Presseschau vom 14. Juni 2010 – ein Zwischen-Überblick zu den Wiener Festwochen in der taz

Im Land der alten Männer

Im Land der alten Männer

Wien, 14. Juni 2010. "Theater ist das Land alter Männer und ihrer Fantasien", beginnt Uwe Mattheiss seinen Zwischenbericht von den Wiener Festwochen in der taz (14.6.2010). Diesen Eindruck vermitteln ihm zumindest die langen Abende des Festivals: Robert Lepage rette in "Lipsynch", "einer neunstündigen moralischen Anstalt, ein armes nicaraguanisches Mädchen vergeblich vom Hamburger Strich". Auch Luc Bondy kümmere sich in "Helena" um "gefallene griechische Frauen" und führe noch einmal "den Krieg um die Schönheit". Frank Castorf lote in seiner "Drei Schwestern"-Adaption immerhin "nicht nur weibliche Hysterisierungspotenziale aus", sondern entdecke "die prekarisierten bürgerlichen Intellektuellen als Erben des von Marx und Engels verachteten Lumpenproletariats".

Doch "warum ist das alles so fade?", fragt sich der Kritiker. Er vermutet, dass die "Festivals selbst als Präsentationsformate immer mehr infrage geraten". Die Aura von "barocken Ereignisproduktionen (...), die dem Theater der Welt einen großen Bahnhof bereiten" schwinde "im Zeitalter digitaler Kommunikation und Billigtickets nach überall" zusehends.

Zum Glück gebe es allerdings auch Positives zu vermelden: Das von Obsoleszenz bedrohte Format des Festivals könne sich "aus sich selbst erneuern, aus Bereichen, die es bislang als marginale wahrnimmt. Abseits ihrer sinnstiftenden Theaterhochämter waren und sind Festivals immer auch Zonen der Auseinandersetzung mit künstlerischen Positionen jenseits der exportstarken europäischen Literatursprachen und der einfach googlebaren Entitäten, Orte, an denen es möglich ist, sich Fremdem auszusetzen, ohne es sogleich als das Exotische in europäische Bewertungssystem zu konvertieren."

Beispielhaft hierfür seien die Produktionen "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" der estnischen Theatermacher Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper vom Teater NO99 und "Where were you on January 8th?" von Amir Reza Koohestani. Während der Talliner Beitrag "in Screwballgeschwindigkeit unter Verwendung des gesamten Registers guten und gut gemachten schlechten Theaters die Bedingungen der Möglichkeit von Kunstproduktion" reflektiere, führe Koohestanis Abend "in die bleierne Zeit iranischer Gegenwart" und zeige einen Bedeutungswandel des "Begriffs von autonomer Kunst". Dabei sei "Where were you..." keine "aktionsreiche, mitunter heldenhafte Schilderung von Ereignissen der jüngsten Studentenproteste, sondern eine präzise Beschreibung der Verhältnisse, aus denen sie sich hervorgestemmt haben".

 

Mehr zu Robert Lepages Lipsynch, Luc Bondys Helena, Frank Castorfs Nach Moskau! Nach Moskau! und Tiit Ojasoos/Ene-Liis Sempers Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt.

 

 

Kommentare  
Mattheiss über Wiener Festwochen: unerwartete Aufmerksamkeit
Seltsam, wie auch hier ein Kritiker seine subjektive Meinung zur obejktiven Analyse aufbläst. Gerade bei Lepage und Castorf habe ich begeisterte Zuseher gesehen (Auch weniger zufriedene...) und nach den jeweiligen Vorstellungen noch lange mit Freunden darüber geredet; über die Inhalte ebensosehr wie über deren ästhetische Vermittlung. Insofern ist der Ausdruck "sinnstiftende Theaterhochämpter" einfach nur unerträglich - viele haben die Abende als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung begriffen, ob von den bekannten Größen oder unbekannten Gruppen. Das ist - abseits der Kritikerkaste - das Schöne an diesem Festival, dass Aufmerksamkeit oft unerwartet entsteht und Produktionen ins Zentrum rücken, ob "groß" oder "klein". Langeweile dürfte da wohl eher der prfessionell-zynische Kritiker empfunden haben; wobei ich dann eher über die Vorstellungswelt des Kritikers nachdenke, als über die Produktionen. Ich werde den Eindruck nicht los, hier ist einer vom Zusehen genervt und ruft dann eben die für ihn noch unbekannten Produktionen zur Rettung aus. Ein Festival wie die Festwochen - das noch dazu lange sechs Wochen dauert - hatte aber nie den Einen Ansatz und die eine Rettung: Viel mehr ist es mitlerweile fast die einzige Institution, die den vielen Zuseherinnen und Zusehern ein Nachdenken auf internationaler Ebene erlaubt - ob Lepage und Castorf oder chelfitsch und Ojasoo/Semper.
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