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Autor, Regisseur und Intendant René Pollesch verstorben

René Pollesch (1962–2024) © Schauspielhaus Zürich

26. Februar 2024. Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch ist heute früh im Alter von 61 Jahren verstorben, wie die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mitteilt. Pollesch war seit 2001 eine der prägenden Künstlerpersönlichkeiten und seit 2021 Intendant des Hauses. Zur Todesursache gibt es aktuell keine Information.

René Pollesch wurde am 29. Oktober 1962 in Dorheim/Friedberg in Hessen geboren und studierte in den 1980er Jahren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann. Als Autor und Regisseur (mit Regiearbeiten stets nur für die eigenen Texte) wurde er eine der prägenden Stimmen im Gegenwartstheater.

Diskurstheater mit Vorbildstatus

Sein von poststrukturalistischer Theorie inspiriertes Schreiben erlangte unter dem Label "Diskurstheater" paradigmatischen Status und fand zahlreiche Nachahmer*innen. Statt Figuren, nacherzählbaren Handlungen oder Konflikten brachte Pollesch einen unablässigen, stets an der Grenze zur Überforderung dahinströmenden Redefluss auf die Bühne. Neue Stücke von ihm waren in Teilen Variationen bereits vorangegangener Werke. Zum Nachspiel durch andere Regisseur*innen waren sie (mit Ausnahme eines Experiments im Volksbühnen-Prater in den frühen nuller Jahren) nicht freigegeben.

Polleschs Inszenierungen zeigten die Handschrift des Komikers, waren oft von Unterhaltungsformaten und Boulevardspielweisen beeinflusst. Viele Stücke nahmen thematische und erzählerische Anleihen beim Arthouse-Kino.

Vertraute Spieler*innen über Jahrzehnte

Pollesch arbeitete an diversen deutschsprachigen Theatern, doch mit einer überschaubaren Anzahl an Protagonist*innen. Sophie Rois, Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Milan Peschel und Fabian Hinrichs waren über Jahre in immer neuen Konstellationen dabei. Mit Fabian Hinrichs brachte er erst vor zwei Wochen das Solo ja  nichts ist ok an der Volksbühne heraus, das von der Kritik gefeiert wurde. Es stand noch am gestrigen Abend auf dem Spielplan der Volksbühne.

Bis zu dessen Tod war der Bühnenbildner Bert Neumann ein enger Vertrauter Polleschs, seither arbeitete er wiederholt mit so stilbildenden Künstlerinnen wie Anna Viebrock und Katrin Brack zusammen. Die Kostümbildnerinnen Nina von Mechow und Tabea Braun waren über Jahre enge Mitarbeiterinnen in seinem Theater.

Rückkehr ins Zentrum des eigenen Schaffens

René Pollesch wurde mehrfach zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen und gewann den dortigen Wettbewerb um den Mülheimer Dramatikpreis zwei Mal, mit "world wide web-slums" (2001) und "Cappuccetto Rosso" (2006). Zum Berliner Theatertreffen war er mit "Stadt als Beute / Insourcing des Zuhause Menschen in Scheiss-Hotels / Sex" (2002) und Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012) eingeladen.

Neben Intendant Frank Castorf war René Pollesch ab 2001 der prägende Regisseur der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Nach dem Abschied von Castorf 2017 verließ er das Haus. 2021 kehrte er gemeinsam mit Schauspielkünstler*innen wie Martin Wuttke und Kathrin Angerer, bald auch Sophie Rois an seine frühere Wirkungsstätte zurück.

Die Nachtkritiker*innen Esther Slevogt, Christine Wahl, Christian Rakow und Janis El-Bira blicken hier in persönlichen Nachrufen auf René Polleschs Werk zurück.

(Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz / eph / chr)

Mehr zum Thema:

 

René Pollesch spricht über sein Theater in der Reihe "Neue Dramatik in 12 Positionen" von nachtkritik.de und dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin

 

 

Aus den Nachrufen

"Du der große Poet, den wir haben im Theater. Voller Schmerz und Lust, voller Sehnsucht, voller Träume, voller Desillusionierungen," schreibt Fabian Hinrichs in der SZ (27.2.2024), die darüber hinaus noch weitere Stimmen von Freunden und Weggefährten gesammelt hat (Sibylle Berg, Ersan Mondtag, Harald Schmidt, Matthias Lilienthal, Bernd Schmidt et. al.)"Ich habe Dich vor Augen, mit Deiner ganzen großen Menschlichkeit habe ich Dich vor Augen."

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (26.2.2024) erinnert sich an Polleschs frühe Arbeiten: "Sie hasteten im Kreis, hechelten die Sachliteratur durch, kriegten sich nicht ein und rasselten immer schneller, immer lauter, immer tiefer in eine Leere, als wäre es eine Wasserrutsche mit Loopings und Konfetti. Endlich konnte man seine Freunde mit bestem Gewissen mit ins Theater schleppen!“ Durchaus ähnlich sei dieses Grundgefühl bis zuletzt gewesen, was aber nicht bedeute, dass Pollesch es sich nicht in der Wiederholung gemütlich gemacht hätte. "Seine Stücke, die er während der Proben entwickelte, mit den Schauspielern, die er in einer sich ständig vergrößernden Familie in allen Ecken der Republik für seine Kunst gewann, bewegten sich mitunter nur ein paar Millimeter weiter, manchmal fielen sie auch wieder zurück – aber dennoch ist es doch eher ein Wunder an Ausdauer und Ernsthaftigkeit, dass der lächelnde Pollesch nie aufhören konnte, sich dort hineinzunadeln, wo der Schmerz des modernen Daseins sitzt."

"René Pollesch hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten mit verblüffender Leichtigkeit und innerer Unabhängigkeit vorgeführt, dass Theater gleichzeitig extrem unterhaltsam und auf der Höhe avancierter soziologischer Debatten sein kann. Das war schauspielerisch virtuos, umwerfend lässig, fast immer überraschend und nie langweilig, schon weil in Polleschs Stücken pro Minute mehr interessante Gedanken aufblitzten als woanders in der ganzen Spielzeit: Kapitalismuskritik mit Spaß und Entertainment-Raffinesse“, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (26.2.2024).

Simon Strauß von der FAZ (27.2.2023) schreibt: "Pollesch konnte das komische Register ziehen, er konnte bitterböse Pointen verfassen, rasante Dialoge schreiben, postdramatische Zeitenwenden grell bebildern. Aber was er vor allem konnte, war die angelesene Theorie wirkungsvoll auf die Bühne bringen. Er, der am liebsten einen unablässig dahinströmenden Redefluss inszenierte, vorgetragen von seinen Lieblingsschauspielern Martin Wuttke, Sophie Rois, Kathrin Angerer, Milan Peschel oder Fabian Hinrichs, er, der in Referenzen dachte und leicht wehmütig auf die Kraftfelder der Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückschaute, war von Beginn an ein schreibender Regisseur. Einer, der die letzten Pointen noch kurz vor der Generalprobe nachtrug, der seine Zuschauer mit den vielen losen Enden ihrer eigenen Kommunikation zur Weißglut trieb."

"Irgendwann waren die Pollesch-Sätze den Schauspielern derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass man meinte, Theorie könne, derart großgemacht und heißgeredet, alles zugleich sein. Sie könne tanzen, tönen, Salti schlagen. Vor allem erstattete der Regisseur-Autor Pollesch den Figuren auf der Bühne die Sehnsüchte zurück, die ihnen der Markt sonst entreißt, um sie sich anzueignen", schreibt Ronald Pohl vom Standard (26.2.2024).

"Kaum jemand hat auf dem Theater die Wirklichkeit, die Phrase so hartnäckig unausweichlich demaskiert wie René Pollesch. Er hat die rote Linie zwischen Philosophie und Klamauk gekannt und sie stets mit grösster Lust an Verwirrung und Verirrung überschritten. Pollesch-Abende waren eine Vorschule in Sachen Gegenwartsanalyse, die sich aufführten wie Stammtischrunden“, schreibt Bernd Noack von der Neuen Zürcher Zeitung (27.2.2024).

"Pollesch war ein ungewöhnlich menschlicher, unverstellter, lebensnaher Künstler, der uns in seinen Texten immer auch an seinem Leiden am Leben teilhaben ließ. Er schrieb über die Liebe, aber auch übers Verlassenwerden und über unser aller Einsamkeit in dieser Welt", so Barbara Behrendt vom RBB (27.2.2024).

"René Pollesch hat mit seinen pointenreichen Diskurstheaterstücken als Autor und Regisseur ein eigenes Genre erfunden. Er war zwar nicht der einzige Protagonist des postdramatischen Theaters, das Figuren und Handlung über Bord warf, und stattdessen theoretische Gedanken zum Tanzen bringt, aber er hatte damit den größten Erfolg, seit inzwischen mehr als zwanzig Jahren", schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (27.2.2024). "Nicht die Eindeutigkeit einer Botschaft war das Ziel, sondern das ständige Weiterdenken, Entwickeln neuer Zweifel an der gerade gefassten Erkenntnis. Das hatte nicht selten etwas zugleich Verzweifeltes und Komisches."

"Was dieser Verlust bedeutet – nicht nur für die Volksbühne, sondern für das Gegenwartstheater überhaupt –, lässt sich kaum ermessen“, so Erik Zielke vom nd (27.2.2024). "Böse Zungen sprachen davon, dass sich sämtliche Inszenierungen letztlich glichen. Dieses Urteil war Folge der oberflächlichsten Beobachtung. Gleich war all seinen Inszenierungen nur die Absage an ein verlogenes bürgerliches Illusionstheater und der Versuch, Gegenwart philosophisch und theatral zu durchdringen. Mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen – mitunter waren sie herausragend und entließen das Publikum ideentrunken aus dem Saal."

"200 Stücke, diese sagenhafte Zahl stand am Ende im Raum, soll es von ihm geben," schreibt Peter Kümmel auf Zeit online (27.2.2024). "Er selbst zählte sie nicht und prahlte nie mit seiner Produktivität. Er inszeniere und schreibe fünf Stücke im Jahr, so sagte er abwiegelnd, jede Produktion dauere sechs Wochen, da bleibe noch genug Zeit zum Lesen. Und was las er? Kaum Romane, Fiktion hielt ihn auf und langweilte ihn; er wollte sich nicht von Fremden durch die Inneneinrichtungen ausgedachter Häuser führen lassen. Er las Theorie. Und was fürs Lesen galt, galt auch fürs Schreiben: Es war auf Durchblick angelegt, nicht auf Festlichkeit. Er selbst kam in seinen eigenen Texten nie vor, er hasste die Idee, anderen sein Privatleben mittels Kunst "unterzujubeln". Er schrieb nicht, um die eigene Existenz festzuhalten, sondern, um Theorien zu verstehen. Im Grunde zogen seine Theaterstücke eine Leseschneise durch das maßgebliche Theoriematerial unserer Zeit."

"René Pollesch ist in seinen arbeitsreichen Jahren gelungen, was wenige Theaterleute von sich behaupten können – er hat die Art und Weise verändert, wie wir Theater denken, wie Theater gespielt werden kann, was Theater ist," schreibt Mathias Dell bei Cargo (27.2.2024). "René Pollesch hat das politische Theater neu erfunden, das in Deutschland lange auf einen anstrengenden Namen wie Agitprop gehört hat. Der Trick ist die Sprechweise – die heitere Verzweiflung von Leuten, die zu viele Probleme haben und sich, wenn sie sich darüber beklagen, eher zu wundern scheinen. Darin steckt etwas Subversives, Entwaffnendes, das öffnet etwas und ist zugleich unterhaltsam, selbstironisch, das ist das Gegenteil des Rumgeopferes, mit dem sich die Rechten in den letzten Jahren in die öffentliche Debatte gejammert haben."

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Kommentare  
René Pollesch verstorben: Was?
Das gibt es doch nicht, was wie warum?
René Pollesch verstorben: Großer, großer Verlust
Das kann doch nicht wahr sein. Unglaublich. Ein großer, großer Verlust.
Renè Pollesch verstorben: Unfassbar!
Unfassbar! Ruhe in Frieden! :(
René Pollesch verstorben: Traurig
Wie traurig. (...) Es geht ein ganz Großer ab. Ruhe in Frieden!

(Anm. Redaktion. Eine unüberprüfbare Information wurde aus diesem Kommentar entfernt.)
René Pollesch verstorben: Ein Schrei durch die Nacht
Da hilft kein Schrei, helfen keine Worte. Die Welt steht einfach still, zumindest für ein paar Minuten, Stunden, im Theater für Jahre!
Lieber Rene Pollesch, dein Tod ist so unverständlich, so nicht hinnehmbar, so gar nicht zu verstehen. Ich bin wütend, so jemand wie du geht nicht so einfach und so heimlich. Du hinterlässt eine große Familie, Hinrichs, Wuttke, Angerer, Rois... wir werden dich feiern als einen, der das Theater verändert hat, als einen der immer fehlen wird. In Frieden ruhen, unmöglich. Du bist und bleibst unter uns.
Eine ewige andauernde Umarmung!
Renè Pollesch verstorben: Du wirst fehlen
Unfassbar schade. Du wirst fehlen
René Pollesch verstorben: Stille
Wie ein Blitz traf die Nachricht - jetzt Stille. Verneigung. Danke
René Pollesch verstorben: Mein Beileid
Viel zu früh. Mein Beileid an an alle Freund:innen und Weggefährt:innen und Mitarbeiter:innen. Das Erbe ist gross und wird uns alle für Jahrhunderte inspirieren.
René Pollesch verstorben: Rettung
Geht es Dir gut??????? Du warst so oft unsere Rettung!!! Danke, dort, wo Du bist. Wir weinen und wir lachen! Wir lieben Dich! Danke René Pollesch!!!
René Pollesch verstorben: Sprachlos
ich dachte ich lese nicht recht - sprachlos und unendlich traurig. Was für ein Verlust, für Die, die ihm nahestehen und das Theater insgesamt.
Rene Pollesch verstorben: Dank für Inspiration
Such sad news! You were fearless and irreverent but always thoroughly entertaining. In my opinion, you belong in the canon of great German dramatists. I remember how those crazy WWW.Slums nights rekindled my faith in Theatre and what it can achieve, all those years ago in Hamburg. Thank you so much for inspiring and enriching me - and many others like me.
René Pollesch verstorben: Trauer
"Augen sind nicht zum Sehen gemacht,sondern zum Weinen.
und das ausschließlich."

und bei aller Trauer um diesen tollen Menschen,
mein Glas bleibt halbvoll.



ich vermisse ihn,
wir vermissen ihn,
aber er ist dagewesen
und wird es dadurch auch immer bleiben.
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