Pera Palas - Theater für Niedersachsen Hildesheim
Auf gepackten Koffern
von Frank G. Kurzhals
Hildesheim, 15. Februar 2020. Es mutet schon rührend an, wenn Sinan Ünel im Rückblick auf sein 1997 in New York uraufgeführtes Stück "Pera Palas" schreibt: "Vielleicht war es damals naiv von mir zu glauben, dass mein Stück wie ein Olivenzweig fremde Welten versöhnen könnte. Aber eigentlich denke ich das heute noch. Ich glaube noch immer an die heilende Kraft der Kunst." Und daran scheint auch Bettina Rehm zu glauben, die das selten gespielte Stück nun für das Hildesheimer Theater für Niedersachsen inszeniert hat.
Chiffren des Heimatlosen
Weil ein Grand-Hotel, das namengebende "Pera Palas" in Istanbul, einer der Dreh- und Angelpunkte ist, kam Bühnenbildnerin Julia Hattenstein auf die faszinierende Idee, Reise-Koffern als Chiffren des Heimatlosen eine stille Hauptrolle zu geben. Über sie wird gesprungen und gestolpert, sie sind mal Podest, mal Bett oder Bank, funktionieren als Wand, als Grenze, als Wohnraum, sind Haremsausstattung und Hamam-Möbel zugleich.
Britin in Istanbul: Michaela Allendorf als Evelyn und Emma Henrici als Melek © Jochen Quast
Die großen Schrankkoffer, von Hildesheimern dem Theater nach einem Aufruf zur Verfügung gestellt, sind aus den 1920er Jahren. Sie werden ergänzt durch kleinere und mobilere Koffer aus der Zeit um 1950, als Reisende ihr Gepäck nicht mehr von Pagen und Personal tragen ließen. Und schließlich sind es die immer noch allgegenwärtigen Aluminiumkoffer der 1990er, die, gekonnt akzentuiert, den Bühnenraum füllen.
Mit diesem Requisitentrick sind auch gleichzeitig die wesentlichen drei Handlungsspielräume skizziert, in denen Ünel seine sich über nahezu ein Jahrhundert spannenden Familiengeschichten spielen lässt. Das Zeitfenster von "Pera Palas" öffnet sich am Ende des Osmanischen Reiches, also den 1920er Jahren, und schließt sich wieder 1994, im Jahr der Wahl von Recep Erdoğan zum Oberbürgermeister von Istanbul. Auf allen drei Zeitebenen entspinnen sich Beziehungen zwischen Türken und Menschen aus dem britischen bzw. amerikanischen Raum.
Besuch im Harem
Gleich zu Beginn zieht die charmante, äußerst selbstbewusste und aufgeklärt auftretende Engländerin Evelyn Crawley (Michaela Allendorf) das Publikum ins Geschehen, in ein unerhörtes Ereignis. Denn ihre junge türkische Freundin Melek, die von Emma Henrici mit fast schon ansteckender Leichtigkeit gespielt wird, bevor sie als Häuflein Elend zusammenbricht, lädt sie als Gast in einen Harem ein. Dass dieser Aufenthalt nicht gut ausgehen kann, ist Evelyn klar. Doch die Neugier, zu sehen, was Europäer bis dahin noch nicht haben sehen dürfen, siegt. Und der erwartbare "Clash of Cultures", jetzt wird er in vielen Nuancen und über noch viel mehr klare Grenzziehungen sichtbar. Zwischen Missverstehen und – noch – nicht verstehen können.
Auf der Koffer-Bühne von Julia Hattstein: Emma Henrici, Moritz Nicolaus Koch und Joelle Rose Benhamou. Im Hintergrund: Michaela Allendorf. © Jochen Quast
Fein austarierte Dialoge, einige kurze Passage auf Türkisch bleiben unübersetzt, treiben das Geschehen voran. Melek jedenfalls ist voller Vorfreude auf ihre Hochzeit, auch, wenn sie den von ihren Eltern ausgesuchten Ehemann noch nicht kennt. Das muss Evelyn Crawley empören und diese Empörung ruft sie voller Überzeugung Ali Riza Efendi, dem Vater von Melek, entgegen, der wundervoll in sich ruhend von Moritz Nikolaus Koch auf die Bühne gebracht wird. Er, der Vater, scheint auf dem schmalen Grat genau zwischen beiden Welten, der althergebrachten Tradition und der Hoffnung auf die neue Türkei, zu balancieren. Aber das hilft ihm und seiner Familie nicht, weil er in seinen Entscheidungen letztlich angstvoll der Tradition verhaftet bleibt, bis in den Tod hinein.
Ost-West-Beziehungen in drei Generationen
Sinan Ünel erzählt seine Geschichten nicht linear, das macht ihren Charme aus, stellt aber auch das Publikum vor Herausforderungen. Die nahezu gleichbleibende Kleidung hilft, Verwirrungen zu minimieren und Identität zwischen denselben Figuren, die mal in der Jugend, mal Jahrzehnte später gereift auftreten, zu markieren.
Schwule Liebe: Jonas Kling als Brian und Dennis Habermehl als Murat © Jochen Quast
Denn es wird sehr variantenreich. So gibt es zum Beispiel noch Orhan, durch Jonas Nowack als eine der tragenden Figuren im Stück gespielt, und die Amerikanerin Kathy (Rose Benhamou), die sich in den 50er Jahren kennenlernen und zum großen Entsetzen seiner Mutter, die noch die Sklaverei kannte, heirateten. Als deren Sohn Murat – Achtung, Zeitsprung! – der lange in den USA lebte, im Hotel ankommt, mit seinem schwulen Freund Brian (gespielt von Jonas Kling), kommt es zum offenen Konflikt. Zwischen dem traditionellen Vater, der in seiner Jugendzeit so liberal war, und seinem Sohn Murat.
Spätestens hier wird eine wesentliche Schwachstelle der Inszenierung deutlich, die schon zu Beginn für leichte Irritationen sorgte. Mal ist sie humorvoll bis hin zum Slapstick und zur klassischen Komödie, wie in der überzogenen Darstellung von Brian, dann wieder voller Lebensernst bis hin zur Zerstörung von Lebensentwürfen. Das geht kaum zusammen, jedenfalls nicht in der Hildesheimer Inszenierung. Die Glaubwürdigkeit der Personen leidet darunter, die Handlung ebenso. Der Ölzweig, von dem Ünel so hoffnungsvoll sprach, er wird von hier als Staffelstab wohl weitergegeben werden müssen, an die nächste Stück-Umsetzung.
Pera Palas
von Sinan Ünel
Regie: Bettina Rehm, Ausstattung: Julia Hattstein, Komposition der Bühnenmusik: Jan Maihorn, Dramaturgie: Astrid Reibstein.
Mit: Michaela Allendorf, Emma Henrici, Joëlle Rose Benhamou, Katharina Wilberg, Simone Mende, Jonas Kling, Dennis Habermehl, Jonas Nowack, Moritz Nikolaus Koch, Martin Schwartengräber, Özgür Senyer.
Premiere: 15. Februar 2020
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause
www.tfn-online.de
Kritikenrundschau
Das Ensemble zeige sich "engagiert und spielfreudig", schreibt Martina Prante in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung (18.2.2020). Dennoch benötige es für den Abend "Konzentration" und "Durchhaltevermögen", "um sich zwischen Zeiten und Figuren zurechtzufinden", wozu auch die "Textmenge und die relative Bewegungslosigkeit auf der Bühne" beitrügen. Regisseurin Bettina Rehm zeige aber "was die Charaktere und Beziehungen zwischen den Menschen betrifft und kitzelt zudem gekonnt die amüsanten Passagen heraus", so die Rezensentin.
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