolte Decar (Michel Decar und Jakob Nolte), Olga Grjasnowa, Wolfram Lotz, Maxi Obexer, Kathrin Röggla, Gerhild Steinbuch und Deniz Utlu und die VeranstalterInnen Carolin Beutel und Thomas Köck zusammen, um sich zu unterhalten. Denn es gibt Gesprächsbedarf. Aus dem eigentlich geplanten Thema, der Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion in Prosa und Theatertexten vor dem Hintergrund unzähliger, digital verfügbarer Hybride von "realen Fiktionen", wuchs rasch eine grundsätzliche Debatte über die Rolle von Literatur bzw. dramatischen oder postdramatischen Texten im Theater. Es wurde über Themen, Zugriffe und Sprachen diskutiert, wesentlich war aber dann die Frage nach dem Standort – oder eher der Ecke, in die Texte bzw. AutorInnen im Zuge einer vermeintlichen "Öffnung" für neue Formen immer wieder geschoben werden. Gefragt wurde nach der Rolle von AutorInnen in einem kriselnden Theaterbetrieb und in der literarischen Öffentlichkeit, nach ökonomischen Bedingungen, nach dem Wert von verdichteter Sprache, von widerständiger Sprache, von Sprache, die eine Verantwortung gegenüber der Realität einfordert, einer Sprache, die nicht den schnellen Projektformaten entspricht, sondern als Widerstand und gearbeiteter Stoff eine eigene Qualität besitzt, und der Verantwortung von Theatern, dieser Sprache Raum zu geben.
Der folgende Bericht ist auf keinen Fall vollständig und wird sicherlich nicht allen Ansichten gerecht. Er besteht aus mindestens zehn verschiedenen, zum Teil sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen, Erwartungshaltungen, Produktionsbedingungen, letztlich Sprachen und aus mindestens genauso vielen komplett widersprüchlichen Meinungen. Es ist ein Querschnitt einer siebenstündigen Diskussion. Es ist ein Versuch, all diese Stimmen in ihrer Widersprüchlichkeit zu bündeln, um Überlegungen, Fragen und Probleme, die diskutiert wurden, auch nach draußen zu tragen. Es ist mehr lautes Nachdenken als ein konzentriertes Wühlen.
Wer hat's erfunden?
Der Begriff der AutorInnenschaft hat sich erweitert. Interessanterweise fällt in manchen lautstarken Debatten und Gesprächen über diese neue AutorInnenschaft unter den Tisch, dass sich der Begriff auch und zu weiten Teilen aufgrund einer veränderten Schreib- und Produktionspraxis, einer Formulierung eines anderen Theaters, eines veränderten Zugriffs auf eine medialisierte Wirklichkeit, eines veränderten Begriffs von Werktreue usw. auch von AutorInnen erweitert hat. Einer Auseinandersetzung von AutorInnen mit dem Theater, mit seinen Anforderungen, mit seiner Praxis, mit seinen Produktionsbedingungen. Der für die jüngere deutsche Theatertradition vermeintlich uralte, identitätsstiftende Streit zwischen AutorInnen und dem Theater, der Wirklichkeit und der Bühne, der Sprache und dem Körper lässt gerne vergessen, dass gerade AutorInnen das Theater immer wieder auf neue Wirklichkeiten stoßen. Als hätten AutorInnen irgendein Interesse daran, neue Formen auszubremsen.
Warum schämt sich das Theater oft, wenn es vom Text sprechen soll?
Dass man den Beitrag von AutorInnen zu einem erweiterten Text- und AutorInnenschaftsbegriff unterschlägt, korrespondiert mit einer diskursiven Hilflosigkeit, zeitgenössischen Theatertext zu verhandeln. Der Betrieb, der sich gern erweitert gibt, müht sich recht unbeholfen von Begriff zu Begriff, um diese Erweiterung auf den Punkt zu bringen. Dabei lässt sich in der Sprache fast eine Scham vor selbstständigen Theatertexten beobachten. Von "szenischen Vorlagen" ist die Rede, von "Materialanlagen", usw. Dem Theatertext wird sein literarischer Charakter dabei wiederholt abgesprochen – Ausnahmen von Reclam-Klassikern bestätigen natürlich die Regel. Dass allerdings neue, zeitgenössische Theatertexte schlichtweg außerhalb des Theaters kaum eine eigenständige Rezeption erfahren – weder in den Literaturwissenschaften, noch in den Theaterwissenschaften – wird übersehen.
Theatertext - erweitert oder marginalisiert?
Die Literaturwissenschaft liest zeitgenössische Theatertexte genauso wie die stark marginalisierte Lyrik eher als Nebenprodukt schriftstellerischer Tätigkeit, selten als eigenständiges Format und durchläuft das Drama in Riesenschritten im Einführungsseminar einmal quer von der aristotelischen Dramatik zur nicht-aristotelischen. Dann ist meistens Schluss. Dass gerade Theatertexte der letzten Jahrzehnte in ihrer Vielfältigkeit (eben auch Texte, die ganz unklassisch nicht am Schreibtisch erarbeitet wurden, sondern in unterschiedlichsten Prozessen, aus unterschiedlichstem Material) mit dafür verantwortlich waren, den Textbegriff zu erweitern, fällt wieder unter den Tisch. Die Theaterwissenschaft hingegen will offensichtlich wenig von einem "klassischen" Textbegriff (ein Begriff, der in sich schon sinnlos ist, als hätte man es je mit einem klassischen Theatertext zu tun gehabt) wissen – seit sie, im Versuch sich als eigenständige Disziplin zu behaupten, den Textbegriff erweitert hat. Von Schauspiel- und Regieschulen sowieso ganz zu schweigen. Zurück bleibt ein seltsam aus der Welt gefallener Theatertext in seiner Vielfalt, der seine oft einmalige Vermittlung auf der Nebenbühne erlebt, weil Ästhetiken zeitgenössischer Texte selten bis gar nicht unterrichtet, diskutiert, in Frage gestellt werden, sondern einfach hingenommen.
Warum werden Theatertexte eigentlich nicht mehr gelesen?
Und was bedeutet es eigentlich für einen Text, gar nicht erst gedruckt zu werden? Es findet vermutlich auch deshalb keine Auseinandersetzung statt, weil zeitgenössische Theatertexte kaum noch als eigenständige Texte vor, nach oder neben einer Aufführung gelesen werden. Mehr noch: Theatertexte "leben" überhaupt erst auf der Bühne, heißt es. Das zeichne sie sogar aus, diese angebliche Unfertigkeit, Durchlässigkeit, die auf der Bühne auf ihre Vervollständigung wartet. Theatertexte wollen mit dem Akt des Sprechens konfrontiert sein – auf Augenhöhe. Sie warten nicht darauf, auf der Bühne "zum Leben erweckt zu werden", sie fordern bereits einen Diskurs "abseits" des Bühnenlebens über Bühne, Performanz, Stimme und Körper. Theatertexte sind viel mehr als Material, aber auch mehr als nur Lesedramen. Ihnen ist eine bestimmte Theaterpraxis und ein bestimmter Theaterbegriff eingeschrieben. Sie könnten in ihrer Widersprüchlichkeit und Unsortiertheit als Archiv des Theaters betrachtet werden. Ganz wie die Körper von SchauspielerInnen.
Ästhetischer Pardigmenwechsel oder Neoliberale Verschlankungsfantasien?
Es ist nicht besonders revolutionär, AutorInnen vom Theater auszuklammern oder mit großer Geste von einem neuen Paradigma zu sprechen, gar von "neuen" AutorInnen, den RegisseurInnen. Es ist der älteste Theatergag der deutschen Theatertradition, alle halben Jahre das große Scheingefecht um die Bühnenvormacht wieder auszupacken. Es ist ein Schattenboxen zwischen Untoten, dieser seltsame, institutionalisierte Schaukampf RegisseurIn vs. AutorIn. Dabei sind AutorInnen aus der konkreten Theaterpraxis der Improvisation, aus reisenden Kollektiven und offenen Formen entstanden. Mit der Institutionalisierung der Häuser tauchen plötzlich Diskursgespenster auf, wie "der/die AutorIn", der/die vielleicht nie existierte, oder "der/die RegisseurIn", der/die zuvor als SpielleiterIn gearbeitet hatte. Heute sollte man dieses Poltern gegen eine Berufsgruppe allerdings noch einmal unter verschärften ökonomischen Bedingungen betrachten: AutorInnen wegzurationalisieren, um das "Material" hingegen vom theaterinternen Personal organisieren zu lassen, ist natürlich wesentlich günstiger und passt gut zu neoliberalen Verschlankungsfantasien öffentlicher Institutionen im Spätkapitalismus.
Innere Distanzierung oder widerständige Form?
Was, wenn man sagen würde, wer braucht heute noch Operntenöre, wir haben ja Oboen? Wer braucht Dramaturgien, wir haben ja eine Presseabteilung? Oder wer braucht RegisseurInnen, wir haben ja die BühnentechnikerInnen und die AutorInnen? Es findet nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ökonomische Debatte statt. Als wäre es eine unsichtbare und damit ökonomisch nicht wertzuschätzende Arbeit, eine Sprache zu erfinden, einen Stoff zu entwickeln, über Jahre hinweg eine Ästhetik zu entwickeln, die am Ende auch den "Betrieb" wieder voranbringt. Von schnellen, schlecht bezahlten Formaten, kann nicht jede/r leben. Interessant ist natürlich zu fragen, wie einzelne (und damit in Summe ein ganzer Betrieb) mit verhärteten Produktionsbedingungen umgehen. Distanziert man sich aufgrund ökonomischer, produktionstechnischer Zwänge komplett von einem Betrieb? Schweigt man? Oder nimmt man diese Produktionsbedingungen aktiv in die eigene Arbeit mit hinein, verändert die Form, um Arbeitsbedingungen anzusprechen, macht sie widerständig, spröde, schwierig? Schottet man sich ab oder verändert man die eigene Arbeit als Reaktion? Gründet zum Schutz eigene Kollektive, erfindet eigene Produktionsweisen und Formate. Immer mit dem Risiko vor Augen, dass dieses widerständige, nicht zwingend betriebstaugliche Sprechen und Arbeiten nicht gehört werden wird oder im diskursiven Rauschen untergeht.
Was genau meint "Projekttheater"?
Das Theater ist mit seinen Begriffen manchmal recht hilflos. Was genau zum Beispiel unter "Projekttheater" zu verstehen ist, traut sich auch niemand zu sagen. Eine Vermutung: Gemeint sind Formate, die das theaterinterne Personal zu einem großen, interessanten, aktuellen Thema neben der Spielplangestaltung, der Betreuung laufender Produktionen und der Publikumsgespräche noch dazu erarbeiten soll. Das kostet dann wenig und ist trotzdem nah an der Wirklichkeit dran. Beinahe hat man so das Gefühl, dass die Theater sich keine literarisch gearbeiteten Texte mehr wünschen, sondern lieber schnell zusammenrecherchierte Thementexte, die in einem "spannenden", "offenen" Probenprozess entstehen, als verlängertes Hauptabendprogramm, über IS, Alzheimer, #snowden und die übernächste Finanzkrise, mit denen dann auf der Bühne Gegenwart "verhandelt" werden kann. Man wünscht sich statt Text oder innovativem, gut gearbeitetem Dokumentartheater, eigenes, vermeintlich "authentisches" Material und gleichzeitig möchte man natürlich keine umfangreichen Materialrecherchen unterstützen, weil ein Verständnis für Recherchekosten selten existiert. Ähnliche Probleme gelten für andere Formen von Stückentwicklungen. Die Idee mag gut sein, Raum die Formate zu belasten, umzuschmeißen oder richtig zu experimentieren, wird allerdings selten gegeben. Am Ende stempelt man dieses interne Fabrikat als interessantes, neues Format ab, in der allerdings Idee, Text und Form selten ineinander aufgehen, weil diese Formen der AutorInnenschaft unter Umständen über längere Zeiträume hinweg eingeübt werden sollten, anstatt sie aus Aktualitätsgründen einem gänzlich anders getakteten Betrieb einfach mal so überzustülpen.
Was ist ein literarisches, widerständiges Sprechen?
Weit weg ist man damit von der Suche nach einer widerständigen Sprache, die in der Reibung mit Körper, Regie und Bühne, das Theater zu neuen Formen zwingt. Und eine Distanz zur Realität herstellt, die ein Nachdenken über selbige überhaupt erst produktiv macht. Wenn Sprache Realität herstellt, braucht es eine Sprache, die diese hergestellte Realität, und ihre produzierten Fiktionen in einer Verfremdung wieder erfahrbar und kritisierbar macht. Literarische Sprache war immer Sprach- und damit Diskurskritik. Hat die diskursiven Fiktionen immer in Frage gestellt und einfache politische Narrative durcheinandergebracht. Was eine widerständige Sprache im späten Multimedia-Spektakel-Kapitalismus sein kann, der sich nach wie vor resistent gegenüber einer Sprachkritik gibt, bleibt offen.
Wer ist eigentlich heute das Publikum?
Für wen macht man eigentlich Theater? Wen will man erreichen? Die Krise des Texts ist vielleicht nur eine kleine Fußnote zu einer Krise des Theaters, das zwischen Erneuerung, Publikumsverlust und Sparzwängen hin- und her gerissen strudelt. Und vielleicht ist das vorschnelle Abstoßen des ("einen", "klassischen") Textbegriffs (der wie ein gespenstisches Dispositiv immer eine jede Debatte über diese Fragen heimsucht) auch eine hilflose Panik-Reaktion, auf Fragen, die gestellt werden müssen, die aber vielleicht ganz anders und vielleicht auch weniger dramatisch gelöst werden könnten. Gespräche sind dazu oft ein recht guter erster Schritt.
Warum redet noch irgendwer von einer heimlich immer noch laufenden Regietheater-Debatte, von der niemand weiß und die auch eigentlich nicht mehr geführt wird?
Zur inflationär geführten Debatte um die Vormacht auf der Bühne, lässt sich abschließend eigentlich nur sagen: Zwei Positionen in der Theaterpraxis sind unersetzbar, die der/des Autorin/s und die der/des Hospitantin/en. Beide sind wichtig, weil sie von außen kommen und mit dem Theater nichts zu tun haben, und nur die beiden können die fürs Theater entscheidenden Fragen stellen, nämlich: Was passiert hier? Was macht ihr hier? Was soll das eigentlich alles?
RealFiktionen
Theater Text Autorschaft
6. bis 15. Mai 2015 Lettrétage Berlin, Mehringdamm 61
Mit: Jörg Albrecht, Hannes Becker, Nolte Decar (Michel Decar und Jakob Nolte), Olga Grjasnowa, Wolfram Lotz, Maxi Obexer, Kathrin Röggla, Gerhild Steinbuch und Deniz Utlu.
Projektentwicklung und Leitung: Carolin Beutel und Thomas Köck.
Blog: http://www.realfiktionen.wordpress.com
Facebook: https://www.facebook.com/realfiktionen
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Also ein von Produktionszwängen befreites Theater. Dass im Freien Theater so
wenige Theatertexte kursieren, kann an vielem liegen, wer weiß, vielleicht
auch an den Autoren selbst
Kathrin Röggla in ihrer Poetik-Vorlesung an der Universität Duisburg- Essen
www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10417:2015-01-02-10-15-12&catid=101&Itemid=84
www.youtube.com/watch?v=Razc1STdS4w
Die Kategorie Aneignung im Anschluß an Marx' Bemerkungen im "Kapital" und den ökonomisch-philosophischen Manuskripten kann in drei Punkten zusammengefaßt werden:
Erstens handelt es sich immer um eine Umformung des Anzueignenden durch menschliche Tätigkeit zum Zwecke seiner Inbesitznahme mit dem Ziel der Befriedigung produktiver und konsumtiver menschlicher Bedürfnisse. Zweitens erfolgt dabei stets eine tiefere, genauere Erfahrung und/oder Erkenntnis des Angeeigneten. Und drittens geschieht in jedem Falle eine wie immer erfolgende „Vergegenständlichung“ sowohl der Arbeit als auch des Produzenten im Produkt. Jeder dieser Punkte ist auch für die künstlerische „Produktion“ von höchster Relevanz. So könnte man sogar beispielsweise mühelos die berühmte Inszenierung "√Faust 1+2" (auch: "Goethes Faust Wurzel 1+2“, der sogenannte "Wurzel-Faust") Christoph Marthalers aus dem Jahre 1993 als das interpretieren, was sie ist: eine gelungene Aneignung beider Teile des Goetheschen "Faust" - alle drei Merkmale treffen auf sie zu. Das ist ein extremes Beispiel, aber gerade deshalb verweist es auf die Vielfalt der Aneignungsmöglichkeiten. Der "Wurzelfaust" zertrümmert bekanntlich den Text Goethes und setzt das Wenige, das er davon übrig läßt, völlig neu zusammen. In manchen gegenäwrtigen Aufführungen wird das narzisstische Selbst des Regisseurs/der Regisseurin angeeignet. Möglichst marktkonform.
Wozu aber ist es gut, daß die auf dem Theater erzählten Geschichten aus seiner aneignenden Begegnung mit Literatur kommen? Sie müssen es nicht, aber diese Begegnung ist und bleibt eine der großen Möglichkeiten des Theaters , sich selbst zu optimieren. Bekannt ist das Heiner-Müller-Wort, das Theater brauche den Widerstand der Literatur. Gegenüber Gerda Baumbach und mir hatte er das am 22. Januar 1974 in einem langen Interview so beschrieben: "Was nun die Theatertexte angeht, so glaube ich, daß das Theater nur lebendig bleiben und sich weiterentwickeln kann, wenn es ständig einen Widerstand von der Literatur hat. Es muß Stücke kriegen, die es so, wie es ist, nicht ohne weiteres umsetzen kann. Es muß da immer die Kollision möglich bleiben zwischen der Literatur und dem Theater."
Und: Theaterstücke/Dramen erleichtern das Erzählen von Geschichten. So lange es ein Bewußtsein vom Gestern und ein Arbeiten am vorgestellten Morgen gibt – nicht zu verwechseln mit der Chimäre eines "Ziels der Geschichte" ! – müssen Geschichten erzählt, und das heißt auf dem Theater: gespielt werden. Die großen Mythen der Menschheit sind erzählte Geschichten und nur als solche existent. "Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“ (Hans Blumenberg).
Die unbezweifelbaren Veränderungen zu neuen Werkformen sind besser nicht mit einer behaupteten Ausweitung des Autor-Begriffes zu verbinden - man sollte von produzierenden Künstlern sprechen, von Machern oder künstlerischen Produzenten oder einfach, je nachdem, von Performern, Choreographen, Regisseuren oder Truppen, Kunstkollektiven. Autoren sollten schreibende Künstler und als solche Individuen sein und bleiben. Sie werden sonst allzu schnell untergebuttert.
Diese Bemerkungen sind eine eigentlich kaum zu verantwortende Kurzfassung eines größeren Textes.