Atlas der abgelegenen Inseln - In Thom Luz' Hannoveraner Inszenierung von Judith Schalanskys Buch werden die Zuschauer zu Gestrandeten
Es schmilzt das Eis im Treppenhaus
von Jan Fischer
Hannover, 21. September 2014. Aus dem Nebel tauchen sie auf, die ersten leisen Geigenklänge, da kommen sie, von oben, die Treppe runter: die Verirrten, die Verlorenen, die Gestrandeten, sie sind bleich, sie haben Augenringe, und wenn sie lächeln, sieht man auch die schlechten Zähne. Und dann gehen sie wieder.
Man muss zuerst zwei Dinge wissen.
Zum Einen das Buch. Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln. 50 Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde" ist ein eigenartiges Buch, eines, in dem die Autorin Karten abgelegener Inseln versammelt und die merkwürdigen Geschichten recherchiert hat, die sie umgeben – keine Geschichten von Entdeckern sind das, eher Geschichten von Gescheiterten, Leuten, die gestrandet sind, verhungert, die wirre Träume von Piratenschätzen träumten und das ein oder andere Eiland vergeblich danach umgruben. "Das Scheitern der anderen ist immer lehrreich", sagte die Autorin dazu einmal in einem Interview.
Das andere ist der Raum. Die Cumberlandsche Galerie, einst Heimatmuseum, heute Spielstätte, gerade hinten über den Hof des Schauspiels Hannover. Thom Luz hat für seinen "Atlas der abgelegenen Inseln" das Treppenhaus belagert, vollgenebelt und ein paar Musikinstrumente hineingestellt, der Rest sieht immer so aus, gusseiserne Säulen mit verzierten Kapitellen, ein weites Treppenhaus mit leicht kirchenartigen Erkern, floral gefliester Boden, alles leicht ranzig, benutzt, alles, wenn man so will, selbst fast ein untergegangener Hochseedampfer aus der Zeit, als die noch so aussahen.
Fetzen, die aus dem Nebel kommen
Thom Luz – der 2014 von Theater heute als Nachwuchsregisseur des Jahres ausgezeichnet und dessen Archiv des Unvollständigen einhellig gefeiert wurde – lässt das Stück auf den drei Stockwerken der Galerie spielen. Vier Schauspieler und vier Musiker, sämtlich bleich geschminkt, bewegen sich eigenartig eckig die Treppen hoch und runter, sehen aus, als seien sie schon längst nicht mehr am Leben und erzählen einen Geschichten-Verschnitt der Gestrandeten und Gescheiterten, während die Zuschauer an ihrem Platz bleiben. Hin und wieder dringen Fetzen der Monologe aus den anderen Stockwerken durch den Nebel, einzelne Geigen-, Pauken oder Posaunentöne. Hin und wieder kommt der eine oder andere Musiker vorbei, hin und wieder der ein oder andere Schauspieler, und ein kleines Stück der Geschichten wird sichtbar, nicht nur aus den kleinen Stücken von woanders her erratbar.
Die Geschichten sind selbst nicht zusammenhängend, so dass man zwar nichts verpasst – sich aber immer fragt, ob es jetzt im Stockwerk drüber oder drunter vielleicht interessanter ist, da, wo sie gerade singen, wo gerade jemand Klavier spielt oder schreit, während vor einem gerade nur ein Block Eis langsam schmilzt und jeder Tropfen einen dunklen Ton auf der Pauke macht, über der er hängt – immer wieder baut Luz solche Bilder, sichtbare, wie den Eisblock, hörbare, wie ein Klavierstück, das sich in Dissonanzen auflöst, angespielte Geigenstücke, die woanders weitergehen, halb wahrgenommene Geschichten, deren Anfang irgendwo anders passiert ist und deren Ende wiederum woanders passieren wird: Alles scheitert, alles geht zu Grunde, und der große Zusammenhang bleibt im Dunkeln.
"Ich komme gleich wieder"
So wird der Zuschauer selbst zum Gestrandeten in Luz' Hybrid aus Schauspiel und akustischer Installation, zu einem, der im Nebel darauf wartet, dass etwas passiert, im Grunde immer am falschen Ort, ohne Möglichkeit, den richtigen zu kennen, immer in dieser Atmosphäre aus Unsicherheit, Nebel und Klangfetzen, den Geschichtenkrümeln der bleichen, scheiternden Stimmen im Nebel ausgeliefert, dem ständigen "Ich komme gleich wieder", mit dem die Schauspieler den Zuschauer ansprechen, man muss fast sagen: zu befrieden versuchen. Alles in allem ist Luz "Atlas der abgelegenen Inseln" eine frustrierende, fast deprimierende Angelegenheit – als solche aber in sich so stimmig durchkomponiert, choreographiert, collagiert, dass all dieses Verirren, Sterben, Zerbrechen, Kaputtgehen und Schmelzen und Unvollständige eines ganz bestimmt nicht tut: scheitern.
Atlas der abgelegenen Inseln
von Judith Schalansky
Regie: Thom Luz, Bühne: Demian Wohler; Kostüme: Tina Bleuler, Dramaturgie: Judith Gerstenberg, Musikalische Leitung: Matthias Weibel.
Mit: Beatrice Frey, Oscar Olivo, Sophie Krauß, Günther Harder, Musiker: Maria Pache, Karoline Steidl, Iris Maron, Mikael Rudolfsson.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhannover.de
"Oje: ein Treppenwitz mit Geschichten, aufgeblasen und ermüdend", schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (23.9.2014). Das Ganze sei ein sehr ambitioniertes Projekt, "der Ernst enorm, trotzdem wirkt manches unfreiwillig komisch."
Aus Sicht von Alexander Kohlmann in der taz (23.9.2014) ist Regisseur Thom Luz das Kunststück gelungen, dem Buch eine weitere Ebene der sinnlichen Wahrnehmung hinzuzufügen. Der Abend bestehe "zu einem großen Teil aus Klängen und Geräuschen: einem Klingeln, Rauschen und Krachen, dazwischen Wortfetzen und ein Ensemble aus geisterhaften Gestalten, die über drei Etagen huschen. Und dem Zuschauer das Gefühl geben, dass - wie auch im Leben - die interessanten Dinge immer dort passieren, wo man sich nicht befindet."
Die Akteure liefern der Kritik von Jörg Worat in der Hannoverschen Neuen Presse (23.9.20149 zufolge nur Fragmentarisches ab, "mal klassisch, mal fetzig mal Freistil". Das könnte spannend sein, wenn "wenn denn die Spannungsbögen halten würden". Doch das tun sie laut Worat nur streckenweise. "Der Grundaufbau bleibt klar, zwischendurch kommt es indes zu einigem Leerlauf - zu verfolgen, wie ein tropfender Eisblock die Pauke zum Klingen bringt, erschöpft sich nach einigen Minuten."
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