Im Dickicht der Städte - Tina Lanik inszeniert Brecht am Uraufführungsort
Wo sich Geld stapelt, ist Glück nicht unbedingt zuhause
von Georg Kasch
München, 3. November 2007. Als am 9. Mai 1923 Bertolt Brechts drittes Stück "Im Dickicht der Städte" im Münchner Residenztheater (unter dem Titel "Im Dickicht") uraufgeführt wurde, kostete der günstigste Platz 1200 Mark, der teuerste 8000 Mark. Inflation, Arbeitslosigkeit, Putschversuche, Verarmung des Mittelstands – noch zur Premiere erlebte das Publikum jenes Chaos vor der Haustür, das der Dichter im Stück skizziert.
Und heute? Abwanderung von Arbeit, soziale Schere, Prekariat. Das Chaos heißt Globalisierung und sieht in Tina Laniks Inszenierung am Residenztheater so aus: In der zweiten Szene ist die Bühne mit lautstark telefonierenden Asiatinnen gefüllt. Sie formen sich wenig später zu Reihen; chinesische Parteitage lassen grüßen. Dass Gargas Familie, durchgefüttert vom asiatischen Holzhändler Shlink, bald in Kimonos und Seidenkleidern herumläuft, passt da gut ins Bild. Trotz asiatischer Accessoires und gelegentlichem Bauboom- und Handylärm war’s das auch schon mit aktuellen Anspielungen. Nicht zum Schaden des Stücks.
Kampf zweier Männer inmitten telefonierender Asiaten
Im Mittelpunkt steht bei Lanik der rätselhafte Kampf zwischen Shlink und Garga. Am Anfang ist die Bühne leer. Überschwänglich, jugendlich, clownesk kommt Thomas Loibls George Garga mit Tisch, Stuhl und Büchern daher. Ein kleiner Leihbüchereiangestellter mit armer Familie, dessen Lebenshöhepunkte in einer Flasche Whisky und seiner Freundin Jane bestehen. Ein Idealist, der an gute Bücher glaubt und sich von seiner Ansicht auch nicht durch das unmoralische Angebot des malaiischen Holzhändlers Shlink korrumpieren lässt.
Weil er das Angebot nicht annimmt und dafür entlassen wird, erwählt ihn Shlink als Kampfgegner. Sind da die Fronten noch klar verteilt – Aggressor Shlink gegen das Unschuldslamm Garga –, so wird die Geschichte interessant, als Shlink Garga sein Unternehmen überlässt. Nicht wegen Laniks Dreh, dass immer da, wo sich das Geld stapelt, das Glück gerade nicht zu Hause ist. Sondern weil nun der rätselhafte Kampf des unterschiedlichen Paares beginnt.
Das gute Leben und das Geld
Hier der vielgesichtige, kindliche, aufbrausende, beleidigte, betrunkene Garga Thomas Loibls, dort der in sich ruhende Shlink Rainer Bocks. Er übt einen devoten Blick, scheint erleichtert darüber, dass er das Geschäft endlich los ist – und ein Ziel hat. Während Gargas Masken und Stimmungen ständig wechseln, er sich verzweifelt bemüht, seinen Widersacher in die Knie zu zwingen und irgendwann keine Lust mehr auf den Kampf hat, bleibt Shlink sich treu. Ein federnd ironischer Spielemacher bis zum Schluss, als er sich eine Kugel durch den Kopf jagt.
Mehrfach geraten sie höchst körperlich aneinander, gehen mit Degen, Maschinengewehren oder den bloßen Händen aufeinander los, während die Schauspieler-Band im Hintergrund Tocotronics "Kapitulation" schmettert. Shlink kämpft, um die Entfremdung der Menschen untereinander zu überwinden. Garga aber geht am Ende nach New York mit den Worten: "Allein sein ist eine gute Sache." Eine Geschichte ergibt das nicht. Psychologisch ist wenig zu holen.
Schaumgeborene des Wohlstands
Lanik setzt die Szenen nebeneinander und findet mit ihrer Bühnenbildnerin Magdalena Gut ausdrucksstarke Bilder zwischen Revue und Apokalypse: glitzernde Vorhänge und chinesische Lampions; eine vollgestopfte, quietschbunte Kleinbürgerhochzeitsgesellschaft, hinter der knisternde Wunderkerzen ein "Just married" malen; fallend-wabernder Schaum. Neu ist das nicht. Aber hübsch anzuschauen, zumal die Regisseurin zwischendurch immer wieder den kahlen Bühnenraum zeigt, als wolle sie "Glotzt doch nicht so romantisch!" rufen.
Darauf könnte man tatsächlich verfallen, weil manchmal die dekadente Gesellschaft etwas zu pittoresk bebildert wird mit halbnacktem Zuhälter, Strapsen, Körperfarbe oder einer kleinen Essensschlacht in der Hochzeitsszene. Das können Castorfianer besser. Hier wirkt es vor allem ratlos und brav. Lanik kann sich allerdings auf ihr Ensemble verlassen, in dem neben den beiden Widersachern vor allem Ulrike Arnold als mephistophelische Hotelbesitzerin und Barbara Melzl als hysterisch-heruntergekommene Garga-Schwester Marie auffallen. Und so gab es, anders als bei der Uraufführung vor gut 84 Jahren, keinen Skandal, sondern freundlichen Applaus.
Im Dickicht der Städte
von Bertolt Brecht
Regie: Tina Lanik, Bühne: Magdalena Gut, Kostüme: Su Sigmund, Musik: Rainer Jörissen.
Mit: Ulrike Arnold, Gabriele Dossi, Marina Galic, Barbara Melzl, Anne Schäfer, Peter Albers, Ulrich Beseler, Rainer Bock, Thomas Loibl, Wolfgang Menardi, Arnulf Schumacher, Sebastian Winkler.
www.bayerischesstaatsschauspiel.de
Kritikenrundschau
Von Inszenierung keine Spur, entdeckt Christine Diller bei Tina Laniks Auseinandersetzung mit Brechts Dickicht der Städte. Sie schreibt in der Frankfurter Rundschau (6.11.2007): "Was heißt da: inszenierte? Sie komponierte Bilder, effektvolle ..., meist aber inhaltsarme." Nicht zu sehen sei der "atemberaubende" Kampf zwischen Garga und Shlink. Fehlende oder einfältige Motivation der Vorgänge, der Einbruch des Absurden gescheitert, weil das Reale vorher erst gar nicht behauptet werde - "Kapitulation ohoho" zitierten "ein paar Schrammel-Musiker auf der Bühne" Tocotronic. "Dabei kapituliert hier außer Lanik überhaupt keiner." - "Beim jungen Brecht und der gleichfalls noch jungen Tina Lanik handelt es sich allerdings (noch) um verschiedene Gewichtsklassen."
Teresa Grenzmann schreibt in der FAZ (6.11.2007), Tina Laniks erste Brecht-Inszenierung sei voller Überbevölkerungs- und Einsamkeitsbildmetaphern, vor allem aber "ein Versuch über brechtsche Bühnendickichte" (was immer das bedeuten mag). "Lanik kann nicht an diesem Brecht scheitern, weil sie sich erst gar nicht an ihm versucht." Und sich gleichzeitig auch aller aktuellen Bezugnahme enthalte. Rätselhaft tropft und kriecht Schaum, rätselhaft stehen Nebenauftritte im Zentrum des Geschehens, minutenlang spricht eine Schauspielerin chinesisch, ein andermal kämpfen Slink und Garga einen flüchtigen Fecht-, Ring-, MG- oder Schaumgummiknüppelkampf". Einen Weg durch den" zweistündigen Abend der Bilder" findet Frau Grenzmann nicht.
Joachim Kaiser, der Kritikerdoyen der Süddeutschen Zeitung (5.11.2007), ist aus dem Häuschen: Die besten Momente der "Dickicht"-Aufführung Tina Laniks, brauchten "wirklich keinen Vergleich mit berühmten Brecht-Aufführungen zu scheuen". Kaiser hat "sinnliches Theater" gesehen, welches das Brecht-Drama "in die Späre des Revuehaften" transportiere, mit "genau passenden Songs" und einer "höchst hilfreich eingesetzten Requisite". Und mit Schauspielern, die die "Dialoge getreulich beim Wort nahmen". Rainer Bock als Shlink agiere "sorgfältig und fesselnd", wenn auch manchmal in einem "altherrenhaften, fast hamburgisch nöligen Ton"; und Thomas Loibl als Garga hatte etwas "von der gefährlichen Eigenliebe des Idealisten, die nur zu leicht umschlägt in brutal realistische Herrschsucht."
Sabine Dultz hält im Oberbayerischen Volksblatt (5.11.2007) dagegen. Zwar hebt auch sie die beiden Protagonisten hervor – Loibl gebe seinem Garga "die überlegene Kraft der Jugend", und Bock spiele "einen so gefährlichen wie komischen und melancholischen Shlink" –, allein die Regie Tina Laniks verfalle doch "stellenweise allzu detailverliebt in ein Psychologisieren, als handele es sich um einen Text des realistischen Theaters." Sich fragend, was Tina Lanik eigentlich mit dem Stück erzählen wolle, nimmt Frau Dultz nicht mehr mit nach Hause, "als dass die Städte voll, der Lärm groß und das Schauspiel dazu hübsch anzusehen sind".
Gabriella Lorenz von der Münchner Abendzeitung (5.11.2007) entdeckte an Tina Laniks Inszenierung einen "kabarettistischen Revue-Touch, der in der zweiten Hälfte in exzessiver Schaumschlägerei absäuft". Bock und Loibl seien "ein starkes Gegner-Duo", letzterer gebe den Garga als "wütenden Kraftlackl, großmäulig racheschäumend und komisch unbeholfen". Der herabschneiende Seifenschaum jedoch, der sich zum Ende hin allmählich die Bühne erobere, dämpfe "mit zäher Weichheit den vorherigen Furor zu einem Ende ohne Spannung."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
- zu Im Dickicht der Städte in München
- #1
- tom.kadi
- Im Dickicht der Städte: seltsam unbefriedigend
- #2
- Jonathan
meldungen >
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
- 01. September 2024 Bremerhaven: Herzlieb-Kohut-Preis für Lindhorst-Apfelthaler
- 30. August 2024 Theater an der Ruhr: Neue Leitungsstruktur
- 29. August 2024 Boy-Gobert-Preis 2024 für Dennis Svensson
- 28. August 2024 Umstrukturierung beim Bayreuther Festspielchor
- 27. August 2024 Göttingen: Sanierung des Deutschen Theaters gebremst
- 23. August 2024 IT Amsterdam beendet Arbeit mit Ivo Van Hove
neueste kommentare >
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
-
Doktormutter Faust, Essen Eher entmächtigt
-
Vorwürfe Ivo Van Hove Zweierlei Maß
-
Doktormutter Faust, Essen Sprachrettung
-
Hamlet, Wien Verwirrend
-
Hamlet, Wien Das Nicht-Sein des deutschen Theaters
-
Doktormutter Faust, Essen Unbehagen
-
Prozess Trier Danke
-
Prozess Trier Dank
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau