"Wozu bitte Kunst?"

10. März 2022. Anna Wagner und Marcus Droß übernehmen die Leitung des Frankfurter Mousonturm. Das Duo stellt Grundsatzfragen, treibt machtkritische Praxen voran und strebt nach einem resilienten Theater.

Von Esther Boldt

Marcus Droß, Anna Wagner © Maximilian von Lachner

10. März 2022. Die Nachricht ist überraschend: Anna Wagner und Marcus Droß werden ab 1. September 2022 das Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm leiten. Dies beschloss der Aufsichtsrat des Hauses auf den Vorschlag der Kulturdezernentin und Aufsichtsratsvorsitzenden Ina Hartwig (SPD). Vorausgegangen war dieser Entscheidung ein langes Schweigen. Im September 2021 wurde bekannt, dass Matthias Pees bereits in diesem Sommer als Künstlerischer Leiter an die Berliner Festspiele wechselt. Lange äußerte sich die frisch wiedergewählte Kulturdezernentin Ina Hartwig nicht öffentlich zur Personalie. Der Koalitionsvertrag der Stadtregierung aus Grünen, SPD, FDP und Volt hält fest, dass es bei der Besetzung von Leitungspositionen allein bei Ensemblehäusern künftig divers besetzte Findungskommissionen geben soll. Sprich: bei Schauspiel und Oper Frankfurt. Alle anderen, auch die Museen, kann die Kulturdezernentin weiterhin im Alleingang besetzen.

Ein klares Bekenntnis zu einer transparenten Kulturpolitik sieht anders aus. Warum öffentliche Ausschreibungen, beispielsweise, in Deutschland bei solch wichtigen öffentlichen Posten nicht längst Gang und Gäbe sind, ist unbegreiflich. Nun hat sich die Kulturdezernentin für eine Hausberufung, wie man in der Wissenschaft sagen würde, entschieden: Marcus Droß gehört seit 2012 der Dramaturgie des Mousonturm an, Anna Wagner seit 2014. Droß hatte, in einem Dreierteam, bereits 2012/13 interimistisch die Leitung des Hauses inne. Die Teamlösung stand auch damals schon im Raum. Doch der damalige Kulturdezernent Felix Semmelroth (CDU) holte den Dramaturgen und Kulturmanager Matthias Pees nach Frankfurt.

Mut zur Doppelspitze

Jetzt, knapp zehn Jahre und einige machtkritische Diskurse später, sind Teamleitungen und Doppelspitzen denkbarer geworden – und, mehr noch, Praxis: Am Hessischen Landestheater Marburg beispielsweise, das Carola Unser und Eva Lange seit 2018 sehr erfolgreich gemeinsam leiten. Gern hätte man mit Kulturdezernentin Ina Hartwig über den Prozess und ihre Entscheidung gesprochen, doch sie stand leider kurzfristig für ein Gespräch nicht zur Verfügung. In der Pressemitteilung heißt es, sie verspreche sich "von diesem Modell […] neue Akzentsetzungen auf inhaltlicher und institutioneller Ebene". Wagner und Droß hätten das Haus entschieden mitgeprägt und "greifen auf diese fundierten Erfahrungen und Kompetenzen zurück, wenn sie künstlerisch und institutionell notwendige Transformationsprozesse entwickeln und umsetzen".

Die Berufung aus dem Team des Mousonturms heraus fordert das Narrativ von Bruch und Neuanfang heraus, das mit dem sogenannten Intendant:innen- Karussell zwangsläufig einhergeht. Im Gespräch räumt Anna Wagner ein, dass auch sie mit der Erzählung aufgewachsen sei, der Theaterbetrieb erfordere alle acht bis zehn Jahre einen Wechsel. Aber: "Warum eigentlich? Die Welt bewegt sich, der Mousonturm bewegt sich!" Im Interview mit Wagner und Droß wird rasch klar, dass ihre gemeinsame Künstlerische Leitung und Geschäftsführung beides bringen wird: Kontinuität und Neuanfang.

Konzentrierte Vielstimmigkeit

Sie verstehen ihr Haus als "Interface", ein Begriff, den sie gerade ausprobieren, um die Öffnung gegenüber verschiedenen Gruppen und Protagonist:innen zu beschreiben, die sie sich wünschen. Dabei sehen sie sich weniger als profilgebende Köpfe an der Spitze einer Institution denn als Gastgebende, als Netzwerker:innen, die Prozesse beobachten, moderieren, forcieren, aber auch neue Verbindungen schaffen. Und sei es zwischen den stets leise konkurrierenden Nachbarstädten Frankfurt und Offenbach: Auch mit der Mitwirkung von Wagner und Droß ist es gelungen, in den nächsten anderthalb Jahren zwei große Theaterfestivals in die Region zu holen. "Theater der Welt" wird 2023 in Frankfurt und Offenbach stattfinden, getragen jeweils von einer Reihe von Institutionen, "Politik im Freien Theater" 2022 in Frankfurt. Ohnehin muss man sagen, dass das Programm des Hauses zurzeit enorm interessant ist, von Milo Rau bis Walid Raad reicht, von konzentriertem Tanz zu zeitgenössischer Musik, über Ausstellungen und Lectures sowie Workshops, die neuerdings als Vermittlungsformat erprobt werden. Diesen Leitplanken konzentrierter Vielstimmigkeit, die sich entschieden in der lokalen Szene verortet, bei sehr guter nationaler wie internationaler Vernetzung, würde man gern weiter folgen.

Im Unterschied zum klassischen Intendanz-Modell interessiert Anna Wagner und Marcus Droß das Theater weniger als Ort, dem sie ihre eigene Vision, ihre eigene Handschrift einprägen, denn als "Verhandlungsort, an dem auch die alte Frage: 'Wozu bitte Kunst?' immer neu, auch kontrovers und widersprüchlich, ausgehandelt wird", so Droß. Wobei es wichtig sei, dass es nicht bei der Vision bleibe, dass aus der Diskussion eine Praxis werde: Es gelte, eine Fülle von Formaten zu entwickeln, die jeweils unterschiedlich mit der Stadtgesellschaft denken, auf diese zugehen. Prozesse, die Wagner und Droß am Haus mit initiiert haben, wollen sie weiterführen und vertiefen – wie beispielsweise das machtkritische und diskriminierungssensible Arbeiten, das in den letzten Jahren auf struktureller Ebene begonnen wurde. "Wir möchten es zum Teil der Struktur selbst machen“, sagt Droß, "vor der Pandemie hätte ich gesagt: sie damit infizieren." Und Wagner ergänzt: "Die ‚lernende Organisation‘ ist ein sehr zentraler Begriff für uns."

Resiliente Institutionen

Noch so ein Begriff, den Wagner gerade ausprobiert, ist der der resilienten Institution. Was das sei? Sie zögert erst, und weiß es dann doch sehr genau: Eine Institution, die nicht nur von Event zu Event denkt, sondern die sich Zeit nimmt für Entwicklung. Eine Institution, die im Kontakt ist, auch mit dem Publikum. Eine Institution, die Psychohygiene betreibt, die eine tolle finanzielle Ausstattung hat und Räume, die nicht prädefiniert sind, sodass nicht nur reproduziert werden kann, was es schon gibt. Eine Institution, die eher elastisch ist als flexibel, denn: "Ein elastischer Organismus ist dehnbar und formbar, reagiert auf seine Umwelt ohne seine Kontur, seine Gestalt vollkommen zu verlieren."

Das Wort Empathie fällt mehr als einmal im Gespräch – auch das ist neu im sonst sehr machtbewussten, profilorientierten Prozess eines Intendanzwechsels. Beiden, das wird rasch klar, ist wirklich daran gelegen, eine Kulturinstitution zu leiten, die sich eng mit anderen Protagonist:innen, regional wie international, vernetzt und verzahnt, die sich einmischt und öffnet, Möglichkeiten schafft und Sichtbarkeit. Auch wenn die öffentliche Debatte darüber, was die Stadt von ihren Kulturinstitutionen eigentlich erwartet, welche Rolle diese spielen (sollen) in der Stadtgesellschaft, im Prozess leider einmal mehr übersprungen wurde: Die Berufung von Anna Wagner und Marcus Droß ist zweifelsohne eine höchst spannende.

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