Unboxing Unboxing: Bar Box - Kampnagel Hamburg
Egal, lasst uns trinken!
von Katrin Ullmann
Hamburg, 9. Juni 2020. "Eine Lieferung für Frau Ullmann?" Auf einem Klemmbrett streckt mir der Fahrradkurier – ein schlanker Mann in seriösem Beige und mit rosafarbenem Käppi – einen Lieferschein entgegen. Ich quittiere. Und nehme die Box in Empfang. Es ist Dienstagabend 23.00 Uhr. Im Rahmen des Live Art Festivals, das Kampnagel vom 9. bis 21. Juni ausrichtet, liefert das Hamburger Performance-Kollektiv Geheimagentur eine Woche lang Performances nach Hause. Ganz echte Performances, live und analog. Ich habe die "Bar Box" geordert. Vorsorglich nicht zu mir nach Hause. Ich habe sie zu einer Freundin in deren nahegelegenes Parterre-Büro bestellt.
"Drei Drinks, drei Songs, eine Begegnung"
Laut Website verspricht das Bar-Box-Format "Drei Drinks, drei Songs, eine Begegnung." Die Box, das ist ein etwa ein Meter hoher Pappkarton, der auf einem Lastenfahrrad geliefert wird. Kaum steht er vor der Tür, wird mir ein Cutter-Messer gereicht, ich schneide das Paketklebeband an den Seiten auf. Es ist feierlich.
Bar-Besuch in Corona-Zeiten © Katrin UllmannDann entfaltet sich – im Wortsinn – eine Bar. Sie besticht durch unverhohlene DIY-Ästhetik, ein ausgeklügeltes Steck-System, aber sie ist (zum Glück) längst nicht perfekt. Mit einer Teleskopstange wird ein Spuckschutz aus Plexiglas im Türrahmen befestigt, eine Tresenplatte wird auf zwei Kartonteile aufgesteckt. Die Spirituosenflaschen – Whisky, Rum und Gin – mögen wir in das uns zugewandte Ausklappfach stellen, bittet der Barmann, der gerade eben noch der Kurierfahrer war. "Könnten Sie noch die Lichterkette anknipsen?"
Jetzt werden die Flaschen beleuchtet. Schnell sieht die Gastgeberin Optimierungspotenzial, der Barkeeper signalisiert Hilfsbedürftigkeit. Mit Sandwichplatten aus Depafit, doppelseitigem Klebeband und Plexiglas werden Schwachstellen beseitigt und neue Highlights kreiert. Wir basteln munter weiter an der Bar, die jetzt fest im Türrahmen zur Straße klemmt. Ein portabler Plattenspieler wird über den Tresen gereicht. Mit ihm eine Handvoll Singles: von den Andrew Sisters über Dr. Alban bis hin zu Stevie Wonder.
Die Kolonialgeschichte des Gin Tonic
Rum Cola, Gin Tonic und Mint Julep sind im Angebot. Ein "normaler" Barmann würde diese Drinks vermutlich in die Kategorie der Contemporary Classics einordnen. Dieser Barman kann uns etwas zu ihrer kolonialistischen Konnotation erzählen. Zum Tonic Water, das die Briten in ihrer indischen Kolonie zur Malaria-Prophylaxe tranken – und bald mit Gin optimierten. Zum Mint Julep gehöre eigentlich die eigene Veranda mit Blick über die Baumwollplantagen – "Frankly, my dear, I don't give a damn." – und zu Rum natürlich die amerikanische Kolonialgeschichte und so weiter.
Doch die kolonialkritischen Inhalte werden zu großen Teilen vom Mund-Nasen-Schutz vernuschelt und: Ach, egal, lasst uns trinken! Nein, zunächst assistieren wir dem Barkeeper noch ein wenig. Wir schneiden Zitronen, dekorieren Minzstängel und legen Platten auf. Natürlich haben auch alle mitgebrachten Songs eine Bedeutung und einen Bezug zu den Drinks. Aber ach, egal, lasst uns trinken! Wann waren wir zuletzt in einer Bar? Wann standen wir zuletzt an einem Tresen?
Plätscherndes Gespräch
Tatsächlich werden an diesem Abend viele Teppiche ausgebreitet, die zu wirklich interessanten Dialogen und zu wirklich relevanten Themen führen könnten. Allein zum Einstieg erzählt der Barmann von einer vorangegangenen Begegnung in einem schicken Stadtteil in Hamburgs Westen, wo sich die Konversation angeblich um die tiefere Bedeutung von "psychologischer Morphologie" drehte.
Doch die hiesigen Gäste haben keine Lust auf Fremdwörter, auf Unverdauliches und gesellschaftlich Relevantes. Schließlich stehen wir ja an einer Bar! Also begeistern wir uns für den portablen Plattenspieler, die tolle Maske mit der eingebauten Trinkvorrichtung, die herrliche Papp-Konstruktion. Und der Barmann? Er scheint keine eigene Agenda zu haben. Er führt nicht das Gespräch, er lässt es laufen, plätschern, verstummen, wabern, irgendwo landen oder stranden. Genau wie an einer echten Bar.
Lieber Steve Wonder als fachwortlastige Gespräche © Katrin Ullmann
Als wir zum gemixten Mint Julep, einem "Südstaaten Classic", wie er anmoderiert, den Soundtrack von "Vom Winde verweht" auflegen, stehen wir kurz vor der Wahl: entweder in kitschigen und völlig unkritischen Filmerinnerungen schwelgen oder eine Reflektion über die Südstaaten, Kolonialismus und Rassismus starten. Wir nehmen die weiche Kurve. Der Alkohol hilft uns dabei. Wir zitieren Rhett Butler, erzählen uns von Zeiten, als die Cocktailbars noch geöffnet hatten – in New York und auch auf Sankt Pauli – freuen uns über die gelieferte Trickkiste, die Musik und die herrlichen Drinks. Noch einen letzten Song, noch einen Spritzer Zitrone und ach egal, lasst uns trinken! "After all, tomorrow is another day".
Unboxing Unboxing
von Geheimagentur
BAR BOX
Für: 1–3 erwachsene Personen.
Dauer: 30–60 Minuten.
Besonderheiten: Mit Alkohol.
Weitere Boxen: BOX OF BOXES, PRIVATE DANCER BOX, LOVE BOX, UTOPIA BOX, CAGE BOX
Teil der "Live Art"-Performancereihe #Zivilergehorsam auf Kampnagel Hamburg
www.kampnagel.de
www.geheimagentur.net
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ich habe mit Vergnügen den erfrischenden, aber auch bissigen
Bericht gelesen. Gegenüber drei Damen (eine davon meine Tochter)
hatte der Barmann sowieso keine Chance.
Danke Klaus Thoma
Nicht unwichtige Frage: Was kostet das pro Person?
(Anm. Redaktion: Auf der Website von Kampnagel heißt es zu den Preisen: "Tickets: 20 Euro / erm. 12 Euro / Solipreis: 100 Euro | pro Lieferung muss nur ein Ticket erworben werden, unabhängig von der Anzahl der Empfänger*innen." Auf kampnagel.de kann man die Lieferung entsprechend auch ordern, ob das auf amazon.com klappt, ist nicht detailliert ausgeführt. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)