Bericht von der ersten bundesweiten Ensemble-Versammlung
"Let’s kill the Theaterfolklore"
von Pirmin Sedlmeir
1. Juni 2016. In Bonn wird wieder Politik gemacht. Theatermacher*innen aus den verschiedensten Teilen Deutschlands sind letztes Wochenende auf dem Gelände der Halle Beuel zusammengekommen, um eine Reform des Theaters und der damit verbundenen künstlerischen Arbeit einzuleiten.
Tag eins: You are not alone
Unter den insgesamt mehr als 250 Teilnehmern befanden sich überwiegend Schauspieler*innen, aber auch Regisseur*innen, Regieassistent*innen, Dramaturg*innen, und sogar einige Intendant*innen (Herr Khuon stellte sich für ein Foto sogar neben die nackte "Rosa Luxemburg des ensemble-netzwerks") ließen es sich nicht nehmen, dem Ruf des ensemble-netzwerks zu folgen, und diesem seit Jahrzehnten nötigen Treffen beizuwohnen.
Am Freitagabend wurde die Versammlung durch Lisa Jopt, Mitinitiatorin des Treffens sowie Mitbegründerin des ensemble-netzwerks, eröffnet. In ihrer Rede, die im Netz innerhalb von fünf Tagen bereits über sechstausend mal angesehen wurde, plädierte Jopt für einen stärkeren Zusammenhalt aller Theaterschaffenden, für bessere Arbeitsbedingungen und gerechtere Bezahlung nach einem sogenannten Elitestudium in einer 48-Stunden-Woche, für eine Neuformulierung des Arbeitsvertrages NV-Solo.
Bei der Frage nach der Schuld an den kruden Zuständen prangerte Jopt jedoch ganz klar die Schauspieler selbst an, da sie die bizarre Arbeitssituation jahrelang als gegeben hingenommen und sich ihrer niemals erwehrt hatten. Bereits im Februar 2015 hatte Jopt mit der zweiten Gründerin des ensemble-netzwerks Johanna Lücke einen Brief an alle Theater in Deutschland verfasst, in dem sie zur Vernetzung der Theater aufriefen, um gemeinsam eine längst überfällige Reform einzuleiten. Die Blüte, die aus dieser Saat hervorging, ist letztes Wochenende zur Frucht gereift.
Danach begrüßte Nicola Bramkamp, Schauspieldirektorin des Theaters Bonn, die Anwesenden und die Schauspielerin Mareike Hein las aus dem von ihr und ihrem Ensemble verfassten Text "Stadttheater der Zukunft" vor.
Mitstreiter
Gregor Sturm, Bühnen- und Kostümbildner sowie Mitglied im Vorstand des Bund der Szenografen plädierte für eine stärkere Verbindung mit Politik und Trägern, und stellte das Projekt "40.000 Bühnenarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten" vor. Initialzündung hierfür war, so Sturm, ein Treffen mit einer Politikerin, die, auf die Frage wie viel man im Schnitt pro Monat als Festangestellter im Theater denn wohl verdiene, antwortete: "Na, wenn sie so fragen...über dreitausend Euro netto?" Vom Volkstheater München sprach der Schauspieler Mehmet Sözer, der sich wünschte, auf Proben nicht zum "Erfüllen", sondern zum "Erfinden" angehalten zu werden.
Hartmut Becker, Schauspieler mit über fünfzig Jahren Berufserfahrung, hatte sogar eine Laudatio bei der gleichzeitig stattfindenden Verleihung des Deutschen Filmpreises Lola ausgeschlagen, um an diesem Wochenende dabei zu sein. Er sprach theatergeschichtlich bezogen über die gerade heutzutage immer noch gültige Relevanz und nötige Erneuerung des Ensemblegedankens. Zuletzt verlasen Baris Tangobay und Anica Happich, beide im Abschlussjahrgang der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, einige ihnen auf Aufruf anonym zugesandte Gedanken und Ängste ihrer Kommilitonen, die erstaunlich deckungsgleich sind mit den Sorgen derjenigen, die im Berufsalltag stehen.
Tag zwei: With a little help from my friends
Am zweiten Tag wurde, moderiert von Daniel Ris von art but fair, ein Open Space abgehalten. In dieser Art der Konferenz werden Themen im Plenum gesammelt und diese jeweils innerhalb einer Stunde in Kleingruppen erörtert. In insgesamt drei Runden, also in über dreißig verschiedenen Stuhlkreisen, ging es zum Beispiel um: Verhalten bei Erstarkung der AfD, "40.000 Bühnenarbeiter treffen ihre Abgeordneten", Verbesserung der Ausbildung, Optimierung und Erneuerung des Arbeitsvertrages NV Solo, Kinderbetreuung an den Theatern, Gerechteres Gagensystem, Erfassung der Arbeitszeit, künstlerisches Mitspracherecht des Ensembles, und vieles mehr. Bei der Abschlusskonferenz stellte jede Gruppe ihre Ergebnisse und ihre Vorhaben für die nächsten Schritte vor. Nach einem endlosen Kopiermarathon erhielt jeder Teilnehmer ein komplettes Protokoll des gesamten Open Space.
Tag drei: Was hat Dich bloß so ruiniert?
Am dritten Tag fand eine Podiumsdiskussion, moderiert von Lisa Jopt und Sebastian Rudolph, mit Jörg Löwer (Präsident der GDBA), Heinrich Schafmeister (Vorstandsmitglied des BFFS) und Nicola May (Intendantin des Theaters Baden Baden), sowie Johannes Maria Schatz von art but fair, statt. Leider war Frank Schreckenberg, Tarifsekretär von ver.di, kurzfristig erkrankt und musste seine Teilnahme absagen.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wurde versucht die Teilnehmer der Diskussion, vor allem Herrn Löwer und Frau May, nicht in die Enge zu treiben, jedoch war der Frust und die Enttäuschung über den Verlauf der letzten Jahrzehnte, insbesondere was die Arbeit der GDBA und des Bühnenvereins anging, bei vielen Teilnehmern so massiv, dass mancher Hitzkopf die Dezibelzahl der Debatte schnell ansteigen ließ.
Desweiteren wurde lösungsorientiert versucht, Zukunftsperspektiven zu formulieren und die prekäre Arbeitssituation vieler Schauspieler an deutschen Theatern zu verdeutlichen. GDBA und BFFS Bundesverband Schauspiel stellten die Option eines "Kombitickets" in Aussicht,
dass Schauspielern die Mitgliedschaft bei beiden Gewerkschaften zu einem günstigeren Preis ermöglichen soll.
Forderungen
Nach der Podiumsdiskussion verfassten einige Mitglieder des ensemble-netzwerks einen Brief an den Bühnenverein mit verschiedenen Punkten und Forderungen, welcher hoffentlich auf der diesjährigen Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins in Kaiserslautern zu einer dringend nötigen Theaterreform führen wird.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die GDBA wieder verstärkt für eine ihrer wichtigsten Mitgliedergruppen einsetzt: die Schauspieler (kann sein). Dass sich dadurch wieder mehr Schauspieler gewerkschaftlich engagieren (muss sein). Dass man auch die erfahreneren Kollegen, die in ihrer Verzweiflung und ihrem Grant vielleicht schon gemütlich geworden sind, mit in das Boot holt, das zu neuen Ufern aufbricht und in Richtung Veränderung segelt (muss unbedingt sein).
Nächstes Mal in Mainz
Eines ist sicher: Jeder/jede Theaterschaffende, der/die dieses Wochenende in Bonn Beuel dabei war, kehrte mit einer neu entfachten Leidenschaft zurück in seinen Beruf. Mit einem Feuer im Herzen, das dafür brennt, die Umstände nicht mehr als gegeben zu betrachten, sondern sie als gemeinsam veränderbar wahrzunehmen. Und das sind sie.
Bis 2017 am Staatstheater Mainz, mein Schatz. Und 2018 am Schauspielhaus Bochum.
You are not alone.
Pirmin Sedlmeir, geboren 1987, aufgewachsen am Starnberger See, absolvierte sein Schauspielstudium nach einer Bierbrauerlehre von 2010 bis 2014 an der Universität der Künste Berlin. Während seiner Studienzeit spielte er am Hans Otto Theater Potsdam, am Maxim Gorki Theater, am Schauspielhaus Hamburg, bei den Luisenburger Festspielen erhielt er 2014 den Nachwuchsförderpreis. Seit der Spielzeit 2014/ 15 ist Pirmin Sedlmeir festes Ensemblemitglied am Oldenburgischen Staatstheater.
Mehr dazu: am 31. Januar 2017 erschien dann auch der Trailer zur ersten bundesweiten Ensemble-Versammlung.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >