Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute - Am Schauspiel Stuttgart inszeniert Jan Gehler das neue Stück von Dirk Laucke
Wegschauen, weghören, wegducken
von Adrienne Braun
Stuttgart, 8. November 2014. Es macht "pardauzawummpeng" – und schon hat Rainer eine Faust im Gesicht. "Zack" – und sein "schöner Secondhändglascouchtisch" ist zerhauen. Später drücken die drei Jungs ihre Kippen auf ihm aus, sodass Rainer zuckt wie ein "Hoppelhäschen". Pennytüte über den Kopf und zugedrückt. Und der Kanister mit dem Benzin, den haben sie auch dabei. Danny, Rille und Micha im Einsatz gegen das Unrecht. Denn Rainer, da sind sie sicher, hat bei "irntwelchen Wänstern in der Hose" rumgewühlt, rumgefühlt. "Hängt hier aufm Spielplatz rum", sagen sie, "und dann spielter an dem Klein seim Pimmel rum". Kein Zweifel: Rainer ist ein "Kinderficker".
Hierarchiefreies Nebeneinander
Im NORD, der Außenspielstätte des Schauspiels Stuttgart, sind es keine Schlägertypen mit Nietengürtel und Springerstiefeln, die ihr Unwesen treiben. In unauffälligen schwarzen Alltagsklamotten stehen die Schauspieler auf der Bühne und erzählen beiläufig und unaufgeregt, wie die drei Jungs aus Silberhöhe, einem Stadtteil von Halle, mit dem "dreckigen Abschaum" abrechnen. Im neuen Stück von Dirk Laucke sind Gewalt, Rassismus und rechtes Denken aber keineswegs nur im Osten zuhause, sondern brodeln im gesamten Land. In Freiburg, Regensburg und Ostfriesland, auf dem Kinderspielplatz und auf dem Biobauernhof. Dirk Lauckes Diagnose: Es steht nicht gut um dieses Land.
"Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute" nennt sich das Auftragstück, das Jan Gehler nun im NORD uraufgeführt hat. Der Titel benennt deutlich Lauckes Vorbilder: Er hat Bertolt Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches" und "Furcht und Hoffnung der BRD" von Franz Xaver Kroetz fortgeschrieben. Brecht sammelte Material über Alltagsereignisse im nationalsozialistischen Deutschland, Laucke hat nun Augenzeugenberichte und Zeitungsnotizen der vergangenen Jahre aufbereitet – und stellt die heutigen Akteure hierarchiefrei nebeneinander: Hier die Gewalttäter von Halle, dort Kinder, die auf dem Handy sexistische Pornos glotzen. Eltern, die nicht wahrhaben wollen, dass sich ihre Kinder radikalisiert haben, Feiglinge, die wegschauen, weghören, sich wegducken – selbst wenn in der Straßenbahn einer schwadroniert: "Türkenpack ab nach Auschwitz".
Roma im "Sonderförderungsgebiet"
Über die Bühne zieht sich eine breite Spur aus Streichhölzern – Symbol dafür, dass ein kleiner Funke genügen könnte, um eine neuen Katastrophe auszulösen. Schlaglichtartig werden deutsche Schauplätze ausgeleuchtet. Hier debattieren Friedensaktivisten, wie sie auf einem Nazi-Fackelzug reagieren sollen – und kapitulieren letztlich, um die eigene Haut zu retten. Dann blickt Laucke nach Tschechien, wo Prager Roma in ein "Sonderförderungsgebiet" abgeschoben werden oder die Amtsärztin ein Roma-Kind auf die Schule für geistig Behinderte schickt – reflexhaft.
"Furcht und Ekel" fragt nicht nach Motiven, nicht nach der psychischen Verfasstheit der Protagonisten, sondern lenkt den Fokus auf die verschiedenen Facetten rechten Denkens, das hinter roher Gewalt, aber ebenso hinter mangelnder Zivilcourage stecken kann. Laucke liefert prägnante Beispiele, die zwar nicht überraschen, aber doch erschüttern. Bedrohlich wird es, als die Gruppe im Dunkeln einer "Zecke" auflauert – und die Gewalt spürbar wird.
Im Status quo
Der Regisseur Jan Gehler bringt die Erzählungen und Dialoge abwechslungsreich auf die Bühne, lässt Frauen Männer spielen und baut chorische Passagen ein. Vor allem die Schauspielerinnen sind an diesem Abend stark – Caroline Junghanns wechselt versiert zwischen der Figur des dumpfen Ossis Rille und einer verzweifelt engagierten Journalistin.
Laucke hat gut daran getan, nicht nur extreme Beispiele zu wählen, sondern auch unterschwelligen Rassismus zu thematisieren. Er ermittelt den Status quo, aber weder differenziert er die verschiedenen Formen rechten Denkens, noch eröffnet er eine Perspektive, wie damit umgehen. Als hätte er es selbst bemerkt, lässt er am Ende einen Theaterintendanten sagen: "Wir erarbeiten eine Projektwoche zu dem Thema."
Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute
Szenen aus Deutschland von Dirk Laucke
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sami Bill, Kostüme: Katja Strohschneider, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Caroline Junghanns, Robert Kuchenbuch, Rahel Ohm, Hanna Plaß, Florian Rummel, Michael Stiller.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Die Uraufführung leide unter den Unbeholfenheiten der Regie, findet Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (10.11.2014), "das ist bitterschade". Dirk Lauckes Szenenfolge erinnere mit nüchterner Scharfsicht an all das, was seitdem unter der schwarz-rot-goldenen Einheitssonne sonst noch ausgebrütet worden ist: braunes und dumpfes Gedankengut, das mehr an 1938 erinnere. "Davon sind wir weit entfernt. Aber dass es an den Rändern der Nation wieder gefährlich rumort, rückt uns Lauckes Stück rechtzeitig ins Bewusstsein." Der 34-jährige Laucke fange exemplarisch den erschreckenden Geisteszustand von weiten Teilen der Nation ein. Regisseur Jan Gehler sei der panoramatischen Präzision von Dirk Laucke jedoch nicht gewachsen und stecke das Stück "in die Zwangsjacke einer naiven und, wie gesagt, ärgerlich klischeebeladenen Abstraktion".
"Die Darbietung verkomme zur papierfreien Lesung: Brutale Schinderei oder vermeintliche Wirtshausschlägerei laufen mangels Requisite und Spiel nur im Kopf der Hörer ab", schreibt Cornelius Oettle in den Stuttgarter Nachrichten (10.11.2014). Punktuell mag diesen Vorträgen Gesellschaftskritik innewohnen. Aber "die Aufführung verbreitet ein paar lasche Warnungen vor hirnlos zündelnden Flachpfeifen, jedoch weder Ekel noch Furcht".
Bei Elske Brault hat der Abend zu vielen Fragen geführt, wie sie im Deutschlandradio Kultur (8.11.2014) berichtet: "Ist alles Politisieren nur eine Maske, mit der wir die eigenen Empfindungen bedecken, drücken wir uns, geschützt von allgemein gehaltenen politischen Argumenten, vor der Begegnung mit unserem Mitmenschen? Wie weit sind unsere hehren politischen Ideale entfernt von unserem Verhalten in der U-Bahn, wenn wir eingreifen könnten und es nicht tun?" Das Stück verweise den Zuschauer gekonnt auf dessen eigenes Privatleben. "Selbst die Döner-mampfenden Prolls in der ostdeutschen Trinkhalle kommen uns nahe, weil Florian Rummel alias Danny mit seinen großen blauen Augen sehnsuchtsvoll von einem anderen Leben schwärmt (...)."
"Laucke differenziert nicht. In seiner schlichten, aber eindringlichen Dokumentation sind alle letztlich gleich", findet Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2014). Laucke lasse die Gewaltakte nur erzählen, habe aber "einen schmerzenden Proletensprech entwickelt, in dem es um 'geile Mülfs', 'bockwurstich' und 'Fotzeriche' geht". Gewalt habe ihre Wurzeln im Denken, so Lauckes Mahnung. "Es verrät sich in der Sprache – aber oft genug auch durch Schweigen im falschen Moment."
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