Die vierzig Tage des Musa Dagh - Am Residenztheater München macht Nuran David Calis eine Geschichtslektion aus dem Roman von Franz Werfel
Die Vergangenheit will nicht ruhen
von Petra Hallmayer
München, 13. Mai 2016. "Gespenster ... Doch nicht von Menschen. Gespenster von Affen ... Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen. Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr die Zehntausende von Leichen zu begraben. Deïr es Zor, das ist ein ungeheurer Abort des Todes ...", erklärt ein Hauptmann in Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh". Mit einem höllenfinsteren Kapitel der Geschichte, dem von der Türkei bis heute geleugneten Genozid an den Armeniern, befasst sich Nuran David Calis in seiner gleichnamigen Inszenierung. Von der Romanvorlage entfernte sich diese im Verlauf der Proben allerdings zunehmend, und so hat er kurz vor der Premiere den Untertitel "Über Identität, Trauma und Tabu nach Motiven von Franz Werfel" hinzugefügt.
Der Sohn eines armenischen Vaters und einer jüdischen Mutter, der als Kind aus der Türkei nach Deutschland kam, begibt sich mit seinem deutsch-türkisch-armenischen Ensemble auf eine Reise in die Vergangenheit und eine Spurensuche in der Gegenwart. Ein Rundpanorama mit vergilbten Fotos von armenischen Dörfern empfängt die Zuschauer im Marstall. Auf der Bühne stehen Bildschirme und Schreibtische. Hier nehmen Daron Yates und Ismail Deniz Platz, der aus einem türkischen Geschichtsbuch für Gymnasiasten vorliest. "Das ist unsere Wahrheit", meint er. "Damit wachsen wir auf." Er erinnert sich an die Geschichten seiner Großmutter über armenische Banden, die in türkischen Dörfern wüteten, ehe Yates das Wort ergreift. Eindringlich spricht dieser über seine Hassliebe zur Türkei, das grausame Schicksal seiner armenischen Familie und trägt Ausschnitte aus einem von seinem Vater entworfenen Drehbuch vor, während über seinem Kopf entsetzliche Bilder von ausgemergelten Leichen, abgeschlagenen und aufgespießten Köpfen erscheinen.
Bühne als Diskussionsraum
Mit der Konfrontation zweier konträrer Versionen der Geschichte, die in einen hitzigen Streit mündet, eröffnet Calis die Aufführung, eine Collage aus dokumentarischem Material, biografischen Erzählungen der Akteure und Passagen aus Werfels Roman, der den Widerstand einer Gruppe von Armeniern schildert, die sich, um der mörderischen Vertreibung zu entgehen, 1915 auf dem Berg Musa Dagh verschanzten.
Spielszenen gibt es nur selten. "Die vierzig Tage des Musa Dagh" sind weniger eine Theaterinszenierung als eine Geschichtslektion und ein Themenprojekt, in dem die Bühne zum Diskussionsraum wird für Fragen nach der Verantwortung von Individuen und Nationen, der Bedeutung kollektiver Traumata für die Nachgeborenen. Dabei entwickelt der Abend gerade dann, wenn er die persönliche Betroffenheit der Schauspieler, ihre Wut, ihren Schmerz und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit den unfassbaren Massakern bloßlegt, eine große emotionale Intensität und beklemmende Wucht. Nicht zuletzt setzt er sich natürlich auch mit der beschämenden Rolle Deutschlands auseinander, das den Völkermord duldete, um die Gunst seines militärischen Bündnispartners Türkei nicht zu verlieren. Reihum präsentiert das Ensemble Stapel historischer Korrespondenzen, gruselige Zeugnisse deutscher Schuld.
Fülle an Fakten
Im Gegensatz zur eigenen Lektüre aber hat solche Detailgenauigkeit im Theater etwas Erschlagendes. Stellenweise überfrachtet Calis sein Projekt, das eine Fülle an Fakten, narrativen und diskursiven Strängen ausbreitet und dem immer wieder eine schlüssige dramaturgische Struktur fehlt. In zwei Einschüben greift der Regisseur auf Werfels Roman zurück, doch es gelingt ihm nicht, sie überzeugend einzubinden: In einem langen Gespräch versucht der evangelische Theologe Johannes Lepsius (Bijan Zamani) als Anwalt der Armenier vergebens auf den türkischen Oberbefehlshaber Enver Pascha (Michaela Steiger) einzuwirken. Unvermittelt tragen die Schauspieler irgendwann Auszüge aus jenem Kapitel vor, in dem Gabriel Bagradian und Ter Haigasun den Widerstandsgeist der Dorfbewohner wecken. So plötzlich wie die Figuren auftauchen, verschwinden sie wieder.
Gegen Ende aber gewinnt der Abend noch einmal an Eindringlichkeit. Da beschwört Bijan Zamani erst cool und lässig, dann mit wachsendem Zorn die beiden Vertreter von Opfer- und Täterfamilien die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich zu versöhnen. Er rastet aus und brüllt sie an, den ererbten Hass nicht an die nächste Generation weiterzugeben. Schweigend hüllt sich Ismail Deniz in die türkische Flagge, während Daron Yates sich zurückzieht und sich in das Drehbuch seines Vaters versenkt.
Die vierzig Tage des Musa Dagh
Über Identität, Trauma und Tabu nach Motiven von Franz Werfel
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Amélie von Bülow, Musik: Vivan Bhatti, Licht: Uwe Grünewald, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Ismail Deniz, Friederike Ott, Michaela Steiger, Simon Werdelis, Daron Yates, Bijan Zamani.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
"Recherche ist ein Aspekt des Abends, und die Schauspieler tragen eben die Korrespondenzen vor, entwickeln quasi live Fotos, die sie unter einem Rundprospekt aufhängen", so Egbert tholl in der Süddeutschen Zeitung (17.5.2016). Auf dem Fundament der Recherche entwickele Calis, Regisseur mit türkischen, jüdischen und vor allem armenischen Wurzeln, die eigentliche Auseinandersetzung des Abends. "Dafür wird der theatralische Vorgang selbst (ein wenig naiv) thematisiert, vor allem aber treffen ein Armenier und ein Türke aufeinander, die Schauspieler Daron Yates und İsmail Deniz." Klar werde: "Würde die Regierung der Türkei den Genozid anerkennen, dann hätte sie gleich das nächste Problem, nämlich mit ihrem Umgang mit dem kurdischen Volk. Noch ein Aspekt des Abends, der die Hoffnung zunichtemacht."
"Aus Schweigen heraus entwickle der Regisseur und sein deutsch-türkisch-armenisches Ensemble einen zweistündigen Abend, dem etwas gelingt, was in dieser Form wohl nur auf der Theaterbühne möglich ist: eine unmittelbare emotionale und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Stoff", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (14.5.2016). Klugerweise nehme diesen Roman lediglich als Horizont für seine Arbeit und lasse nur zwei längere Passagen spielen. "Stattdessen öffnet er seine Inszenierung für Geschichten, Gedanken, Gefühle seiner Protagonisten." Diese theatrale Erinnerungsarbeit wirkt wie die Vorgänge in dem Fotolabor. Das Material, das die Darsteller präsentieren, schärfe die Konturen des Geschehens.
Anke Dürr macht auf Spiegel Online (14.5.2016) vier Stränge des Abends aus die, jeder für sich, einen eigenen hätten ergeben können. Besonders beeindruckt ist Dürr von Strang drei, "pures Dokumentartheater", das von der deutschen Mitschuld erzählt: "Aber es ist auch eine der wenigen Szenen, in denen für den Inhalt eine klare, direkte Form gefunden wurde." So bleibe Calis' "Musa Dagh"-Projekt eine vom Trauma des Regisseurs persönlich gefärbte Materialsammlung, der man die Last der Verantwortung ansehe, allen Seiten gerecht zu werden: "Ein Anfang."
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Sechs Schauspieler, reglos in einer Art offenem Stahlkasten stehend, fangen die Aufmerksamkeit des Publikums ein. Wie eine Schweigeminute für die Opfer des Völkermordes wirkt das lange Verharren. Gespannt erwartet man, welche unterschiedlichen Perspektiven die "eingekastelten" Personen einnehmen werden und wie dieses Thema überhaupt auf einer Bühne dargestellt werden kann.
Eine "Wunde aufreißen", eine "Gemeinsame Geschichte" schreiben, "Stunde Null" - so zeigen live vor der Kamera geschriebene Zettel wichtige Schritte in der Verarbeitung und Überwindung des seit 100 Jahren dauernden Zustandes zwischen Türken und Armeniern auf. Zwei Seiten aus einem türkischen Schulbuch im Fach Geschichte der 10. Jagst. Gymnasium sind alles was türkische Jugendliche über dieses Kapitel der gemeinsamen Vergangenheit erfahren - und darin wird die "Umsiedlung" quasi als legitime Verteidigung auf Aktionen seitens der Armenier in den Kampfhandlungen des ersten Weltkrieges dargestellt.
Der Münchner Inszenierung gelingt es durch geschickte Verknüpfung der Familiengeschichten zweier Schauspieler - einmal mit türkischem und einmal mit armenischem Hintergrund - den Koflikt in die Jetztzeit zu holen und emotional direkt spürbar zu machen, ohne sich mit einem "Betroffenheitstheater" zufrieden zu geben. Spielszenen, Dokumentarisches, Reflektionen über den Probenprozess und die persönliche Betroffenheit werden kombiniert und führen zu einer Intensität, die die Luft knistern lässt.
So ein Abend kann nicht "schön" oder "unterhaltend" sein. Das würde dem Thema nicht gerecht. Er ist fesselnd und intensiv, trifft den Kern - ermöglicht aber auch die nötige Distanz, mit der in die Zukunft gedacht werden kann.
Vielleicht sollte man sich an den Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, wie sie nach der Apartheid in Südafrika eingerichtet wurden, orientieren. Ziel war es, Opfer und Täter in einen "Dialog" zu bringen und somit eine Grundlage für die Versöhnung der zerstrittenen Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Nicht die Konfrontation, sondern die Wahrnehmung des "Anderen" stand im Vordergrund (Mahatma Gandhis Prinzipien des Satyagraha). Die Psychologin Pumla Gobold-Madikizela, die selbst Mitglied der Kommission war, meinte dazu: "Gerichte ermutigen Menschen, ihre Schuld zu bestreiten. Die Wahrheitskommission lädt sie ein, die Wahrheit zu sagen. Vor Gericht werden Schuldige bestraft, in der Wahrheitskommission werden Reuige belohnt."