12Karamasows - Kristian Smeds geht mit Rockern und Schockern auf Dostojewski los
Das Klischee im Tollhaus
von Eva Biringer
Hamburg, 6. Dezember 2011. Erinnert sich noch jemand an die finnische Gruselcombo Lordi, Sieger des Eurovision Songcontests 2006? Abgesehen davon, dass die Musiker hier statt Zottelmähne Kronen aus Pappkartons auf dem Kopf tragen, ist die Ähnlichkeit frappierend. Auch im Kampnagel wird gegrölt und geheadbangt, werden die Instrumente so mustergültig malträtiert, dass jeder Hardcore-Rocker seine helle Freude hätte. Wie war das gleich mit den nordischen Klischees? Und war da nicht was mit Dostojewski?
"12Karamasows" ist der Beitrag des finnischen Regisseurs Kristian Smeds zum Nordwind Festival. In Workshops mit Schauspielstudenten nahm er Dostojewskis 1879/80 erschienenen Roman "Die Brüder Karamasow" auseinander, um ihn "als szenisches Rockkonzert wieder zusammen zu setzen". Viel ist nicht davon übriggeblieben. Statt Dostojewskis existentiellen Fragen nach Schuld, Sühne, Liebe und Hass zu verhandeln, verzerrt Smeds seine Figuren bis zur Unkenntlichkeit und setzt diese in ein Tollhaus, dem selbst ein Sinn für subtilen Trash abgeht.
Steigerung der Geschmacklosigkeiten
Auf einer Bühne warten Instrumente auf ihren Einsatz: Schlagzeug, Blockflöte, E-Gitarre. Die rechteckige Fläche davor, um die sich die Zuschauerreihen gruppieren, erinnert an einen Boxring (Bühne: Jani Uljas). Tatsächlich gehen die hereinstürmenden Männer erst mal mit brachialer Gewalt aufeinander los. Ihre grotesken Ganzkörperpappgewänder wirken wie das Ergebnis eines Besuchs im Baumarkt oder eine Reminiszenz an die bösen Buben von Deichkind. Auch die sechs Frauen in Schottenrock und Netzstrümpfen sind sich fürs Catchen nicht zu fein. Völlig zusammenhanglos rezitiert das Ensemble anschließend Passagen aus Dostojewskis Erzählung und bemüht immer wieder die "hitverdächtigen Balladen", um die per se kraftvollen Texte des Originals in kaum erträglichen Lärm zu verwandeln.

Nach der ersten Pause beherrscht ein militärischer Drill die Atmosphäre. In der Mitte steht jetzt ein Tisch, an dem sich die Schauspielerinnen wie zum letzten Abendmahl aufreihen, in ihrer Mitte ein sadistischer Offizier, der zwischen großen Schlücken Whiskey die Männer zu seinen Füßen wie Hunde hecheln lässt. Die Damen machen sich derweil mit Messer und Gabel über dessen Sohn her und veranstalten zu den Klängen von Tschaikowskis "Nussknacker"-Suite ein Besteckballett auf seinem halbnackten Körper. Als man schon meint, eine Steigerung der Geschmacklosigkeiten sei nicht mehr möglich, kommt es zu einer Folterszene, die latentes Missfallen in entsetze Ablehnung verwandelt: Ein Mann, zuvor durch Klatschen des ahnungslosen Publikums bestimmt (jaja, das ist die Kehrseite der Demokratie), wird auf dem Tisch festgeschnallt, angespuckt, mit Pappröhren geschlagen und mit flüssigem Wachs übergossen.
Warum Dostojewski?
Im dritten und letzten Teil arbeitet sich das Ensemble an Hermann Nitschs Orgien- und Mysterientheater ab. Unnötig zu erwähnen, dass dabei viel Wein und Kunstblut fließen, ein kreuztragender Christus sexuelle Nötigungen erdulden muss, alles begleitet von pathetischen Chorälen. Den finalen Brechreiz löst ein frisches Herz aus, das vor den Augen der Zuschauer gebraten wird und dessen Geruch sich zuverlässig in der Kleidung festsetzt. Da findet man den Wodka, den die völlig enthemmten Schauspieler anschließend ins Publikum spritzen, beinahe harmlos. Wenigstens macht der keine Flecken.

Smeds hat seinen Nietzsche gelesen. Ein dionysisches Fest will er dem Zuschauer bereiten mit Lärm, Blut, Völlerei und Ekstase. Heraus kommt ein spannungsarmer, in seinen schlimmsten Momenten widerlicher Abend, der sich zäh über beinahe fünf Stunden zieht. Bemerkenswert, wie das gesamte Ensemble durchweg an seiner physischen Grenze agiert – mit unbändiger Spielfreude, der kein peinlicher Regieeinfall etwas anhaben kann.
Am Ende stellt man sich drei Fragen: Warum werden im Rahmen eines Festivals wie Nordwind, das es sich zur Aufgabe macht, einen unverstellten Blick auf die "vitale Kunstszene des Nordens" zu werfen, Uralt-Klischees so unreflektiert aufgewärmt, dass man sich in seiner Vorstellung von einem rauen Norden, wo der Wodka in Strömen fließt, die muskulösen Männerkörper von Bärenfellen gewärmt werden und Musik meistens nach Lärm klingt, bestätigt fühlt? Warum muss ausgerechnet Dostojewski dafür herhalten? Und warum müssen nach einem Abend im Theater die Ohren fiepen wie nach einem Lordi-Konzert?
12Karamasows
Konzept und Leitung: Kristian Smeds, Bühne: Jani Uljas, Komponist-Dirigent: Ismo Laakso, Licht und technische Leitung: Teemu Nurmelin.
Mit: Jim Ashilevi, Kait Kall, Ott Kartau, Katre Kaseleht, Liis Lindmaa, Loore Martma, Maili Metssalu, Madis Mäeorg, Tõnis Niinemets, Mari Pokinen, Ivo Reinok, Marion Undusk, Ragne Veensalu, Siim Sups.
www.kampnagel.de
www. nordwindfestival.de
Ein "wenig andächtiges 'Abendmahl'" veranstalte Kristian Smeds, der "Messias der finnischen Theatermoderne", mit diesem Dostojewskij-Abend, schreibt der nicht namentlich genannte Autor des Hamburger Abendblatts (8.12.2011) in seinem knappen Bericht zum Auftakt des Nordwind-Festivals. Von Dostojewskijs Roman seien "nur Rudimente" erkennbar, die Einlagerungen von Tschechows "Drei Schwestern" nach der Pause blieben rätselhaft. "Die musikalisch vielseitig talentierten Performer" würden die Zuschauer auch zu "Mitakteuren und Mitschuldigen ihrer Massaker" machen.
"Beeindruckende Energie entfesseln Kristian Smeds und seine estländischen Schauspielschüler", so Klaus Irler und Robert Matthies im Nordteil der taz (9.12.2011). Auf der Suche nach dem Karamasow in uns allen, werden statt Rollen festzulegen, diese durcheinandergewirbelt, "zu den Brüdern kommen Karamasow-Schwestern, talentierte Schauspieler verwandeln sich in Schlagzeuger, Geigerinnen und Sänger, die nicht minder überzeugend ihre selbstgeschriebenen Songs rocken – von Balladen über wüsten Death Metal bis zu Postpunk." Und wer in der nächsten Szene den Dmitri, Iwan oder Alexej gibt, werde schon mal vom Publikum bestimmt, "das umso betretener mit ansehen muss, wie der Erwählte kurz darauf von den Verlierern auf den Tisch gefesselt, beschimpft, gequält und gedemütigt wird". Fazit: Smeds habe das Theater vielleicht nicht neu erfunden, "aber einem Dutzend junger Menschen, den '12 Karamasows', den Mut und die Mittel mitgegeben, das irgendwann selbst in die Hand zu nehmen."
"Angesichts der überbordenden und gleichsam feinsinnigen Gestaltung seiner Inszenierung" erscheine Smeds "wie das lebendige Understatement im Holzfällerhemd", schreibt Stephanie Drees in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2011). Unter der oft leichten, manchmal trashigen Ästhetik werde ein ernsthafter Existenzialismus verhandelt. "Es ist ein Sich-Hineinwerfen in die großen Fragen der Menschheitsgeschichte. Eine Suchbewegung, die das Publikum einfangen soll. Humor ist wichtig, Zynismus wenig angesagt." Es gehe um Vatermord, Sühne, Glaube und Rache. "Welcher Karamasow auf den Tisch geschnallt und geschlagen wird, darf das Publikum entscheiden. Nach viereinhalb Stunden kann man dem finalen, familiären Frieden beiwohnen und hat eine der stärksten Inszenierungen des Festivals gesehen."
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Diese Behauptung stimmt nur dann, wenn man auf Worttheater und Figuren hofft, die in historischen Kostümen stecken während sie Dostojewskis Originaltext deklamieren.
Meiner Empfindung nach ist der Tonfall der Kritik
Krisitan Smeds hingegen legt Wert auf eine Übertragung des Sujets auf emotionale Intensitäten unter starker Einbeziehung des Publikums, das zum Mittäter wird, Folteropfer wählt, den ersten Stein auf eine Lüsterne wirft, das zu quälende Pferd fixiert etc.
Drei Prädikate sind es, die das Stück beschreiben: Packend, mitreissend, intensiv...