Auf der Enke-Strecke

28. November 2021. Suizide sind nicht das unkomplizierteste Bühnen-Sujet. Lilja Rupprechts Inszenierung von Alice Birchs Stück kleidet die Erzählung über depressive Vererbung zwischen drei weiblichen Generationen in düsteren Paillettenglanz. Und gibt am Ende ein wenig Hoffnung in Hunde-Form.

Von Jens Fischer

Depression als Vererbungs- und Generationengeschichte © Kerstin Schomburg

28. November 2021. Wenn in der griesegrauen Novembertristesse die Einladung zur "Anatomy of a suicide"-Premiere erfolgt, macht man sich doch recht mulmig auf den Weg. Denn dort ist man schon mitten im Thema. Auf der Bahnstrecke Bremen-Hannover ging vor 12 Jahren der depressiv erkrankte Robert Enke, Fußballtorwart von Hannover 96, einem fahrplanmäßig auf 160 Stundenkilometer beschleunigten Regionalexpress entgegen. Anschließend stürzte sich die Öffentlichkeit auf die Anatomie des Suizids und diskutierte, was in einer Gesellschaft falsch läuft, wenn Menschen diesen Ausweg wählen.

Obwohl seit Februar 2020 verfassungsrechtlich geklärt ist, dass jeder selbst bestimmen darf, wann, aus welchem Grund und wie er aus dem Leben scheiden möchte, ist das Thema weiterhin nicht enttabuisiert und alltäglich aktuell. Jährlich töten sich in Deutschland rund 10.000 Menschen selbst. Schienensuizide werden durchschnittlich zwei bis drei pro Tag gezählt. Nicht selten auch auf der Enke-Strecke.

Letzte Strohhalme

Heute kommt der Zug unfallfrei nach Hannover. Dort wird sofort die Unfähigkeit klar, darüber ins Gespräch zu kommen. Carol (Sabine Orléans) tritt mit bandagiertem Unterarm auf. "Tut mir leid", sagt sie in trostloser Beiläufigkeit. Ihr ratlos liebevoller Gatte stottert schamvoll ums Pulsadernaufschneiden herum. Still litt und leidet Carol am unheilvollen Rollenmuster Hausfrau sowie an schmerzhaften Erinnerungen, Ängsten und erbarmungslosen Selbstzweifeln – ganz tief drinnen macht sich eine überwältigende Antriebslosigkeit breit. "Ich bringe es gerade noch fertig einzuatmen", sagt sie, zunehmend in sich zusammengesunken.

Solche Zustände der Agonie werden längst nicht mehr als Ausdruck von Willensschwäche und Disziplinlosigkeit interpretiert, sondern als psychische Erkrankung verstanden, die eine Krankheit zum Tode sein kann, was sie in Alice Birchs Stück auf tragische Weise ist.

ANATOMY OF A SUICIDE; von Alice Birch; REGIE Lilja Rupprecht; BÜHNE Anne Ehrlich; KOSTÜME Annelies Vanlaere; VIDEO Moritz Grewenig; MIT Robin Alberding; Sebastian Jakob Doppelbauer; Mathias Max Herrmann; Caroline Junghanns; Irene Kugler; Alban Mondschein; Sebastian Nakajew; Sabine Orléans; Fabian Ristau; Nils Rovira-Muñoz; Amelle Schwerk; Safak Sengul"Mutterglück" © Kerstin Schomburg

Carol ließ Elektroschocks und Psychotherapie über sich ergehen. Nun greift sie zum letzten Verbindungsstrohhalm zur Welt und fügt sich dem gesellschaftlichen Gebot der Mutterschaft. Aber das paralysierende Gefühl bleibt. Trotzdem hält sie tapfer bis zum Schulabschluss der Tochter durch. Dann wählt Carol wie Robert Enke den Schienensuizid. Die Selbsttötung war keine Option, sondern Notwendigkeit.

Atriden auf Prozac

Dabei belässt es die Autorin nicht. Sie erzählt parallel auch die Geschichten der Tochter Anna und Enkelin Bonnie. Laut Birchs Stück werden Erfahrungen mit der suizidalen Mutter als soziale Prägung weitergegeben. Wie in antiken Dramen, wo Kinder oder ein ganzes Atridengeschlecht für und mit den Sünden der Väter gestraft werden, gelingt es hier der weiblichen Erbfolge nicht, die Suche nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und erfüllendem Leben depressionsfrei zu gestalten.
Anna (Amelle Schwerk) versucht als Glamourgirl im Glitzerkleid die innere Leere mit Sex, Partys und Drogen zu betäuben, lässt sich auch auf fatale Beziehungsmuster inklusive Kinderkriegen ein – und gibt dann entkräftet ihr Leben auf. Tochter Bonnie (Caroline Junghans) ist eine unsicher augenklimpernde, anhedonisch mürrische Ärztin. Nähe erträgt sie nicht. Familie ist ihr ein Graus und Gebärfähigkeit zuwider. Isolation macht sie hart. Aber auch eiskalt zur Terminatorin des Familienschicksals. Um ganz sicherzugehen, dass mit ihr die Depressionsfortpflanzung endet, lebt sie lesbisch und will sich sterilisieren lassen.

In Katie Mitchells Inszenierung des Stücks am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gab es drei dezent möblierte Bühnenbereiche, in denen die drei Lebenswege gleichzeitig nebeneinander gespielt wurden. Ein sehr übersichtliches Theatertriptychon. Lilja Rupprechts Inszenierung im Schauspielhaus Hannover blendet nun alles ineinander, während auf dem tödlich schillernd mit schwarzer Lackfolie ausgelegten Bühnenboden immer wieder transparente Räume zusammengeschoben und als Leinwand für Live-Video-Nahaufnahmen und Paillettenschimmer genutzt werden. 

ANATOMY OF A SUICIDE; von Alice Birch; REGIE Lilja Rupprecht; BÜHNE Anne Ehrlich; KOSTÜME Annelies Vanlaere; VIDEO Moritz Grewenig; MIT Robin Alberding; Sebastian Jakob Doppelbauer; Mathias Max Herrmann; Caroline Junghanns; Irene Kugler; Alban Mondschein; Sebastian Nakajew; Sabine Orléans; Fabian Ristau; Nils Rovira-Muñoz; Amelle Schwerk; Safak SengulAmelle Schwerk als äußerlich glitzernde Anna © Kerstin Schomburg

Im Vergleich zu Hamburg ist diesem Durcheinander viel schwerer zu folgen, Figuren und Erzählungen verlieren an Kontur und die Aufführung an Spannung. Der mit Stichworten rhythmisch getimte Text wird nicht in einen musikalisch präzisen Sprachfluss übersetzt, sondern kommt in einer recht abgehackten Diktion zu Gehör.

Faszinierend verzahnt aber bleibt die Wortpartitur, wenn Sätze aus der einen wie Antworten aus einer anderen Szene klingen, Formulierungen mehrerer Personen synchronisiert sind oder Diskurse, Situationen und Charaktere unheimliche Echos in den unterschiedlichen Zeiträumen erzeugen. Als Ausdruck ihres Entsetzens, nicht mutterglücklich korrekt zu empfinden, skandiert Carol in einer vergeblichen Befreiungstanzszene immer wieder "mein Kind", während sich Anna für einen Dokumentarfilm des Freundes ihr Drogenelend von der Seele redet und Bonnie in ruckelige Selbstumarmungskrämpfe versinkt. In solcher Gegenüberstellung und Spiegelung wird die Form zum Inhalt und behauptet, wie die Biografien der Frauen zusammengehören, ja, geradezu ausweglos einander bedingen.

Besorgt euch 'n Haustier

Allein zurück bleibt schließlich Bonnie. Da hat die Regisseurin Mitleid und jagt einen schnieken Hund über die Bühne, der an der Einsamen liebäugelnd schnuppert. Ein Wink mit dem Zaunpfahl für Menschen, die nicht mit Menschen leben wollen: besorgt euch ein Haustier zur knuddeligen Zweisamkeit. Ob das zur Depressionshilfe taugt? Fraglich. Fraglos taugt die Inszenierung zur Verständigung über die Krankheit. Da die Darstellerinnen ihre Schmerzensfrauen als Menschen tiefenscharf ernst nehmen, kann sich das Publikum prima hineinfühlen – auf dass uns vielleicht demnächst mal die stumme Verzweiflung einer Depressiven nicht erst beim Quietschen der Zugbremsen hörbar wird.

Anatomy of a Suicide
Von Alice Birch
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Annelies Vanlaere,
Musik: Fabian Ristau, Video: Moritz Grewenig, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Robin Alberding, Sebastian Jakob Doppelbauer, Mathias Max
Herrmann, Caroline Junghanns, Irene Kugler, Alban Mondschein, Sebastian Nakajew, Sabine Orléans, Fabian Ristau, Nils Rovira-Muñoz, Amelle Schwerk und Safak Sengul.
Premiere am 27. November 2021
Spieldauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Lilja Rupprecht erzähle die Geschichte dreier Frauen, die mit den Konventionen ihrer Zeit zu kämpfen hätten, schreibt Kevin Hanschke von der FAZ (29.11.2021). "Die Leben der drei werden auf der Bühne gezeigt, mit all den Enttäuschungen, die ihnen Schulkameraden, Männer und die Gesellschaft zugefügt haben, aber auch mit den Versuchen, die Depression zu überwinden, beispielsweise durch Psychotherapie und Medikamente."

"Meisterhaft, wie eine Fuge, ist dieses Stück konstruiert. Man muss diese Fuge zum Klingen bringen, und das tut dieses große Ensemble", schreibt Stefan Gohlisch von der Neuen Presse (29.11.2021). Die Inszenierung gehe seinem Thema nie leichtfertig, aber doch überraschend leicht um.

Das Stücke erzähle von dem Prinzip, "dass große Verstörungen wie Missbrauch, Suizid, Verbrechen und Krieg sich über Generationen in den Familien fortsetzen und erst durchbrochen werden können, wenn sie nicht mehr verschwiegen werden", schreibt Bert Strebe in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (29.11.2021). Lilja Rupprecht leite die Zuschauer:innen auf leichte Weise durch die schwere Thematik. Sie lasse das Stück oszillieren und finde wunderbare Bilder.

 

 

 

 

Kommentare  
Anatomy of a Suicide, Hannover: Vergleich mit Hamburg
Jens Fischer sieht die Hamburger Inszenierung als übersichtlicher an. Die drei Frauenfiguren seinen klar abgegrenzt und das "sehr übersichtliche(s) Theatertriptychon trage" trage zum Verständnis bei. Für mich kommt die Inszenierung von Lilja Rupprecht der Problematik viel näher. Klare Abgrenzungen sind nicht gefragt, vielmehr greifen die Gedanken, das Streben nach Identität der Subjekte ineinander. Ja, das Durcheinander der Sätze ist für den Zuschauer anstrenden, aber ja auch "faszinierend" - wie Fischer es wohl auch empfand. Glückwunsch an das gesamte Team!
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