Mother Song - In St. Pölten erzählt Mokhallad Rasem den Krieg aus Sicht von Müttern
Mitfühl-Theater
von Leopold Lippert
St. Pölten, 3. März 2018. Das Basswummern bringt die kleinen Zuschauer*innentribünen in der Theaterwerkstatt des St. Pöltner Landestheaters ganz schön zum Erzittern. Im schalen Licht des Projektors stehen fünf Frauengestalten vor Jacques-Louis Davids Gemälde von den Sabinerinnen, jenen Opfern einer Massenvergewaltigung, die im Gründungsmythos des antiken Roms schließlich den Frieden zwischen Römern und Sabinern herbeiführen. Langsam, wie in Zeitlupe, treten die Frauen aus dem Gemälde, es sind Kriegerinnen, mit stilisierten Brustpanzern, Lanze, Schwert und Schild. Doch es sind keine Amazonen, sondern Untote, zerschunden und mit starrem, leblosem Blick. Eine robbt verwundet am Boden. Eine andere hat einen Entenkopf als Helm, samt Schnabel. Am vorderen Bühnenrand liegen ein paar alte Bücher mit vergilbten Einbänden. Eines davon klappt Schauspielerin Bettina Kerl auf und beginnt zu lesen, brutale Kriegsbeschreibungen aus Aischylos' "Sieben gegen Theben".
Trauma, Wahrheit, Bild
"Mother Song", Mokhallad Rasems semi-dokumentarisches Stück über Mütter in den Kriegsgebieten des Nahen Ostens, problematisiert gleich zum Einstieg die Repräsentation von kriegerischer (und sexualisierter) Gewalt in unterschiedlichen Medien, in unterschiedlichen historischen Kontexten. Die Überlagerung von Davids Gemälde und Aischylos' Text mit dem Live-Moment der Performance, samt Tiermaske und Projektorsurren, weist geschickt auf die Bruchstellen zwischen individueller Traumatisierung, vermeintlicher historischer Wahrheit und ihrer künstlerischen Darstellung hin.
So sehr in dieser Eröffnungsszene Repräsentation als solche vorgeführt wird, so sehr verlässt sich Rasem im Rest des Stücks auf ihre unmittelbare Kraft. "Mother Song" besteht zu großen Teilen aus erschütternden Berichten von Müttern (Rasem, in Bagdad geborener Hausregisseur am Toneelhuis Antwerpen, war zur Vorbereitung auf Recherchereise in Syrien, im Irak und im Libanon), die um ihre im Krieg ermordeten Kinder weinen, als O-Ton mit Übersetzung vom Band. "Wir haben getrauert. Wir feiern nicht", sagen sie. "Das ist etwas für Leute, die glücklich sind". Dazu bewegen sich die fünf Schauspielerinnen, die ein performatives Spektrum von der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch" (Hanna Binder, Bettina Kerl) bis zur Performerin aus Aleppo (Sally Ghannoum) abdecken, langsam um einen Teppich herum, ganz in Schwarz gekleidet; meist bleiben sie alleine, doch manchmal berühren sie einander zärtlich.
Die Ungebrochenheit des Dokumentarischen entfaltet tatsächlich Schockwirkung, und die meist reduzierte, zerdehnte Bewegung der Performerinnenkörper unterstreicht die in den aufgezeichneten Passagen thematisierte menschliche Verwundbarkeit, die Verletzungen und Traumata, die bleiben. Trotzdem entwickelt die Bierernsthaftigkeit der Performance, die ihre eigenen Repräsentationsformen eben nicht zu bedenken scheint, beizeiten eine unfreiwillige Komik. So etwa bei einem Trauerritual, zu dem sich die Schauspielerinnen, im Kreis auf dem Teppich knieend, rhythmisch auf die Schenkel klopfen und dazu immer ekstatischer greinen und schreien. Sie lassen ihrem Schmerz freien Lauf, begleitet von Sally Ghannoums eindringlichem Gesang. Die Szene wirkt, als ob sich René Pollesch über einen Esoterik-Selbsthilfekurs hergemacht hätte. Aber sie ist ernst gemeint.
Fühlen und Denken
Zudem führt Rasems dokumentarische Materialbasis zu einem allzu eingeengten Frauenbild: "Mother Song" kann seine Frauen nur als Mütter denken, die als Figuren ausschließlich über die Trauer um ermordetete Familienmitglieder (meist Kinder) erschlossen werden. "21 Jahre hab ich darauf gewartet, Mutter zu werden", wird etwa ein Lebenslauf skizziert, und die Schauspielerinnen hängen derweil Wäsche zum Trocknen auf. Auch Tijen Lawtons zuckende Tanzperformance scheint vor dem Hintergrund westlicher misogyner Darstellungsweisen "besessener" Frauen zumindest verwunderlich.
Zum Schluss kommt die Hoffnung zurück, man erkennt es sofort, weil das warme Gegenlicht vom Boden her blendet. Es gibt frisches Wasser für die Frauen, zum Trinken, zum Waschen, und am Ende schlüpfen sie in frische, saubere Kleider. Überdreht springen sie über die Bühne, und erzählen freudig von Träumen und Hoffnungen, die sie trotz all der Trauer hegen. Man gönnt es ihnen: als berührendes Mitfühl-Theater ist "Mother Song" durchaus gelungen, als Nachdenken über die Repräsentation von Krieg und Gewalt im Nahen Osten-auch im Kontext der vom österreichischen Bundeskanzler einst so salopp abgetanen "hässlichen Bilder" nur bedingt.
Mother Song
Von Mokhallad Rasem
Konzept, Inszenierung, Bühne und Kostüme: Mokhallad Rasem, Dramaturgie: Julia Engelmayer, Erwin Jans, Ina Tartler, Regieassistenz: Olivér Illés, Licht: Karl Apfelbeck, Ausstattungsassistenz: Anna Hostek, Inspizienz: Herbert Rehart.
Mit: Hanna Binder, Saly Ghannoum, Bettina Kerl, Tijen Lawton, Anna Unterberger.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Koproduktion des Landestheaters Niederösterreich, des Toneelhuis Antwerpen und der Vereinigten Bühnen Bozen
www.landestheater.net
Kritikenrundschau
"In zeitlupenartigen Bewegungen und zu einem bedrohlichen Klangcluster als akustischem Kontinuum entstanden intensive Rituale des Schmerzes und der Trauer, aber auch der Trauma-Bewältigung", heißt es im ORF (4.3.2018). "Obwohl dem Abend stellenweise noch der Workshop-Charakter seiner Entstehung anzumerken ist, geht die Thematik doch nahe, auch die Schauspielerinnen wirken beim nachdrücklichen Schlussapplaus etwas mitgenommen. Durchaus fordernde 75 Minuten für alle Beteiligten."
Michael Wurmitzer schreibt im Wiener Standard (5.3.2018): Mokhallad Rasem benutze in "Mother Song" einen Euripides-Text neben den Interviews mit trauernden Müttern. Doch "dokumentarisch und mit weihevollem Pathos" entwickelten die eineinviertel Stunden keine eigene Geschichte, sondern bildeten nach. Die syrische Sängerin Sally Ghannoum singe "kräftig und zart, betörend wechseln Musik und akustische Drohgebärden". Die Figuren bewegten sich "meist langsam wie Gespenster, manchmal bricht körperlich heftig der Schmerz aus ihnen". Das ergebe jedoch "inhaltlich wenig". Es blieben "gewollt ästhetische Bilder, Töne und Gesten".
"Die äußerst beklemmende Konfrontation mit dem realen Grauen des Krieges" sieht -eb- in den Niederösterreichischen Nachrichten (6.3.2018) in dem Abend.
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