Kabale und Liebe - Jasper Brandis untersucht am Staatstheater Oldenburg das Knuffen als Kommunikationsmittel
Halbglas und Pullunder
von Tim Schomacker
Oldenburg, 7. Juni 2012. Halbwelt und Halbweste wohnen nicht weit von einander entfernt. Schillers präsidialer Haussekretär Wurm trägt den Abend über ein gutes Dutzend Pullunder auf. Grüne und gelbliche, glatte und gerippte, solche mit und solche ohne Stickemblem überm Herz. In Jasper Brandis Version des Schiller-Klassikers faltet und wechselt und trägt Denis Larischs Wurm die ärmellosen, auch Halbwesten genannten Kleidungsstücke mit derartiger Hingabe, man müsste die Augen verschließen, um nicht zu merken, dass die Ärmellosigkeit hier als Generalmetapher dient.
Flexibel angesiedelt zwischen Mumm und Verantwortungsbewusstsein, fungieren Wurms Pullunder als strukturierendes Element. Ist es ein Wunder, dass Wurm, den Larisch als dezenten Drahtzieher auslegt, ausgerechnet in der Begegnung mit der all- und also auch seinerseits verehrten Bürgertochter Luise Miller einzigmalig sein ganzes Halbwestenarsenal offenlegt? Er blitzt ab, auch weil er anderes nicht kennt, als das was dieses Stoffstück ausdrückt: Unmodisches und Verzweiflung.
Kalkül und Traumschiff
Wie passend, dass dieses Kleidungsstück die Hemdsärmel frei lässt, so dass man diese nicht hochkrempeln zu brauchen scheint, einerseits, aber manch Knuff und Piekserei um so schneller und schmerzhafter ans Ziel kommen. Regisseur Brandis entdeckt uns zweierlei an diesem Abend: Dass nämlich Knuffe und andere Handlangungen ein probates Kommunikationsmittel sind in dieser namenlosen Residenzstadt, in der Musikantentochter und höfischer Spross zusammen erst nicht kommen können, dann wollen. Und dass man, zweitens, Schillers bürgerliches Trauerspiel deutlich in Richtung Boulevard schrauben kann – ohne dabei Originaltext oder dramatisches Konstrukt aus den Augen zu verlieren. Entsprechend kurzweilig zeigt sich dieser Klassikerabend, für den man "Kabale und Liebe" eigentlich mit Kalkül und Leidenschaft übersetzen müsste. Auch oder gerade weil einen der ausdauernd eingespielte Easy Listening-Mambo sowie zahlreiche Gesten – Knuffe in allen Spielarten und Lebenslagen – immer wieder in eine gegen den Strich gebürstete "Traumschiff"-Episode hineinzuschieben scheinen.
Im Kostüm des Risikokapitals
Brandis unterwirft das Emotionale einem Wertgesetz, streicht mit dem Inszenierungs-Marker jene Stellen grellgelb an, an denen schon Schiller die Liebe als Zahlungsmittel zeichnet. Das Ausstatterinnen-Duo Katrijn Baeten und Saskia Louwaard hat dafür das Personal passend eingekleidet: neben Wurms Pullunder-Manie rüsten sie etwa den Präsidenten von Walter als rosafarben polohemdbewehrten Neureichschnösel aus (Thomas Birklein gibt ihn mit der halbseidenen Selbstgewissheit eines Dampfplauderers, der gerade sein Ein-Euro-Shop-Imperium gewinnbringend verkauft hat) oder assistieren stofflich der in die Jugendjahre gekommenen Tennisleidenschaft von Sohn Ferdinand.
Wenn dieser (Henner Momann) seiner holden Luise zuhaucht "Ich fliege nur her", denkt man eher an einen Privatjet als an ein romantisches Unterfangen. Und beim Versuch, die väterlich strategische Verbandelung mit Lady Milford im Vier-Augen-Gespräch zu verhindern, kann er nicht umhin, einen imaginären Longlineball durch deren Salon zu zirkeln. Durchaus passend, dass er am Schluss selbst nicht mehr zu wissen scheint, warum Luise und er nun eigentlich sterben sollen oder wollen oder müssen. Momanns Ferdinand verheddert sich in der Sprösslingsrolle – weiter entfernt von Im-Tod-endlich-barrierefrei-Vereintsein à la Novalisromantik und näher dran an verbranntem Risikokapital war ein (Liebes?)Tod selten.
Bühne mit Gegensprechanlage
Vor allem aber ermöglicht Baetens und Louwaards Bühne Brandis' Text- und Gesten-Mikroskopie. Atmet der Raum anfangs den zweifelhaften Charme altgedienter Betriebskantinen und karger Verwaltungsflure – Halbglastür reiht sich an Halbglastür; die Liebe ist hier in erster Linie Verwaltungsakt – entpuppt das Gebilde sich zugleich als geschickt gebautes Rollcontainersystem und Stück-Stütze. So schiebt Wurm die Bürgers-Eheleut' Miller zu Beginn in die Bühnenmitte. Auf zwei lehnenlosen Plastikstühlen mit Kunstrasen drunter und Plüschhasen im Drahtgeviert, zelebrieren Thomas Liechtenstein und Caroline Nagel das – liebevolle wie kalkulierte – Gezänk um der Tochter Zukunft.
Wurm reicht später, den Telefonhörer am Ohr, aus der kaum geöffneten Bürotür die Pistole an den scheinbar gehörnten Ferdinand. Und der Hofmarschall von Kalb (in hinreißend breitgetretener Udolindenbergiade sein wehrloses Eingespanntsein ins Ränkenetz wegschnoddernd: Klaas Schramm) posaunt die Kunde von der – offensichtlich strategisch platzierten – Verlobung Walter jun. mit Lady Milford durch die Gegensprechanlage.
Tot an der Scheibe
Bleibt Luise. Kristina Gorjanowa führt sie nach außen unscheinbar, im stets gleichen klargeschnittenen grünlichen Hauskleid über die Bühne. Ihre Bildung von Kopf und Herz muss sie selbst besorgen. Weil so keiner verstehen kann, was sie eignetlich von sich und für sich will, erscheint sie von außen als graue Maus. Bis, standesübergreifend, einigen die dezente aufgeklärte Morgenröte ihrer Position dämmert – aber dann ist sie bereits tot. Ihr Kopf lehnt schlapp an der nur halbdurchsichtigen Glasscheibe einer Bürotür.
Kabale und Liebe
von Friedrich Schiller
Regie: Jasper Brandis; Ausstattung: Katrijn Baeten, Saskia Louwaard; Dramaturgie: Jörg Vorhaben.
Mit: Thomas Birklein, Juliana Djulgerova, Kristina Gorjanowa, Denis Larisch, Thomas Liechtenstein, Caroline Nagel, Henner Momann, Eva Maria Pichler und Klaas Schramm.
www.staatstheater-oldenburg.de
"Eine Liebe zwischen den Ständen scheitert in Oldenburg nicht etwa an den Konventionen", weiß Johannes Bruggaier in der Kreiszeitung Syke (9.6.2012) zu berichten. "Sie scheitert vielmehr an den kulturellen Prägungen ihrer Protagonisten." Jasper Brandis zeichne diese Prägungen mit Mut zum Klischee und verleihe damit dem Stück eine fast schon boulevardeske Form. "Ganz oben und ganz unten trennen Rolex und Bauernkleid, eine Zwischenmusik im Mambo-Stil lässt an eine Nummernrevue denken." Das sei erstaunlich schlüssig und der tragischen Entwicklung keinesfalls hinderlich. "Wie überhaupt die Bezugnahme auf Machtgefüge in Bürogefilden zu keiner Zeit plakativ anmutet." Auch schauspielerisch gebe es überwiegend Gutes zu berichten. "Etwa von einer großartigen Kristina Gorjanowa, die in ihrer Luise schon früh die Erkenntnis über das wahre Spiel hinter der vermeintlichen Liebe reifen lässt. Oder auch von einem grandiosen Denis Larisch, der in Wurm eine warme Empfindung der Liebe einerseits und ein kühles Bewusstsein der Pflicht andererseits vereint." Einzig mit Henner Momanns Ferdinand ist der Rezensent nicht ganz zufrieden: "Was Ferdinand hier eigentlich begehrt, ob sich selbst oder die Macht, das bleibt auf unbefriedigende Weise offen."
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