Der Prozess - Andrej Mogutschi inszeniert Kafkas Roman in Düsseldorf als opulentes Bildertheater
Zum letzten Mal Psychologie!
von Guido Rademachers
Düsseldorf, 15. September 2012. Schon toll, was sich mit Drehbühne, Hubpodium, Video, feinster Lichttechnik und top ausgestatteten Werkstätten alles anstellen lässt. Für den russischen Regisseur Andrej Mogutschi so viel Tolles, dass es gleich den Spielplan sprengte. Seine Theaterversion von Kafkas "Der Prozess" war – zumal sich die Wiedereröffnung des Großen Hauses in Düsseldorf nach Sanierungsarbeiten verzögert hatte – wegen des enormen technischen Aufwands in der letzten Spielzeit nicht mehr zu realisieren. Jetzt wurde sie als Eröffnungspremiere der neuen Saison nachgereicht.
Das Ächzen der Maschinerie
Kaum eine Sekunde Ruhe für die Techniker. Ein Boot schwebt vor der Kassettentür eines Zimmers, über dessen Wand per Video projizierte Käfer kriechen. Zwei in Mädchenkleider vom Anfang des letzten Jahrhunderts gestopfte Männer radeln auf einem Tandem durch einen wattewolkenbehangenen Bühnenhimmel. Die Drehbühne schraubt sich hoch und runter und präsentiert Kuhherden, Weizenfelder, brennende Häuser. Ein Zug fährt vorbei an surrealen Traumlandschaften, an Seen und schneebedecktem Hochgebirge.
Alles geschieht beeindruckend perfekt, aber bei jedem Absenken eines Podests, bei jedem Anspringen der Drehbühne scheint ein Ächzen der Maschinerie mitzuklingen, das einem zuflüstern will, dass solches Bildertheater doch nur das schlechtere Kino ist. Besonders, wenn es Schauspieler nur als Kostümpuppen hinzu zu arrangieren weiß.
Oper ohne Gesang
Carl Alm umgibt als Josef K., wenn er gerade einmal nicht damit beschäftigt ist, sich umzuziehen oder an Zugstangen einzuhaken, die Aura eines szenisch minderbegabten Opernsängers. Nur, dass er nicht singt. Der mit starkem finnischen Akzent gesprochene und mikroportverstärkte Text hört sich an wie mühsam phonetisch eingetrichtert, aber dem Sinn nach noch nicht verstanden. An Alms Standbein-Spielbein-Block, dessen Hände entsprechend der Silbenbetonungen rauf- und runtergehen, prallt der polternde Onkel von Dirk Ossig ebenso zuverlässig ab wie Patrizia Wapinskas feinnervig-zartes Fräulein Bürstner.
Markus Danzeisen begnügt sich bei der Parabel "Vor dem Gesetz" mit reinem Textabliefern, während Sven Walsers Advokat Huld sowie Betty Freudenbergs Leni im Fatsuit als abstruse Nackedeis zwischen Bettpfanne und Kanonenofen herumtollen. Mal ein bisschen Slapstick, mal eine kleine Gesangsperformance, mal nur Textvortrag. Das Spiel bleibt unverbindlich. An Härterem – wie etwa die Prüglerszene oder die Hinrichtung K.s – mogelt sich die locker durch den Roman und zusätzliche Kafkatexte blätternde Bühnenfassung ohnehin vorbei.
Eine Last-Picture-Show
"Zum letzten Mal Psychologie!", tönt es aus einem 60-köpfigen Düsseldorfer Bürgerchor, der vom Zuschauerraum aus die Bühne entert und sporadisch ähnliche Kernsätze im Stile einer Parodie moderner Gesangskunst verkündet. Vollendet antipsychologisches Spiel ist sicher bei Alms Josef K. festzuhalten. Kein Wunder, denn dieser Josef K. ist schon tot. Das Begräbnis wird gleich zu Beginn gezeigt.
Was folgt, ist eine Last-Picture-Show. Eine in der Ästhetik entfernt an Tadeusz Kantor erinnernde Bilderserie, die eine grotesk-angestaubte Welt aus der Roman-Entstehungszeit von 1914/1915 zeigt und ihrerseits wiederum vollgepumpt ist mit psychoanalytischen Motiven. Damit hat sich die Blickrichtung im Vergleich zum Roman umgekehrt. Dort stand Josef K. unter Beobachtung; jetzt fällt sein bereits toter Blick auf die Welt. Im Zentrum, in dem der Protagonist stand, bleibt eine Leerstelle zurück, die auch der bühnentechnische Overkill der Inszenierung nicht mehr zu schließen vermag.
Der Prozess
nach Franz Kafka
Fassung von Alexander Artemov und Dimitrij Yushkov
Regie: Andrej Mogutschi, Bühne: Maria Tregubova, Kostüme: Maria Tregubova, Alexej Tregubov, Video: Konstantin Shchepanovski, Musik: Alexander Manotskov, Oleg Karavajtschuk, Dramaturgie: Stefan Schmidtke.
Mit: Carl Alm, Jonas Anders, Markus Danzeisen, Christian Ehrich, Betty Freudenberg, Claudia Hübbecker, Bettina Kerl, Moritz Löwe, Dirk Ossig, Taner Sahintürk, Pierre Siegenthaler, Sven Walser, Patrizia Wapinska.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
Mehr Umsetzungen von Kafkas Der Prozess: Sybille Fabian zeigte das Werk 2010 in Wuppertal, Signa adaptierten es als Die Hundsprozesse 2011 für Köln. Zum Berliner Theatertreffen 2009 wurde Andreas Kriegenburgs Version eingeladen.
Andrej Mogutschis "surreales Drei-Stunden-Theater ist weit entfernt von der Rekonstruktion der literarischen Vorlage", meint Annette Bosetti in der Rheinischen Post (17.9.2012). "Zwei russische Autoren haben einen Subtext unter die dramatisierten Kafka-Fragmente von 1915 gelegt. So erlebt der Zuschauer vor allem die Fantasien, die Alpträume und Illusionen eines Mannes, dessen Leben kaleidoskopisch noch einmal zusammengesetzt wird." Es gebe "keine traditionellen Spielszenen. Dada regiert, nichts entwickelt sich zwingend logisch aus dem Vorhergehenden. Die gesprochenen Worte verlieren sich in ihrer Aussagekraft, vielfach sind sie akustisch unverständlich. Die Regie psychologisiert nicht, meißelt keine Charaktere." Es regiere das Bild. Und daher fühle sich 'Der Prozess' "viel zu lang an und lässt viel Literatur als Leerstelle."
Für die Süddeutsche Zeitung (23.10.2012) schreibt Martin Krumbholz in Anspielung auf das Diktum des Regisseurs Mogutschi "Attraktionen ermüden mich": Mogutschis Reise selbst sei "eine groteske Fahrt in die pechschwarze Nacht, die eine Zeitlang unterhält, dann aber doch sehr schnell – ja, eben 'ermüdet'". Die Aufführung trage ihren "Anti-Stanislawski-Affekt" "deutlich vor sich her; mit dem Ergebnis, dass jeder Gestus, jedes Bild ebenso groß wie schrill erscheint". Kafkas "Thema der korrupten Sexualität" werde "leider heruntergewirtschaftet ins Kirmeshafte".
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Diese Inszenierung gehört eher in ein Musicaltheater - mit Schauspiel hatte das nichts zu tun!
Wirkte wie eine mittelklasse Operette - auch das Spiel der Darsteller!
das einem zuflüstern will das leiden des josef k. und das beredte leiden von
franz kafka, vor dem gesetz. seine seele war qualvoll unter beobachtung...
Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.
Wenn er mich immer frägt. Das ä losgelöst vom Satz, flog dann wie ein Ball
auf der Wiese.
(so beginnen 191O kafkas tagebücher)
Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare unbeweglich um den Schädel geordnet, die Muskeln unten an den Wangen an ihrem Platz gespannt...
was will peter handke mit franz kafka? - das erreicht er nie im geringsten.
und auch kein regisseur. . .
Der hochkompetente Theaterkritiker Herr Rademachers könnte sich vor der Verfassung seines Verrisses wenigstens die Mühe machen, Informationen (z.B. aus dem ausführlichen Programmheft) über die Intention des Regisseurs zu dieser Inszenierung einzuholen. Mogutschi ist nicht grundlos bekannt und vielfach ausgezeichnet für seine eigenwilligen Inszenierungen. Wie ignorant und arrogant darf (muss?) Kritik eigentlich sein, um sich als solche zu bezeichnen?
Ich mag Kritiken, die ohne Kenntnis des Programmheftes beschreiben, was gesehen wurde, lieber.
Das, was der Kritiker eine Parodie des klassischen Gesangs nennt, ist ein ebenfalls ein bedeutungsschwangerer Kunstgriff , der die Absurdität der Situation unterstreicht. Nebenbei bemerkt- es ist für den Chor um Einiges schwieriger, die Noten der Melodie absichtlich zu verfehlen, als eine perfekte Opernarie im Sinne der Kritik darzubieten.
Das Schauspiel des Karl Alm kann man durchaus als genial bezeichnen. Selten konnte ein Schauspieler die Figur des Josef K. so verinnerlichen, und derart in die Welt des Existenzialismus eintauchen, wie er es tut.
Nun, von der deutschen Kritik, die kritisiert, ohne das Werk des Franz Kafka gelesen zu haben, war ja nichts anderes zu erwarten.
Aber Josef K. gehört doch zu "dieser" Welt, das ist ja gerade das Drama irgendwie (und kommt im Roman gegen Ende durchaus zur Sprache).
@ 7
Ja, Kritiken, die nur noch einmal nachliefern, was einem Programmheft zufolge wohl der Sinn von alledem Bühnengeschehen sein soll, sind auch mein Ding nicht,
zumal man -siehe die letzten beiden Thalia-Tschechows- mitunter ziemlich vergeblich nach der "Einlösung" des "Programms" auf der Bühne sucht/suchen würde.
Es gab meiner Beobachtung zufolge mehrere Figuren, die nicht gesungen haben. Also Kritikern vorzuwerfen, sie hätten das Werk nicht gelesen und gleichzeitig diese Tatsache zu verleugnen, ist schlichtweg dreist. Haben Sie denn die Inszenierung überhaupt gesehen oder schreibt hier etwa ein Freund von Beteiligten?
Andrej Mogutschi teilt sich selber mit - und stellt so manches klar in
http://www.youtube.com/watch?v=1vNm4Tnq62A
http://www.youtube.com/watch?v=gxHbK4x18fw&feature=plcp
Liebe Grüsse
@kai10