Magazinrundschau Dezember 2015 – Die Theaterzeitschriften denken über Geflüchtete auf der Bühne und über die drei wesentlichen Tätigkeiten des Theaters nach

Theater als Kampfeinheit, aber ohne Mustafa?

Theater als Kampfeinheit, aber ohne Mustafa?

von Wolfgang Behrens

Dezember 2015. Besinnlich wird es in den drei Monatsmagazinen natürlich auch vor Weihnachten nicht: Es geht um Flüchtlingstheater und die Frage, wie politisch Theater sein muss, in der Schweiz zum Beispiel und überhaupt. Alexander Kluge weiß, welches die drei eigentlichen Säulen des Theaters sind, und Die deutsche Bühne entdeckt die neue Opulenz.

Theater heute

Das Dezember-Heft von Theater heute eröffnet mit einem Text von Peter Michalzik, der sich – noch vor der Affäre um die Äußerungen von Alvis Hermanis – Gedanken um das Verhältnis des Theaters zu den Flüchtlingen gemacht hat. Michalzik kann dabei auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, denn er hat für das von Burkhard C. Kosminski in Mannheim inszenierte Doppelprojekt "Blick von der Brücke / Mannheim Arrival" Interviews mit Flüchtlingen geführt,  die dann auf der Bühne von Schauspielern gelesen wurden. Michalzik lotet das Feld aus, das man in Zusammenhang mit Flüchtlingsthemen auf der Bühne betritt: Anhand Nicolas Stemanns Schutzbefohlener habe man bemerken müssen: "Man darf nicht ein paar lokale Flüchtlinge wegen des Authentizitätsfaktors einfach auf die Bühne stellen. Da beginnt der Missbrauch (…)." Andererseits sei "im Theater bei diesem Thema Scheu vor Repräsentation spürbar. Wie können 'wir' für 'sie' sprechen? Können wir es überhaupt?" Michalzik spricht sich angesichts dieses Dilemmas fürs Experiment aus: "Wir müssen es ausprobieren. Dafür braucht es auch eine Kritik, die nicht immer gleich die endgültigen Antworten will, sondern die bereit ist, Wege mitzugehen."

TH 11.15 180Und er schlägt eine "altmodische" Kategorie vor, mittels derer man dem Dilemma vielleicht  begegnen könne: Takt. "Takt auf der Bühne bedeutet, niemanden bloßzustellen. (…) Soll man die Flüchtlinge zum Spielen animieren? Wie leicht überkommt einen das Gefühl des Fremdschämens! Takt auf der Bühne bedeutet, die Beziehung, aber auch die Fremdheit mitzuinszenieren. Takt bedeutet, für die Bedeutung kleiner Gesten als Zeichen der Beziehung und die Situationen auf der Bühne eine besondere Aufmerksamkeit zu haben. Wie leihe ich meine Stimme einer anderen Person, bin dabei aber nicht sie, identifiziere mich aber trotzdem mit ihr?" Zuletzt fragt Michalzik auch nach "der Komödie, dem Lachen, der Spottlust". Und er glaubt, dass wahrscheinlich "das lustige Theater über Flüchtlinge von Flüchtlingen kommen" werde, "wir müssen sie nur reinlassen."

In einem anderen Artikel des Heftes geht Res Bosshart, der ehemalige Leiter von Kampnagel Hamburg, mit den Schweizer Theatern und ihrer (Nicht-)Reaktion mit dem Rechtsruck bei den Nationalratswahlen hart ins Gericht. In Lukas Bärfuss' heiß umstrittenen FAZ-Artikel erwähne dieser nirgends "das Nichts im Theater, die Leere auf den staatlichen Bühnen". Mit der Kultur gehe es nämlich "nicht einfach bergab, vielmehr droht sie eben auch auf den falschen, rechten Weg abzudriften." Bosshart wirft etwa der Intendantin des Zürcher Schauspielhauses vor, "in den Wochen bis zum Wahlwochenende für die 'Neue Zürcher Zeitung' geworben" zu haben, für "jene Zeitung also, die sich massiv für die rechtsbürgerlichen, konservativen Parteien FDP und SVP einsetzte", während es auf ihrer Bühne "total ruhig" blieb, "wie auf allen andern Schweizer Bühnen. Ist diese selbstgenügsame Schauspielerei vielleicht auch der falsche, rechte Weg? Oder entspricht diese Leere dem Konkordanzsystem: Sag, was die Mehrheit sagt, auch wenn du dagegen bist?" Bossharts Warnruf klingt jedenfalls so, als werde Alvis Hermanis sicherlich auch zukünftig keine Mühe haben, einen Job in der Schweiz zu finden.

Theater der Zeit

Theater der Zeit präsentiert in der Dezember-Ausgabe ausnahmsweise einmal keinen richtigen Schwerpunkt, setzt aber den Fokus durch Titelbild und Hervorhebung im Inhaltsverzeichnis eindeutig auf das ausführliche Interview von Nicole Gronemeyer mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge, das innerhalb der TdZ-Reihe "Neuer Realismus" erscheint. Aus der aktuellen Theaterpolitik hält sich das Gespräch insofern heraus, als Kluge sich nicht zu seiner angedachten Rolle an der Berliner Volksbühne ab 2017 äußert (bzw. nicht befragt wird). Stattdessen entwirft er ein bedenkenswertes "Säulenmodell" des Theaters, das vor dem Hintergrund der jüngsten Angriffe von Alvis Hermanis oder auch von Michael Thalheimer auf ein explizit politisiertes Theater eine abwägende Position einnimmt und für ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht verschiedener Motivationen von Theater plädiert.

TdZ 11.15 180Kluge sagt: "Das Theater ist in dreierlei Hinsicht tätig. Erstens ist es fähig, einen Beitrag zum notwendigen Eigensinn zu leisten. (…) Theater hat die Funktion, der Phantasietätigkeit einen Tempel zu geben. Zweitens hat es die Funktion, die die wichtigste ist, nämlich zu memorieren, was an unwahrscheinlichen, glücklichen Fällen aufbewahrenswert, erzählenswert ist. (…) Das ist sozusagen die mittlere Säule. Die eine Säule ist spielerisch und bedeutet die Befreiung von Sinnzwang, die andere bedeutet Rekapitulation, die ernste Bemühung, etwas zusammenzufügen, was zusammengehört, zum Beispiel Rhythmus plus Gedanken, Musik plus Wissenschaft. Und schließlich die dritte Säule: Das ist das Theater als Kampfeinheit. Diese Säule läuft Gefahr, sofort die Säule eins zu instrumentalisieren und auf Säule zwei zu verzichten. Sie ist also selten allein seligmachend. (…) Diese drei Säulen (…) sind dasjenige, was man im Gleichgewicht halten sollte und zwischen denen man wechseln kann." Tatsächlich aber hat man eher den Eindruck, dass sich viele Theatermacher vor allem darum bemühen, eine oder zwei dieser Säulen komplett zu ignorieren …

Auf der letzten Seite des Heftes findet sich ein weiteres Interview: Dorte Lena Eilers hat es mit Eyüp Yildiz geführt, dem stellvertretenden Bürgermeister von Dinslaken, der es durch seine im Vorfeld vorgebrachte Kritik an Johan Simons' Ruhrtriennale  in der Theaterwelt zu einer gewissen Prominenz gebracht hat. Im Gespräch bekräftigt Yildiz seine Kritikpunkte auch post factum: Die Ruhrtriennale sei gefangen im Business: "Der Kern des Problems ist, das fehlende Element zu finden, the missing link. Warum ist letztlich auch die Situationistische Internationale untergegangen? Sie machte Kunst, kritisierte das System, den Wirtschaftsliberalismus, was Simons mit Accattone ja auch tut, aber es fehlte das wichtigste Element, die Brücke zum Proletariat, zu den Menschen. Man redet über, aber nicht mit ihnen. Es gibt so viele Künstler, Philosophen, Professoren, die das System kritisieren, die beweihräuchern sich im Grunde selbst. Wer von ihnen geht wirklich rein in die Kieze und redet mit den Leuten? Mit Mustafa, mit Hans oder Thomas, die jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen und malochen müssen?" Klingt so, als habe Yildiz auf jeden Fall ein Faible für Kluges dritte Säule …

Die deutsche Bühne

Der Dezember-Schwerpunkt der Deutschen Bühne ist nur sehr bedingt diskursträchtig, und deswegen sei er hier auch schnöde und sicherlich völlig ungerechterweise übergangen: Er gilt nämlich der "unterschätzten Theaterlandschaft" Franken und schaut in die Theater von Ansbach, Bamberg, Coburg, Dinkelsbühl, Erlangen, Fürth, Hof und Nürnberg.

db 11.15 180Thesenstärker kommt etwa ein Text des Chefredakteurs Detlef Brandenburg daher, der die Wiederentdeckung der Opulenz in der Oper zu beobachten glaubt. Es habe eine von Regisseuren von Hans Neuenfels bis Peter Konwitschny geprägte Zeit gegeben, in der die Oper zur "Kritik am Establishment" genau dort benutzt wurde, "wo sie die Richtigen traf". Seitdem habe luxuriöser Aufwand in der Oper als verdächtig gegolten: "Karge Gedankenräume oder nüchterner sozialer Realismus verdrängten das Dekor." Nun aber sei "eine Wiederkehr des vormodernen Gesamtkunstwerks Richard Wagners" zu konstatieren – "aber unter den Vorzeichen einer Welt, die durch die Postmoderne hindurchgegangen ist." Die neue Opulenz ziele "auf eine ganzheitliche Totalität aller der Oper möglichen Kunstformen als Abbild einer heterogenen und komplexen Welt." Als einen Kronzeugen für diese Tendenz ruft Brandenburg übrigens den Regisseur Stefan Herheim und seinen Bayreuther "Parsifal" von 2008 auf. Man hätte natürlich auch Christoph Schlingensief und seinen "Parsifal" von 2004 nennen können, aber Schlingensief ist ja leider schon tot …

Tot ist auch Heiner Müller, und zwar schon seit 20 Jahren. Jens Fischer hat sich für Die deutsche Bühne einige aktuelle Heiner-Müller-Aufführungen angeschaut, und er kommt zu dem Ergebnis, dass die "Avantgarde von gestern (…) erschreckend gut mit der Welt von heute" korreliere. "Zu den Müller'schen Visionen lässt sich stets konkreter Horror aus den Medien als Beweisführung addieren. Nur in Sachen Aufführungsästhetik wird nachjustiert im Jahre 20 nach Müllers Ableben." Lange nämlich habe das deutsche Stadttheater "schwarz gekleidete Griesgrame mit Grabesstimme vor schwarz raunender Bühnenleere an die Rampe treten" lassen, um "im kunstvoll steilen [oder ist steril gemeint?] Tonfall störrische Monologe endzeitlich" zu skandieren. "Ein Theater der Toten zelebrierte den Aufstand entleerter Theatermittel." Das alles gehöre nach Fischers Ansicht nun überwiegend der Vergangenheit an. In gewissem Sinne gilt wohl für Müller dasselbe wie für die Oper: Neue Opulenz, welcome!

 

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