In seiner Rede zum George Tabori Preis 2018 fordert Jean Peters vom Peng! Kollektiv die Öffnung der Kunst für den realpolitischen Aktivismus
Die Rückkehr der Haie
von Jean Peters
30. Mai 2018. Kennt ihr den Moment, in dem ein Kind voller Elan losrennt, hinfällt, und schreit was das Zeug hält? Zehn Minuten später geht es weiter, hüpft, spielt, es gibt was Neues zu entdecken. Das ist eine der entscheidenden Qualitäten, die Kinder brauchen, um spielen zu können, um sich in Träume zu verwickeln und die Realität zu überprüfen. Erwachsene schreien ganz anders. Würden wir Erwachsene sehen, die plötzlich so schreien wie ein kleines Kind, würden wir uns wundern, ob die Welt nun jeden Moment untergeht. Und doch wundere ich mich gerade, wo unsere Welt, wie wir sie kennen, unterzugehen scheint, warum so wenig geschrien wird, warum wir dieses direkte Zur-Wehr-Setzen gegen den Schmerz des Aufpralls nicht doch in die Erwachsenenwelt übertragen können.
Mentale Gated Communities
Wir wollten doch auch alle noch in eine Welt hineinwachsen, wollten sie mitgestalten, so dass sie glitzert und mit Liebe vollgepumpt wird, wollten alle ein bisschen anerkannt werden, spielen, tanzen, was Sinnvolles zu tun haben. Das wollen wir doch, oder? Wir wollen eigentlich keine mentalen Gated Communities bilden, in denen wir mit ausgeklügelten Methoden sozialer Kontrolle darauf achten, dass wir, unsere Familie, unser links-liberaler Freundeskreis, unser Deutschland, unser Europa oder, wenn das nicht geht, dann halt doch nur unser Netzwerk, unsere Familie als Letztes untergeht.
Aber gerade zerbricht so Vieles. Spätestens seit dem Fall von Lehman Brothers 2008, als die jüngste Finanzkrise begann, wurden die Fenster für historische Alternativen breit aufgerissen. Aber keiner traute sich, hindurch zu klettern und einen radikalen Wandel einzuläuten. Es wurde verhandelt und gemahnt, ein paar wenige verantwortliche Köpfe rollten, wir dachten mal kurz darüber nach, ob Banken 20 Prozent Eigenkapital halten sollten (was das System erheblich stabilisieren würde). Aber insgesamt begann eher eine Art orientierungsloser Schwebezustand.
Seitdem haben wir zehn Jahre lang fleißig wiederholt, dass wir ja alle ganz schön in der Scheiße sitzen. Dass das ewige Wachstum unlogisch sei, dass das doch alles so nicht weitergehe. Und jetzt, die lauten und klaren Alternativen, die aus diesem verfaulten, vor sich hin blubbernden Diskurs wachsen, sind eine grässlicher als die andere. Ich denke da genauso an marktradikale Macrons wie an die Neonationalist*innen.
Das Erschreckende daran ist, finde ich, dass wir die Analysen seit Jahrzehnten vorliegen haben, es fehlen schlicht die Strategien.
Wir wissen es besser, aber
Der neue Faschismus, der uns entgegen schwappt, ist nicht zuletzt eine solche Strategie, eine bindende Erzählung, die die Lücken schließt, die aufgerissen wurden. Es ist eine Reaktion auf die radikale Zerstörung der Welt, die wir alle erleben und an der wir alle etwas schüchtern, etwas hilflos den unbeteiligten Blick üben.
Mir wurde vor kurzem erklärt, dass Haie vier Massenaussterben überlebt haben, 400 Millionen Jahre. Sie haben die fucking Dinosaurier überlebt. Doch jetzt haben wir Menschen sie innerhalb von 40 Jahren auf etwa 20 Prozent ihres Bestandes dezimiert. Warum? Weil wir Haifischflossensuppe zu einem guten Preis verkaufen konnten. Weiter nichts. Wirklich: nichts.
Und so betreiben wir mit voller Energie die Haifischflossensuppisierung der Welt. Ähnliche Muster sehen wir in der Autoindustrie, in der Kohleindustrie und irgendwie auch in der neuen technologischen Entwicklung von Grenzregimes. Wir wissen es besser, doch kaum jemand sabotiert die Bagger in den Kohlegruben, kaum jemand sabotiert die Frontex-Boote, kaum jemand schneidet die Strommasten vor den Panzerhallen von Rheinmetall durch oder stoppt die Marineboote von Thyssen Krupp.
Uns ist da eine Ethik abhandengekommen. Oder, sie ist nicht abhandengekommen. Sie ist wie die Oma in der Familie, die wir ja noch pflegen und lieb haben und die immer einen weisen Rat parat hat, aber sie bestimmt nun mal den Alltag nicht.
Wenn wir in den kommenden zwei bis fünf Jahren nicht global und allgemeingültig Alternativen zum unendlichen Wirtschaftswachstum durchsetzen und die schädlichen Industriezweige in nachhaltige und menschenfreundliche Bereiche konvertieren, sind Bewegungen wie die AfD und die Identitären nur ein Symptom. Genauso wie die steigende Anzahl resistenter Bakterien ein Symptom ist, weil wir weiter massenhaft Tiere mit Antibiotika vollpumpen, um billiges Hackfleisch zu kaufen. Das sind Symptome einer Welt, die es besser wüsste, aber einfach weitermacht.
Die drohende Massenresignation
Ihr merkt, ich bin da tatsächlich wütend und verzweifelt und ich kann's verstehen, wenn ihr euch jetzt auch denkt: "Mein Gott, hör auf mit dieser Betroffenheit, wir wissen das doch alle." Ich denke aber, wir müssen dringend darüber reden, wie wir mit einer kommenden Massenresignation umgehen werden, mit einer Generation, die nicht auf ihre Eltern schauen und Hoffnung im Entschluss finden kann, es anders zu machen, sondern einer Generation, die vor irreversiblen Schäden steht. Meine Großmutter erzählte mir, wie die linke Bewegung in den 60er Jahren vor Optimismus nur so strotzte, was nach dem vorangegangenen Zivilisationsbruch schon beachtlich war. Aber was, wenn ein solcher Optimismus, aus der Geschichte lernen zu können, von den Fakten irreversibler ökologischer Zerstörung eingefangen wird? Welchen Resonanzraum kann die nächste Generation dann noch haben, außer in mentalen Protektionismus zu fliehen oder nach starken Männern zu suchen?
So, und jetzt sind wir hier im Raum angekommen. Also fast. Ich glaube, die Kunst- und Kulturförderung spielt hier eine wichtige Rolle. Was wir nämlich momentan in der NGO-Szene beobachten, sind die sogenannten "Shrinking Spaces", also die Eindämmung von Einflussmöglichkeiten genuin politischer Akteur*innen, die weder staatlich, noch wirtschaftlich getragen werden. Staatliche Repression, politischer Einfluss durch die verschiedenen Bill Gates Stiftungen und gleichzeitige Abhängigkeit von Drittmitteln, teilweise auch regelrechte Kampagnen zur Delegitimierung von NGOs durch die Murdochs und Orbáns engen den Raum politischer Handlungsfähigkeit immer weiter ein. Wir kennen das in der Kultur auch, prekäre Arbeitsbedingungen sind hier leider Alltag, da gibt es starke strukturelle Überschneidungen, die Jagd auf Haifischflossen hat viele Gesichter, und unser Bestand wird immer weiter dezimiert.
Der zivile Ungehorsam ist aktuell nur ästhetisch interessant
Zusammengefasst: Politische Arbeit wird immer wichtiger. Aber ihr fehlen die richtigen Strategien, und sie hat immer weniger Handlungsraum.
Als Peng! Kollektiv kommen wir zum großen Teil aus den sozialen Bewegungen, aus der direkten Aktion, und wir wurden sehr herzlich in der Welt der Kunst- und Kulturproduktion aufgenommen. Ich habe aber am Rande immer wieder auch Stimmen gehört, wenn wir auf Podien oder Veranstaltungen eingeladen wurden, denen es wichtig war, sich zu distanzieren: "Das sind doch keine Künstler*innen, das sind doch Aktivist*innen!" Ich finde das in Ordnung und will hier auch nicht über den Kunstbegriff streiten. Das Interessante ist, dass zivilgesellschaftliche, also genuin politische Organisationen und Stiftungen uns zwar oft beratend einladen, aber im Gegensatz zur Kulturwelt selten fördern mögen. Deutschland findet zivilen Ungehorsam anscheinend eher ästhetisch interessant.
Aber was ich mit Peng! immer gespürt habe, ist eine soziale Verantwortung, das juristische Privileg der Kunstfreiheit nutzen zu müssen. Wenn immer weniger Raum für die Entwicklung politischer Alternativen und Strategien zur gesellschaftlichen Mobilisierung existieren, dann möchte ich hier jaulen und flehend bitten: Öffnet die Pforten für Aktivist*innen, gebt ihnen künstlerisches Asyl, damit sie von hier aus, mit dem Schutz der Kunstfreiheit, in den offenen Denkräumen, gemeinsam mit den gut organisierten Produktionsleiter*innen und inspirierenden Narzisst*innen und bunten Vögeln, kämpfen können.
Ich denke da vor allem an unsere Freunde aus der Türkei, aus Thailand, aus Nigeria, aus Ghana, China, dem Libanon oder Syrien, all den Ländern, wo es wirklich eng wird. Wobei ich Deutschland von politischer Repression nicht freisprechen will – ich hatte selbst schon drei politische Hausdurchsuchungen und massenweise Morddrohungen.
Die Kunstszene bietet die notwendigen Ressourcen
Im Gegensatz zu aktuellen realpolitischen Räumen wird in der Kunst- und Kulturproduktion von uns erwartet, dass wir das scheinbar Unmögliche denken. Und diese Szene bietet so viele Ressourcen – Ideen und Sprache zu visualisieren, Beziehungen performativ erlebbar zu machen, Ideologien in ihrer Brüchigkeit unwiderstehlich und doch tödlich spürbar zu machen. Das sind Fachkräfte, die für soziale Bewegungen super wertvoll sind, die gerade wirklich dringend Unterstützung brauchen. Und auf uns kommen so viele Leute aus der Kunst zu, die einen Drang verspüren, nicht mehr zu kommentieren, sondern sich einzumischen.
Und ich meine das alles gesamtgesellschaftlich, ne? Wir haben alle viel zu tun, das ist mir schon klar.
Kennt ihr diese Diskussion um die Singularität, den Moment, wo künstliche Intelligenz sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt und wir als Menschen die Kontrolle über empathielose Maschinen verloren haben und wir dann nur noch unterdrückt und ausgenutzt werden, so wie wir selbst mit Affen und Kühen umgehen? Ganz Silicon Valley debattiert darüber, wann das wohl eintritt. Inspiriert von Hans Bernhard glaube ich, dass der Moment schon längst eingetreten ist, als wir entschieden haben, dass Unternehmen juristisch mit Personen gleichgestellt werden. Im Prinzip ist strukturell genau das passiert, wovor bei der technologischen Singularitätstheorie gewarnt wird. Die juristische Person hat sich zur nächsthöheren Lebensform entwickelt, der wir uns unterordnen und die unaufhaltbar erscheint.
Und hey, wir haben uns da historisch ganz schön verzettelt, aber diesen Punkt können wir vielleicht im Gegensatz zur steigenden Erderwärmung oder zu sinkenden Haifischbeständen noch revidieren! Das wäre doch ein erster Hoffnungsschimmer für unsere kommende Generation. Geben wir ihnen Kulturförderungen, ich erwarte dann auch die Buzzwords von Utopien, Immersionen, Authentizitäten oder Möglichkeitsräumen in ihren Förderungsanträgen – wenn sie es schaffen, dass alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens in Zukunft für Missetaten verantwortlich sind, so wie die Fluchtfahrer*innen bei Banküberfällen. Dann entsteht garantiert eine ganz andere soziale Dynamik.
Mit voller Kraft, Inszenierungen in dieser wunderschönen Kuppel des Bundestags, gespiegelt in den Plenarsaal, wochenlang. Im EU-Parlament, in allen Zeitungen, "die jungen Wilden" – wenn sowas Abstraktes wie die Liebe hoch und runter inszeniert werden kann, dann schaffen wir es doch auch, die Abschaffung der juristischen Gleichsetzung von Unternehmen mit Menschen in die Realität zu pflanzen, so dass es jede*r versteht, oder? Und ganz ehrlich, dann soll das auch Kunst heißen – oder soziales Design oder politisches Handwerk, das ist mir dann egal.
Bringt die subalternen Stimmen zu neuem Glanz
Nehmen wir die kommende EU-Wahl als Beispiel. Das wird ein Spektakel der Titanen sein: marktradikale und konservativ-liberale gegen nationalistische Kräfte aus Italien und der europäischen Alt-Right-Bewegung. Nutzt es als Theaterraum! Bringt die subalternen Stimmen zu neuem Glanz und einlullender Attraktivität! Das könnt ihr doch, oder?
George Tabori hatte die Gabe, sehr verspielt, sehr liebevoll zu arbeiten, wie ich gehört habe. Er brachte Mozarts "Zauberflöte" in ein Zirkuszelt – eine so erhabene Operngesellschaft in einem ganz neuen Kontext. Er hatte eine feine Gabe, mit einer einladenden, humorvollen und liebevollen Art Regeln zu brechen und uns dazu einzuladen mitzumachen. Davon brauchen wir mehr, und zusammen mit der Oma, die an soziale Gerechtigkeit erinnert, und dem kleinen forschenden Kind in uns können wir uns auch trauen, den Kulturraum für das völlig verrückte und verträumte, aber – und das ist mir wichtig – realpolitische Spiel zu öffnen.
Der Beitrag ist eine verschriftlichte und leicht gekürzte Fassung der Rede, die Jean Peters bei der Tabori-Preisverleihung am 25. Mai 2018 in Berlin hielt.
Jean Peters ist Mitglied des Peng! Kollektivs, einer Gruppe von Künstler*innen, Aktivist*innen, Handwerker*innen und Wissenschaftler*innen aus Berlin, die seit 2013 an neuen Taktiken und Strategien politischer Kommunikation forscht. Sie legte sich u.a. mit internationalen Geheimdiensten und multinationalen Konzernen wie Shell, Vattenfall oder Gilead an. Die Gruppe kooperiert u.a. mit dem Schauspiel Dortmund und dem HAU, stellte in mehreren Museen und bei der Berlin Biennale aus. Mit ihrer Aktion "Pretty Good Privacy" trat sie 2018 im MuseumsQuartier Wien auf.
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(Anm. Jean Peters höchstwahrscheinlich, aber auch der Redakteur vom Tage mit und freut sich immer über Lesehinweise, Christian Rakow / Redaktion)