Für ein Theater der Teilhabe

von Björn Bicker

Wien, 14. Oktober 2013. Die Frage, wem die Kultur gehört, ist von der Kuratorin des Kongresses "125 Jahre Burgtheater" an mich herangetragen worden und dann als griffige Überschrift im Programm der Tagung gelandet. Die Antwort ist schnell gegeben: Wenn man von einem dynamischen, nicht auf Besitzstand zielenden Begriff von Kultur ausgeht, von einem Begriff, der alle Lebensäußerungen des Menschen, egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts, sei es Kunst, sei es Unterhaltung, sei es Sport, sei es Religion, als Äußerung seiner Eigenheit als Mensch begreift, dann ist klar, dass die Kultur niemandem gehört oder umgekehrt: allen. Oder noch präziser: Kultur ist nichts, was einem gehören kann. Kultur ist auch nichts, was statisch wäre, Kultur ist Veränderung, Kultur ist Dynamik und Kulturen kämpfen auch nicht gegeneinander, sondern fließen ineinander über. Und da, wo eine Kultur vorgibt, unveränderbar zu sein, ist mindestens Misstrauen angebracht.

Wem sollte das Theater in Zukunft gehören?

Dass das kein gesellschaftlicher Konsens ist, muss man an Orten der vermeintlichen Hochkultur nicht betonen. Da das Jubiläum des Burgtheaters aber der Anlass ist, über die Zukunft des Mediums Theater nachzudenken, ist es vielleicht ergiebiger, die Frage zu konkretisieren und im übertragenen Sinne zu fragen: Wem gehört das Theater? Oder besser: Wem sollte das Theater in Zukunft gehören? Oder noch besser: Was könnten wir meinen, wenn wir in Zukunft von Theater sprechen? Oder am allerbesten: Für wen soll dieses Theater in Zukunft von Belang sein? Am Ende die große, ungemein politische Frage: Von welcher Art Kunst reden wir, wenn wir von Theater reden?

Karin Bergmann hat mich eingeladen, mir zu diesem Thema Gedanken zu machen, weil ich die letzten 12 Jahre, zunächst an den Münchner Kammerspielen mit dem Team um Frank Baumbauer und später auch mit anderen Partnern versucht habe, mit meiner Arbeit als Autor, Dramaturg und Projektentwickler das Theater zu öffnen: Für Themen der Migrationsgesellschaft, für Menschen, die normalerweise nicht mit der Ressource Stadt- und Staatstheater in Berührung kommen, für Formen, die zwischen künstlerischer, politischer und sozialer Praxis hin- und herspringen und am Ende nicht mehr so einfach, feuilletonistisch rubrizierbar sind, für Begegnungen von Menschen, die sich normalerweise, ohne die Inszenierung eben genau dieser Begegnung durch das Theater, niemals begegnen würden. Dabei sind Projekte und Texte entstanden, die sich im weitesten Sinne mit den Auswirkungen von Migration und Globalisierung auf unsere Stadtgesellschaften beschäftigt und dabei auf Öffnung, Teilhabe und Begegnung gesetzt haben.

polizei schuetzt theaterPolizei schützt Shakespeare-Aufführung 2011
in Bochum vor Occupy © www.bo-alternativ.de

Verriegelte Theater: Occupy in Bochum

Als Autor und Dramaturg plagen mich allerdings ernste Zweifel an der Institution Theater. Deshalb kann ich nicht anders, als erst ein paar Sätze über das aktuelle Theater zu verlieren, um dann noch einmal auf die Frage nach den Besitzverhältnissen zurück zu kommen. Dazu sei mir ein Blick nach Westdeutschland gestattet: Im November 2011 zogen in Bochum ein paar Occupy-Demonstranten durch die Stadt in Richtung Theater, um sich im Schauspielhaus Gehör für ihr Anliegen zu verschaffen.

Die Verantwortlichen des abendlichen Ordnungsdienstes hatten davon Wind bekommen, was dazu führte, dass ein Einsatzkommando der Polizei das Theater umringte. Drinnen gab man Shakespeare, draußen wurde unter Polizeibewachung demonstriert. Die Sphären blieben fein getrennt. Die Menschen auch. Drinnen die kritischen, aber auf Ruhe bedachten Kunstliebhaber, draußen die kritischen, aber an Lautstärke interessierten Demonstranten. Und dazwischen eine geschlossene Reihe martialisch uniformierter Polizisten. Die Stätte der Hochkultur schien eine gespenstische Trutzburg des ungestörten Kunstgenusses geworden zu sein. So zumindest sah das auf einem Foto aus, das danach tagelang im Netz kursierte.

Das Bild und die entsprechenden Berichte über das Ereignis, veranlassten die Theaterleitung, sehr ernst gemeinte Bekenntnisse zu Offenheit, Transparenz und demokratischer Kultur abzugeben. Das Bild aber war in der Welt und erzählte viel vom Zustand der großen Stadt- und Staatstheater. Im deutschen Stadt- und Staatstheater, wo Überlieferung von Text, Pflege von Sprache und westlich-kritischem Geist über Jahrzehnte zum Fetisch kultureller Identifikation geworden sind, ist man hin- und hergerissen. Zum einen will man von der eigenen Kultur nicht lassen, zum anderen will man sich auf die Seite der kritischen, zukünftigen Geister dieser Gesellschaft schlagen. Also vorne dran sein.

Die digitalisierte Welt: nicht zuschauen, sondern machen

Man ahnt, dass das Abklopfen der literarischen Tradition auf ihr kritisches Potential nicht mehr so recht funktioniert, weil sich die Welt durch Digitalisierung, Migration und andere Faktoren so grundlegend verändert hat, dass der Wiedererkennungswert des hier Dargestellten für viele Menschen gen Null tendiert. Was wiederum mit der Struktur des Theatralen zu tun hat und damit, dass unsere Zeit im Kern zwar ein radikaler und permanenter Relaunch dieser Strukturen ist, aber gleichzeitig ein geändertes Verhalten der Akteure verlangt, weil die Trennung von Spieler und Zuschauer kaum noch akzeptiert wird. Weder in der Kunst, noch in der Politik.

urban prayers st ludwig andrea huber uDas Projekt "Urban Prayers" der Münchner Kammerspiele. Schauplatz St. Ludwig Kirche
© Andrea Huber

Positiv gesprochen meint das eine kräftige Emanzipationsbewegung. Demokratisierung. Nicht zuschauen, sondern machen. Nicht repräsentiert werden, sondern präsentieren. Gefilmt werden und gleichzeitig filmen. Nicht nur lesen, sondern auch veröffentlichen. Durch die Welt wandern, statt zu Hause zu bleiben. Mash-up statt Original. Lernen, statt belehrt zu werden. Das alles prägt unsere Städte, die längst zu Städten der Vielheit, der Unterschiede, der zu organisierenden Diversity geworden sind. Das wird in Wien nicht anders sein als in München, Hamburg oder London.

Die bildungshuberischen Barrieren des Regietheaters

Das Theater, das die Wirklichkeit darstellen will, das sie nur kritisiert und dabei so tut, als könne es eine Position irgendwo außerhalb ihrer einnehmen, dieses Theater wird immer hinter dieser Wirklichkeit zurück bleiben. Es ist überheblich. Es könnte arrogant wirken. Vielleicht sogar dumm. Das ist das Dilemma des Theaters seit jeher. Theater ist nicht das Leben, es tut nur so, als ob. Das, worum es geht, ist immer abwesend. Das ist die unentrinnbare Struktur der Repräsentation. Das unterscheidet Theater im Kern vom realen Vollzug eines religiösen Rituals. Das ist der Unterschied zwischen Apollinischem und Dionysischem Prinzip. Das ist die Differenz zwischen Party und Aufführung. Das ist leider allzu oft der Graben zwischen Politik und Kultur. Das ist, ganz allgemein gesagt, die alte Dichotomie von Kunst und Leben, die in den letzten Jahren so deutlich hervorgetreten ist, wie selten zuvor. Die Akteure und die Zuschauer ergehen sich in sich selbst genügenden Ritualen, bei denen es Abend für Abend vor allem darum geht, sich selbst und den anderen zu bestätigen, wie kritisch, aufgeklärt und wissend man ist.

Gerade das zeitgenössische Regietheater in seiner elaborierten Form, forciert die gesellschaftliche Trennung verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen, indem es genau diese Differenzen durch seine, böse ausgedrückt, bildungshuberischen Barrieren kunstvoll zementiert. Sei es noch so dekonstruktiv oder popkulturell: Letztlich steht das aktuelle Theater für die affirmative Selbstvergewisserung einer überschaubaren Gruppe von gebildeten, wohlhabenden Menschen, für die der Kokon aus Bühne und Zuschauerraum zum Naherholungsgebiet unverfänglichen Unter-Sich-Seins geworden ist. Eine Parallelgesellschaft mit Ausschlusscharakter. Ein Blick auf die Redner- und Themenliste des Burgtheater-Jubiläums-Kongresses mag meine Behauptung stützen.

Das Projekt URBAN PRAYERS in München

Erhellender als bei unserem Münchner Projekt Urban Prayers, das in diesem Sommer von Malte Jelden, Johan Simons und mir realisiert worden ist, hätten die Reaktionen nicht sein können. Nach anderthalbjähriger Recherche im religiösen Leben Münchens ist aus den vielen Stimmen, die ich kennengelernt und eingefangen habe, ein chorischer Text entstanden, den Johan Simons mit dem Ensemble der Münchner Kammerspiele und einem 40köpfigen Mitarbeiterchor inszeniert hat.

urban prayers mehmet akif moschee 560 andrea huber uDas Projekt "Urban Prayers" der Münchner Kammerspiele. Edmund Telgenkämper, Cigdem Teke, Steven Scharf, Wiebke Puls, Stefan Merki in der Mehmet Akif Moschee © Andrea Huber

Die Aufführung wanderte dann durch religiöse Orte in der Stadt: durch verschiedene christliche Kirchen, Synagogen, Tempel und Moscheen. Um die Aufführungen herum haben wir Formate von Begegnung und Gespräch inszeniert, sodass jeder Abend ein gänzlich anderes Gepräge erhalten hat. Religiöse Menschen aus allen Teilen der Erde sind mit Zuschauern der Münchner Kammerspiele in Berührung gekommen, Gläubige und Ungläubige haben sich ausgetauscht, die Mitarbeiter der Kammerspiele waren zu Gast in bisweilen verstörend fremden Welten, die sich rein geografisch vor der eigenen Haustür befanden. Zum Abschluss landete die Aufführung wieder im Theater. Am letzten Tag des Projekts haben wir im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele einen neunstündigen Redenmarathon von 40 Gläubigen aller Religionen, die in München ansässig sind, inszeniert. Da wurden von Muslimen, Christen, Juden, Buddhisten, Sikhs, Bahai und Hindus viele von den Fragen beantwortet, die das Stück zuvor bei den Aufführungen aufgeworfen hatte.

Das Theater war Sprechanlass für einen ganzen Tag "Reden über Gerechtigkeit". Anschließend haben wir in Kooperation mit dem Münchner Muslimrat die Kammerspiele in eine Moschee verwandelt und die Hinterhöfe der Maximilianstraße mit dem muslimischen Gebetsruf beschallt, um dann gemeinsam das Ramadan-Fastenbrechen zu begehen. Das Theater hatte sich also in einen Ort realen, religiösen Vollzugs verwandelt. Die Münchner Muslime, die sich für gewöhnlich Diffamierung und Marginalisierung ausgesetzt sehen, präsentierten sich und ihre religiöse Praxis plötzlich in einem der hochkulturellen Zentren der Stadtgesellschaft.

Fundamentalismus in Kirche und Feuilleton

Nachdem wir zwei Wochen zuvor in der Münchner Mehmet Akif Moschee Theater gespielt hatten, waren die muslimisch-fundamentalistischen Blogs und Zeitungen voll: Die eigenen Glaubensschwestern und -brüder wurden beschimpft: Was macht ihr da mit der Moschee! Da kommen die Gottlosen und entweihen die Räume! Und ihr arbeitet auch noch mit denen zusammen! Unmöglich!

Und als wir die Gläubigen ins Theater eingeladen und ihnen dort Raum für Gebet und Reflexion eingerichtet hatten, schrieb ein Hochkultur-Fundamentalist in seiner Funktion als Kritiker in der Süddeutschen Zeitung: Das ist doch kein Theater mehr! Was soll so was im Theater?! Was macht ihr da in unseren heiligen Hallen?! Pfui Teufel! Wir lernen: Strukturell sind sich diese Abwehrmechanismen ähnlich. Nur würden die, die das Theater gegen Verunreinigung verteidigen, niemals eingestehen, dass sie genauso fundamentalistisch, ausschließend und dumm sind wie Gläubige am extremen Rand.

Vielheit organisieren

Das Theater hat als kollektive Kunstform, als Kunst der Begegnung und als Inszenierung dieser Begegnung ungeahnte Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten könnten das Theater retten und es auf die Zukunft vorbereiten. Denn wenn es so ist, dass es in Zukunft gesellschaftlich mehr darum gehen wird, ethnische wie kulturelle Vielheit zu organisieren, als deutsche, österreichische oder europäische Leitkultur zu definieren, wenn es überlebenswichtiger sein wird, sinnvolle demokratische Teilhabe zu ermöglichen, als über Integration zu schwafeln, wenn es an der Zeit ist, Solidarität zu zeigen, anstatt rassistische Grenzanlagen zu verteidigen, wenn das Handeln wichtiger wird als das Zuschauen, dann landet man bei der entscheidenden Frage, was man eigentlich unter dieser Kunst, die man Theater nennt, in Zukunft verstehen will.

urban prayers8 560q allerheiligenkirche andrea huber uDas Projekt "Urban Prayers" der Münchner Kammerspiele. Schauplatz Allerheiligenkirche
© Andrea Huber

Zum Glück gibt es schon Ansätze, die man naturgemäß noch weiter treiben kann. Das Leiden am Als ob hat zu einer Wiederbelebung des Dokumentarischen geführt. Mehr noch: Man hat längst den abgesteckten Bezirk des virtuos Künstlerischen verlassen und macht aus dem Theater der Repräsentation ein Theater der Teilhabe. Die Akteure sind nicht mehr nur professionelle Schauspieler, sondern Menschen, die mit ihren Geschichten auf der Bühne inszeniert werden, weil sie eben nicht dem Zwang unterliegen, so tun zu müssen, als ob. Alte sind Alte. Flüchtlinge sind Flüchtlinge. Kinder sind Kinder. Sie werden auf die Bühne gebeten, weil sie die sind, die sie sind. In Zukunft wird es aber darum gehen, sich noch ein paar Schritte weiter ins Politische und Reale vorzuwagen.

Wie Aspirin im Wasser: Kunst als Prozess

Das Theater als Institution, als Kunstform und als konkreter Raum, hat die Möglichkeit, genau das zu inszenieren, woran es der Gesellschaft fehlt: Begegnung. Migranten und Nicht-Migranten, Arme und Reiche, Männer und Frauen, Digital Natives und Senioren. Die Liste kann beliebig erweitert werden. So kann die konkrete künstlerische Arbeit in einen Prozess sozialer und politischer Praxis verwandelt werden. Es geht um nichts Geringeres, als um das Miteinander in unserer Gesellschaft.

Kunst hört in diesem Sinne auf, sich nur als Objekt zu zeigen. Also als Theateraufführung, als Bild, als Skulptur, als Text. Das geschaffene Objekt ist nur noch ein Teil des Kunstwerks. Der andere, der unsichtbare, aber ebenso wichtige Teil ist das, was im Vollzug geschieht. Die Aufführungen, die dabei entstehen, spielen sich auf ganz verschiedenen Bühnen ab, auf sichtbaren und unsichtbaren: in den Lebensläufen der Beteiligten, im öffentlichen Diskurs, in politischen Entscheidungswegen, auf Theaterbühnen, in Kirchen, in Moscheen, auf öffentlichen Plätzen, im Netz.

Der Konzeptkünstler Jochen Gerz hat die Wirkung dieser Art Kunst mit dem Auflösen einer Aspirin im Wasserglas verglichen. Man sieht die Materialität des Kunstwerks nicht mehr, aber sie ist noch da. Und hat Wirkung. Das knüpft an Konzepte der Bildenden Kunst an, die von den Situationisten über Joseph Beuys und seine Lehre von der Sozialen Plastik bis hin zu diversen Activist Artists der letzten Jahrzehnte reicht. In dieser Tradition sollte man das Theater der Begegnung und Teilhabe begreifen.

Kunst als soziale Praxis

In der Folge dieser Praxis verändern sich zwangsläufig die Begriffe von dem, was wir gemeinhin unter Theater verstehen. Die Beurteilung einer Aufführung kann sicher nicht mehr mit den üblichen Schablonen des Feuilletons bemessen werden, die Arbeit des Autors und der Begriff seiner Arbeit definieren sich komplett neu, sie speisen sich ganz anders ein in den Entstehungsprozess solcher Projekte, Regisseure werden zu Moderatoren, zu Ermöglichern, ebenso Schauspieler. Deren eingeübte Virtuosität des Darstellens ist plötzlich gar nicht mehr gefragt, sondern wird abgelöst von der Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und Performance jenseits des geschützten "Ich tue so, als ob".

urban prayers synagoge reichenbachstrasse andrea huber uDas Projekt "Urban Prayers" der Münchner Kammerspiele. Schauplatz Synagoge
Reichenbachstraße © Andrea Huber

Das Theater kann es in diesem Sinne schaffen, als utopischer, dritter Ort zu funktionieren, Begegnungen zu stiften, die an keinem anderen Ort auf diese Weise stattfinden würden. Es kann als Bühne für soziales und politisches Handeln fungieren und kann umgekehrt den sozialen und politischen Raum zur Bühne erklären. In beiden Fällen entstehen Handlungsräume, die neue Freiheiten ermöglichen. Menschen begegnen sich. Lernen sich kennen. Und verändern auf diesem Weg Gesellschaft. Die Kunst, die ich meine, wird also selbst zur sozialen und politischen Praxis.

Räume für angst- und verwertungsfreie Zusammenarbeit

Es scheint mir der richtige Impuls der Bochumer Demonstranten gewesen zu sein, das örtliche Theater als Ort der Versammlung, des Protests und vor allem als Raum für Begegnung in Beschlag nehmen zu wollen. Begegnung braucht Räume und Anlässe, gemeinsam aktiv zu werden. Vielleicht ist das die Kunst der Zukunft. Das Bereitstellen und Inszenieren offener, demokratischer Räume, in denen das geschehen kann, was der Gesellschaft fehlt. Vermischung, angst- und verwertungsfreies Arbeiten an den Entwürfen unseres aktuellen und zukünftigen Zusammenlebens. Dafür könnte man in Zukunft die Ressource Stadttheater nutzen. Doch auch das wird am Ende eine Frage des Geldes sein, der Zeit, des politischen Willens. In München. In Wien. Überall. Aber auch eine Frage an jeden einzelnen von uns Autoren, Dramaturgen, Regisseuren, Intendanten, Schauspieler. Besteht die Dringlichkeit unserer Kunst darin, dass wir denen Stimme verleihen, die nicht selbst öffentlich sprechen können oder einfach kein Gehör finden?

So, wie das der kürzlich verstorbene Stéphane Hessel den jungen Aktivisten der Welt in seinem Manifest "Empört Euch!" zugerufen hat: "Seht Euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die Euch veranlassen, Euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und Ihr werdet finden!" Das gleiche möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen zurufen. Nein, höre ich sie antworten, wir wollen uns nicht instrumentalisieren lassen! Nein, wir wollen nicht nach unserer Relevanz beurteilt werden!

Aber seien wir uns bewusst, dass das, was wir tun, immer, und sei es auf den ersten Blick noch so unpolitisch, dass jeder Satz, den wir schreiben, sprechen oder verschweigen, dass jede Geste, jede Personalentscheidung, jede Äußerung in einem politischen Kontext angesiedelt und selbst ein Politikum ist. Und genau darum wird es in Zukunft gehen: Um das Theater als Politikum in einer Gesellschaft, die von Migration und Vielheit geprägt ist. Dem muss die Institution und die künstlerische Praxis Rechnung tragen. Gerade in der Beantwortung der Frage, wem die Kultur, wem das Theater in Zukunft gehören soll. Da kann sich das Theater nicht wegducken und so tun, als müsste es sich nicht ebenso verändern wie die Gesellschaft, die es umgibt und schließlich finanziert.

 

bjoern bicker 150 c muenchner kammerspiele uBjörn Bicker, geboren 1972 in Koblenz, ist Dramatiker und Dramaturg. Er arbeitete als Dramaturgieassistent und Dramaturg am Wiener Burgtheater und war von 2001 bis 2009 Dramaturg an den Münchner Kammerspielen bei Intendant Frank Baumbauer. Dort entwickelte er diverse Stadtprojekte u.a. Illegal (2007–2008) und Doing Identity – Bastard München (2008) mit. Unter Intendant Johan Simons entwarf er an den Münchner Kammerspielen das Stadtprojekt Urban Prayers. Seine Website: www.bjoernbicker.de.

 

 

Direkt im Anschluss an die Rede von Björn Bicker auf dem Wiener Jubiläumskongress versuchte sich der Burgtheater-Billeteur Christian Diaz auf der Bühne Gehör zu verschaffen und protestierte gegen seine Arbeitsbedingungen.

 

Mehr Beiträge zum Jubiläumskongress des Wiener Burgtheaters "Von welchem Theater träumen wir?":

Eva Maria Klinger gibt einen Überblick über die dreitägige Veranstaltung.

Reinhard Urbach wirft einen Blick auf die Geschichte des Hauses.

Andrea Breth über das Nationaltheater als (H)ort kultureller Identitätsbewahrung.

Johann Simons entwirft sein Theater der Nationen.

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Kommentare  
Rede Björn Bicker: gesellschaftlich irrelevante Orte
"Das Theater kann es in diesem Sinne schaffen, als utopischer, dritter Ort zu funktionieren, Begegnungen zu stiften, die an keinem anderen Ort auf diese Weise stattfinden würden. Es kann als Bühne für soziales und politisches Handeln fungieren und kann umgekehrt den sozialen und politischen Raum zur Bühne erklären. In beiden Fällen entstehen Handlungsräume, die neue Freiheiten ermöglichen. Menschen begegnen sich. Lernen sich kennen. Und verändern auf diesem Weg Gesellschaft. Die Kunst, die ich meine, wird also selbst zur sozialen und politischen Praxis."
Genaueres Bedenken des zentralen Gedankens der Rede ergibt genau die selbstreferentielle Schleife vor der der Redner inständig warnt. Wie Gesellschaft verändert wird, wird in gänzlich anderen Zusammenhängen entschieden, keineswegs in eben doch "nur" inszenierten gesellschftlich absolut irrelevanten Orten. Auf diese Orte hinzuweisen, die keine utopischen sind, das ist eine mögliche Aufgabe der Kunst. Das, was der Redner vorschlägt und praktiziert, ist eine andere. Wer räumt, um im Bild zu bleiben, die Polizei (als Synonym für Herrschaft zu verstehen), hinweg, wer uniformiert sie neu...
Rede Björn Bicker: Floskelndes Bedauern
Armes Theater. Arme Kunst.
Rede Björn Bicker: Utopie oder Heterotopie?
Der Begriff der Utopie könnte tatsächlich, nach genauerem Nachdenken, ein problematischer sein. Denn er impliziert, dass die Möglichkeit von Veränderung an einem wirklichkeitsfremden Ort stattfindet. Wenn das Theater ALS Theater sichtbar bleibt, wenn es dann eben doch in ästhetischer und politischer Hinsicht klar von der Realität abgegrenzt wird, inwiefern kann es dann noch politisch wirksam werden? Wo ist da z.B. Schlingensiefs "Chance 2000" einzuordnen? Lässt sie sich in diesen utopischen Rahmen einordnen?

Die Rede des Billeteurs ist bezeichnend dafür, dass das Theater sich zwar gern als utopischen Ort bezeichnet, wenn dann aber die Realität in diesen Ort einbricht und/oder die Kunst ausbricht, was kommt dann? Die Polizei, welche die symbolischen von den sinnlichen Körpern trennt? Du bist Schauspieler, du bist es nicht, musst also ein öffentlicher Ruhestörer sein. Und Ruhe ist die erste Bürgerpflicht? Der Billeteur wird also von der Bühne verwiesen, ihm wird kein Rederecht eingeräumt, weil er mit seiner einzelnen Stimme nicht repräsentativ sei. Ja, was denn nun? Ganz wie im politischen Leben. Eine einzelne Stimme zählt nicht, kann nicht repräsentativ sein. Und wenn nun eine zweite dazugekommen wäre? Wäre das dann schon repräsentativ? Bei Schlingensief reichte schon die eine Stimme: ICH. Davon abgesehen, gibt das Theater immer wieder gern vor, die nicht sicht- und/oder hörbaren Stimmen zu integrieren. Heisst integrieren schon vereinnahmen? Eine glaubwürdige Darstellung beruht vor allem auf Erfahrung, weniger auf Schauspieltheorie.

Heterotopie, das wäre der bessere Begriff, wie ihn der Billeteur Christian Diaz ja auch vorgeschlagen hat. Eine Heterotopie bleibt nicht, wie die Utopie, ohne wirklichen Ort, sondern es handelt es sich um eine tatsächlich realisierte Utopie. Heterotopien sind tatsächlich andere Räume als die heiligen Repräsentationshallen. Es sind Räume, welche zugleich innerhalb und ausserhalb des Theaters und der Gesellschaft verortet sind. Die Heterotopie bricht mit der herkömmlichen Zeit, ihren Konventionen und Mythen. Und sie kann dadurch auch etwas Beunruhigendes haben, im Gegensatz zur tröstenden Utopie. Es braucht beides: Utopische Vorstellungskraft und den Mut, die eigene Stimme zu erheben. Bei den meisten Theatermachern klingt mir das leider immer wieder zu sehr nach reiner Verlautbarung. Ohne praktische Folgen, ohne Verantwortung zu übernehmen. Und die Betriebsräte haben ebenso längst die Seite gewechselt, vielleicht auch nur deswegen, weil auch sie Angst vor Jobverlust und Kündigung haben. Aber mit Angst kommen wir nicht weiter. Angst und Panikmache verhindern den Weg in eine andere Gesellschaft.
Rede Björn Bicker: das "Als ob" besteht weiter I
Herr Bicker tut so, als befände sich das „als ob“ im Zustand der Auflösung, als hätte es ausgedient und würde nun einer wie auch immer gearteten Vielfalt des Realen weichen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich ein Theater in eine Moschee verwandele, bleibt es immer noch ein Theater und wird nie eine Moschee, es tut nur so „als ob“. Und das ist gut so.
Denn glaubte es sich selbst eine Moschee zu sein, wäre es an einem kritischen Endpunkt angelangt. Es würde meinen sich in die Realität überführen zu können. Und dies wäre nichts anderes als eine theatrale Form gelebten Wahnsinns.
Natürlich lehnt sich der Zuschauer gerne zurück in der Betrachtung eines „als ob“ und möchte dabei weder von Demonstranten, noch von der Polizei gestört werden. Wenn in diesem Zurücklehnen gleich die Borniertheit eines sozialen Status des Besseren, Kultivierteren hinein fällt und sich hierbei fleißig von Geldern des Staates aushalten lässt, dann, ja dann wird es früher oder später zu anderen Formen der Demonstration, beziehungsweise Gegendemonstration von sozialer Vielfalt kommen.
Diese ist ja zum Teil schon in die Theater eingezogen, meinen wir, in dem sie fleißig dort durch Pseudo-Dokumentarisches abgebildet wird. Und doch ist es beispielsweise so, dass gerade an Häusern wo man es nicht vermuten würde, eine ebenso harte und auch nach außen sichtbare Selektion in der sozialen Vielfalt vorgenommen wird.
Nehmen wir nur einmal das neue Ensemble des MGT. Es ist schön anzusehen, beinahe wie eine Benetton Werbung der Siebziger, so wie es da in der virtuellen Welt des Digitalen auf der Internetseite daher kommt. Und doch fehlen wesentliche Menschen, die ein echtes Bild der Vielfalt ergeben würden. Wir finden nicht einen Asiaten, auch keinen Afrikaner, geschweige den bildete sich dort eine europäische Vielfalt ab, ein deutlich erkennbarer Franzose, Engländer, Pole, Däne, Schwede und und und.
Es ist wieder nur eine Form des „als ob“. Die eingeschränkte Vielfalt in ihrer Form des „als ob“. Wir tun mal so, als seien wir multikulturell. Leider, bedauerlicherweise auch nur ein liebenswürdiger Fake.
Es ist traurig, aber man kann die Vielfalt nur im Auge des Betrachters simulieren. Sie in ihrer Realität vollständig abzubilden, ist schier unmöglich und dieser Anspruch geradezu vermessen.
Wir sind auch im Performativen in vielfacher Weise auf ein „als ob“ angewiesen. Denn es ist keineswegs so, dass dort die Realität, so wie sie ist, abgebildet wird, sondern wir führen sie über in ein „als ob“, so wie es jedes soziale Netzwerk tut.
Wir tun auf Facebook so, als ob wir unser Leben dort abbilden würden. In Wahrheit pressen wir es in ein neues Format des „als ob“, in einen neuen digitalen Guckkasten und glauben uns für den Bruchteil von Sekunden, das wir miteinander kommunizierten, so wie Früher. Es ist nicht nur das Gefilmt-werden und Zurück-filmen, wir stehen nicht nur unter der Beobachtung der Bilder, die wir von uns produzieren, es ist gleichsam auch eine Betrachtung durch Fenster, als stünden sich zwei oder gleich mehrere, ja eine Vielzahl von Fenstern gegenüber, die beschränkte Einblicke gewähren und dadurch meinen sich zu kennen.
Auch hier wieder die Grundform des „als ob“.
In Wahrheit also wird dieses sich eben nicht in Auflösung befindende „als ob“ auf mannigfaltige und so noch nie da gewesene, radikale Weise in die Realität eingeführt, so dass ein Stadttheater-Bühnenvorgang dagegen etwas piefig und recht kleinformatig wirkt.
Und in der Tat versteht der Zuschauer nicht so recht, warum er sich dreieinhalb Stunden bevormunden lassen sollte und ins Schweigen verdammt wird, wo er doch jederzeit die Ergebnisse seiner Wahrnehmung, seine ganz persönliche Realität hinausposten kann in die Welt, die ihm sogar zuhört.
Er emanzipiert sich in das Posten hinein und tritt dort selber als Performer und Schauspieler auf. Dass Betrachten des Bühnenvorgangs, wie auch immer er ausgestaltet sein mag, scheint somit für ihn obsolet, wäre da nicht die Virtuosität der Darsteller, das Unverwechselbare der Schauspieler.
Sie bilden immer noch den Kern des Schauspiels und sind ihm, dem normalen Poster mit ihren Fertigkeiten weit überlegen und deshalb betrachtet am Ende der gemeine Poster doch wieder die Bühne.
Rede Björn Bicker: das "Als ob" besteht weiter II
Sicherlich ist es so, dass wenn man ihm weiterhin nur die auf die Realität kritisch abgeklopften Klassiker vorsetzt, wie es schon im Bremen der Siebziger geschah, er sich als bald abwenden wird, denn selbst ein durch einen kritischen Diskurs, eine Dekonstruktion oder einen Einfall entstellter oder aber erweiterter Klassiker reicht in der Tat bei weitem nicht mehr an die Realität des heutigen Zuschauers heran und ebenso ergeht es vielen performativen Veranstaltungen, was nicht dagegen spricht, dass sich der gemeine Poster nicht doch durch eine gute Vorstellung einnehmen lassen könnte.
Das „als ob“ ist dabei ein „Muss“, nur eines das heute exzessiv auf beiden Seiten betrieben wird. Der Betrachter befindet sich, ebenso wie der Darsteller in einer vielschichtigen Situation, denn er, der Zuschauer performt seine Betrachtung ebenso, als sei es ein „als ob“ und berichtet eventuell schon während des Wahrnehmungsvorgangs per Twitter (spätestens aber danach) von dem Erlebten und von der Bühne twittert es live zurück. Aber eben nicht nur von der Bühne, sondern auch auf der Bühne der Smartphones und anderer Medien gewittert das gerade Erlebte hin und her in einem heiteren oder dämlich Durcheinander von geglaubten Realitäten oder Wirklichem, das in ein „als ob“ gepresst wurde und einem „als ob“, dass krankhaft von sich behaupten möchte real und der Vielfalt des Realen gewachsen zu sein.
So starren sich auf beiden Seiten virtuelle Fenster gegenseitig an und das gute alte „als ob“ feiert fröhliche Urstände.
Rede Björn Bicker: unter einem "Als ob" muss niemand leiden
@ martin baucks: Wenn wir uns - Ihnen nach - nur noch im "als ob" begegnen können, wer ist dann verantwortlich für unsere Handlungen? Unser Schein-Ich? Gibt es einen freien Willen oder ist er eine Illusion? Muss es nicht zumindest die Vorstellung eines freien Willens geben? Anatomie, Medizin und Neurologie haben nichts verstanden vom Menschen. Der Mensch ist soviel mehr als das. Lustig ist all das wohl aber nur für den, welcher eben nicht nur "als ob", sondern auch tatsächlich informiert wurde/wird. Informationsmonopole und Intransparenz sind eine Form von Macht. Anders formuliert: Unter einem "als ob" muss niemand leiden, denn ein - ob nun sichtbares oder unsichtbares - "als ob" hat keine Ein- bzw. Auswirkungen auf reale Körper bzw. Leben. Da liegt der Unterschied. Theater - egal in welcher Form - ist immer gespielt. Bewusst, geplant und entschieden gespielt. Wer die öffentliche Theaterbühne mit einem privaten Wohnraum verwechselt, hat nichts verstanden. Es sei denn, er hätte vorher einen Antrag auf z.B. "X-Wohnungen" gestellt.
Rede Björn Bicker: deutlich erkennbar
@ martin baucks: Und noch was zu später Stunde. Sie machen ja Scherze! Ein deutlich erkennbarer Däne, Franzose, Pole, Asiate, Afrikaner, Engländer, Schwede. Abgesehen davon, dass Asien und Afrika keine Länder bzw. Nationen sind, ist Ihr Satz absurd. Was heisst denn hier "deutlich erkennbar"? Ebenso gut könnten Sie nach einem deutlich erkennbaren Psychotiker sprechen. Sind das jetzt so Menschen mit Pinguinstofftieren auf dem Kopf, die sich selbst in die Psychiatrie einweisen? Wie z.B. Wolfgang Herrndorf? Oder ein Schauspieler, den ich heute auf dem Markt traf, wenn er es denn war? Deutlich erkennen konnte ich es/ihn in dem Moment nicht.
Rede Björn Bicker: sichtbar machen
Liebe Inga, das Theater ist dazu da Vorgänge nach außen sichtbar zu machen.
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