Der Diener zweier Herren - Berliner Ensemble
Commedia dell'arte mit Überbiss
10. Dezember 2021. Eine Frau verkleidet sich als Mann, um den Geliebten zu suchen. Ein Diener redet sich aus Not gleich bei zwei Herren um Kopf und Kragen. Bei Carlo Goldoni sind Geschlechter- und Klassenverhältnisse noch unangetastet. Antú Romero Nunes und ein reines Frauenensemble mischen sie nun breitbeinig auf.
Von Christian Rakow
10. Dezember 2021. Eigentlich sollte man dieser Rezension gar keine Fotos beigeben. Denn der erste Auftritt von Constanze Becker, der war gerade in seiner Ungeahntheit hinreißend: Ein sperriger Cowboy tritt dort ein, der Oberkörper aufgeplustert, im Schritt der braunen Lederhose eine auffallende Beule ("dicke Eier" würde man wohl korrekterweise sagen), dazu ein verlauster Bart und der breitbeinige Gang, praktisch: Oberansager auf der Macker-Ranch. Da gab es Szenenapplaus, nicht den einzigen an diesem Abend.
Echte Männer mit falschen Bärten
Überhaupt hat die Kostümabteilung um Lena Schön und Helen Stein aufs Verwegenste aufgesattelt: Cynthia Micas mit horriblem Überbiss gibt die Karikatur eines Baumwollplantagenbesitzers; Judith Engel und Lili Epply sind zwei abgerissene Farm-Gehilfen mit zersausten Haaren und falschen Bärten. Epply würde als Braiden gern wie ein echter Bully zuschlagen, sobald ihm etwas nicht passt. Aber seinen schmalen Arme fehlt der Punch. Ständig kriegt er oder sie auf die Mütze.
Er oder sie? Das ist eigentlich ganz gleich an diesem Abend. Regisseur Antú Romero Nunes schickt ein komplett weibliches Team auf die große Bühne des Berliner Ensembles, und es spielt Männer wie Frauen und natürlich Frauen, die sich als Männer verkleiden, ohne allzu viel Gewese darum zu machen. Die Geschlechtergerangel und Eheanbahnungen, die in Carlo Goldonis Komödie "Der Diener zweier Herren" die Handlung antreiben, kommen hier allenfalls noch am Rande vor. Nunes konzentriert sich ganz auf Truffaldino, den im Titel angezeigten Diener zweier Herren, und seine sozialen Nöte, seinen andauernden Hunger, sein mangelndes Geld, die Schläge, die er als niederer Dienstleister beständig abbekommt.
Kaugummibreiter Redneck-Sprech
"Ich bin unsichtbar", sagt Stefanie Reinsperger eingangs an der Rampe hockend, und es klingt nach der Brecht'schen Unsichtbarkeit der Deklassierten ("die im Dunkeln sieht man nicht"). Eine Max und Moritz-Type ist dieser hier schlicht "Diener" genannte Truffaldino, aber milderen kindlichen Gemüts, in Lederhose, mit alpenländisch gefärbtem Englisch; sie führt ein Spielzeug-Lamm mit sich.
Nunes hat Goldonis Commedia dell'arte-Überklassiker (von 1746) in die amerikanischen Südstaaten verpflanzt und in seiner sehr freien Bearbeitung alles in ein kaugummibreites Südstaaten-Englisch getaucht. Wer mit diesem Redneck-Sprech nicht so vertraut ist, kriegt den Text auf Deutsch übertitelt. Allenthalben wird natürlich ein bewusst dilettantisches Denglisch gepflegt: "I have a ghost-lightning" – Ich habe einen Geistesblitz, so plappert Reinspergers Diener daher, English for runaways.
Mit fantasiesprachlichen Ausflügen hat Nunes (derzeit Schauspielchef im Kollektiv am Theater Basel) schon früher gute Erfahrungen gemacht. Vor drei Jahren gastierte der beim Berliner Theatertreffen mit einer klang-irgendwie-skandinavischen Murmel-"Odyssee" aus Hamburg. Freunde jener Arbeit sollten auch im Berliner Ensemble auf ihre Kosten kommen. Der Humor ist vordergründig, bissl ranschmeißerisch, bissl volkstheaterhaft direkt, aber eben auch prall. Szenen werden zu Nummern, und zum Höhepunkt rotiert und jongliert Reinsperger als Diener, der für zwei "Herren" (beide gespielt von Constanze Becker) fürstliche Essensgänge servieren muss.
Das Leben ist kein Zuckerschlecken
Das alles sieht mitunter aus, als sei eine abgerockte Version der Waltons auf die Bretter am Schiffbauerdamm gehopst und verharre jetzt ein wenig in der Western-Pose. Bei Goldoni hat man sich ja noch verkleidet und den Diener auf Botengänge geschickt, damit Ehen geschmiedet werden. In kurzen Szenen, mit rasendem Takt. Nunes entschleunigt. Er zeigt eine mafiöse Farmer-Riege, die im Grunde in der Überzeichnung still gestellt ist. Inmitten der "Quietlands", wie er das Setting nennt. Für Beckers Doppelrolle im Liebespaar Beatrice/Florindo (hier heißen sie Jolene March und Brody Brandson) gibt's darin ganz notwendig keine Auflösung und kein Happy Ending. Es gibt nur die obercoole Checker-Attitüde im XXL-Package.
Mit zunehmender Dauer zoomt Nunes immer stärker auf die Figur des sozial und kulturell Ausgeschlossenen, die Reinspergers Diener für ihn darstellt. Er ist Zugereister, Fremder. "Life is no sugar-licking", das Leben ist kein Zuckerschlecken, sagt Reinsperger und kriegt eine bittere Lektion erteilt, wie man sich in Gemeinschaften assimilieren muss: "Sag, was Du hasst", belehrt sie Judith Engel als Hank, "und wir entscheiden, ob wir das mögen, dass du das hasst und ob wir mit dir hassen wollen". So dunkelt sich die Komödie zum Finale hin ein. Bei Country-Klängen und singender Säge. Die Cowboys grinsen noch einmal selbstzufrieden. Und blutig hängt dazu das Opferlamm am Haken.
Der Diener zweier Herren
nach Carlo Goldoni
in einer englischen Bearbeitung von Antú Romero Nunes
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüm: Helen Stein, Lena Schön, Musik: Anna Bauer, Arne Bischoff, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Clara Topic-Matutin.
Mit: Constanze Becker, Stefanie Reinsperger, Cynthia Micas, Lili Epply, Judith Engel.
Premiere am 9. Dezember 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
"Liegt es am Konzept, das dem Ganzen Niveau gibt und mithin auch dem Kulturbürger erlaubt, sich würdig zu amüsieren? Weil nur Frauen besetzt sind, bekommen selbst die gängigsten Testosteron-Jokes einen doppelten Boden", speukuliert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (10.12.2021) und lobpreist die "fröhliche Unerschrockenheit der Schauspielerinnen". Und bei allem Spaß – "die Vergeblichkeit" (des Theaters, mit modernen Unterhaltungsanbieter:innen mitzuhalten) "schwingt immer mit und gibt dem komischen Unterfangen die nötige tragische Note."
"Die Regie wirft die harten Kerle den Schauspielerinnen zum Fraß vor, bis nicht nur die einzelnen Cowboys, sondern ihr ganzes Geschlecht nicht viel mehr als ein gespielter Witz sind", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (10.12.2021). Das sei allerdings ein "hervorragend gespielter Witz". Nunes verzichte "wohltuend auf die Publikumsbelehrungen" und liefere stattdessen "etwas vollkommen Altmodisches", nämlich "pure Spielfreude".
"Antú Romero Nunes hat die Typisierungen der Commedia dell’Arte auf das Western-Genre übertragen und dessen Klischeefiguren für die Theaterkomödie umgedeutet", meint Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.12.2021). Dabei erreiche er "wirklich etwas vom ephemeren Charme des Provisorischen, der die Commedia dell‘Arte auszeichnet und sich auch im Spiel des Ensembles wiederfindet". Die Inszenierung schnurre ab "wie frisch geölt", bleibe aber auch "kalt und erzwungen und oberflächlich".
Oliver Kranz im rbb online (10.12.2021) beschreibt die Darstellung der Männerfiguren durch das weibliche Ensemble als "derart schräg und überzeugend", dass die Frage nach dem Geschlecht kaum noch eine Rolle spiele. Sie bewegten sich in einer Kunstwelt, die sowohl an Western wie auch Horrofilm erinnere, zugleich aber auch an Kommödie und Slapstick. "Es passt nichts zusammen und trotzdem wirkt die Inszenierung wie aus einem Guss. Es ist wirklich faszinierend", so der Rezensent.
Im radioeins rbb (19.12.2021) erinnert sich Cora Knoblauch, schallend gelacht zu haben. Auf einen ziemlich überschaubaren Konflikt sei der Abend reduziert und in ein Westersetting versetzt. Das Ensemble könne hier gar nicht vergeigen - "völlig absurd maskiert" dürften sie "total einen vom Leder ziehen" in "lächerlichen supermännlichen Posen". Zwischendurch werde es zwar "so gaga", dass man sich frage, "was die Regie eigentlich geraucht habe". Über weite Strecken funktioniere der Klamauk aber. Der Abend sei eben vor allem eine Verneigung vor den großartigen Schauspielerinnen und deren komischen Talent.
"Zwei Stunden in dieser angestrengten Ami-Tonlage, mit monsterhässlichen Gebissen, das grenzt an Körperverletzung", stöhnt dagegen Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.12.2021). Die Frage, warum gerade "Der Diener zweier Herren" ein "Stück über Heimat und Fremde und Zuwanderer sein" solle, "wie es im Programmheft steht", erschließe sich nicht. Überhaupt sieht der Kritiker Nunes mit der Idee, das Stück auf Englisch zu spielen – "und dann auch noch in Fake-Southern-Accent, denn der Servant ist jetzt in den USA unterwegs, bei den Revolverschwingern, den dumpfen Brutalos, rückständigen Hillbillys, den Trumpers" – leider "auf dem auf dem wood way, aber completely". Es sei "schlimm, wenn so ein Theaterabend, auf den man sich sehr gefreut hat, zu ebenso flauen Witzen in der Kritik verleitet", befindet der Kritiker. Zumal man den Eindruck habe, "dass diese fabelhaften Schauspielerinnen schon loslegen würden". Aber die Regie wolle "Goldo-Nie!" Insofern, so das Fazit des Kritikers: "Besser sponge over, wie wir in Deutschland sagen. Schwamm drüber."
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