Die Griechen - Volker Braun weiht Griechenlands jüngste Geschichte zur Tragödie und Manfred Karge inszeniert im Berliner Ensemble die Uraufführung
Wutbürger im Faktendschungel
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 16. September 2016. Warum sich für die letzten zehn Minuten der weiße Vorhang doch noch öffnet zur Einsicht in den nackten schwarzen Bühnenraum, bleibt ein Rätsel. Wie so einiges andere an diesem knapp anderthalbstündigen Uraufführungs-Abend auf der Probebühne des Berliner Ensembles, an dem sich bis zu diesem Lüftungs-Moment 13 Schauspieler*innen mit 16 Stühlen quasi zweidimensional am Diptychon "Die Griechen" von Volker Braun abgearbeitet haben.
Parabel mit Zeitgeist
Brauns Ansatz ist im besten Sinne mutwillig: Er nimmt die in den Zeitungs-Druckereien geprägten Euro-Mythen der letzten fünf Jahre aufs Korn, indem er die jüngere Geschichte Griechenlands mit den Mitteln der antiken Tragödienschreibung nacherzählt. Leider stellt sich ziemlich schnell heraus, dass keiner der Beteiligten so recht zur tragischen Figur taugt, das Volk eingerechnet, das immerhin – am Ende in Gestalt einer Putzfrau (Swetlana Schönfeld) – noch am längsten darauf hoffen darf. Denn wir leben in der Postdemokratie, "dem Gewirre, wo kein Faden zu greifen ist". "Hier hat es begonnen. Wird es hier enden?" Schon als diese Sätze in der ersten Hälfte des Abends fallen, ist klar, dass es sich bei der Frage um eine rein rhetorische handelt.
Im ersten Teil geht es um den ersten wirtschaftlichen Kollaps unter der Regierung Papandreou, wobei der Text ein wenig wie ein anonymer User-Kommentar eines im Faktendschungel hängengebliebenen aufrechten Wutbürgers im Internet daherkommt. So detailreich wird Papandreous Sturz geschildert, dass man schnell den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, in dem man, sollte man auch nur für einen kurzen Moment nach der eigenen Erinnerung an die Zeitungsberichte aus der zweiten Hälfte 2011 suchen, ganz bestimmt gegen den nächsten Stamm gerannt sein wird. Autsch.
Aber bitte mit Sirtaki
Gleichzeitig sind die hölzern stelzenden Verse durchwütet vom Anspruch, dem Zeitgeist eine Parabel über die jeder Demokratie innewohnende Gefahr des populistischen Volks-Missbrauchs abzuringen. Eigentlich sollte das ja nicht so schwierig sein, im Moment. Aber wenn andauernd kryptische Seitenhiebe (am zugänglichsten noch der gegen den "fetten Venizelos") ausgeteilt und Referenzen ans Autoren-Revers geheftet werden müssen (man befindet sich schließlich in der Antike), dann kann es trotzdem danebengehen.
Manfred Karge inszeniert die Uraufführung mit einer gekürzten und zum Ende hin leicht veränderten Textfassung (das Stück ist ein Jahr alt), tut aber sonst nichts, um mehr Klarheit herzustellen als "Die Griechen" von sich aus anbieten. Die geschmacklose Rahmung bildet ein Sirtaki, mit dem es anfängt und endet und der auch zwischendurch mal schnell angesungen oder -getanzt wird, bevor das Ganze auseinanderfällt. Im ersten Teil beobachten die Spieler*innen als weißbehandschuhte zynische Conférenciers, die sich nur im Chor zu sprechen trauen, wie Papandreou (Joachim Nimtz) aus ihrer Stuhlreihe fällt. Als "weder Verbrecher noch Held" macht er den möglichst unehrenhaften Abgang.
In den Brunnen gefallen
Die Hauptfigur des zweiten Teils ist schon gleich bei ihrem ersten Auftritt eine enttäuschend zeitungsklischeekonforme Karikatur mit Motorradhelm und komischem kleinem Rucksack, und schnell zückt Varoufakis (Felix Tittel) auch seinen Stinkefinger. Kein Wunder, muss er in Manfred Karges Inszenierung ja gegen gleich drei Troiken antreten. Und einen "Eurotaurus". Dabei hilft ihm nur das als Putzfrau verkleidete Volk, vor dessen wahrem Auge aber natürlich auch er am Ende nicht bestehen kann. Das liegt auch daran, dass dieses Volk eben eigentlich nichts zu bieten hat außer im falschen Moment zu glauben und im falschen Moment nicht zu glauben, also eine immerhin unterhaltsam lächerliche Figur abzugeben.
Obwohl das Kind namens Demokratie ja schon in Teil eins in den Brunnen gefallen war, werden in Teil zwei noch einmal etliche Beschwörungsmittel aufgeboten, inklusive Hexameter und Bakchen, die Varoufakis beim Kampf gegen den Eurotaurus helfen sollen. Ab und zu versucht das Antikenmedley sich per Sprachspiel selbst zu ironisieren, dann ist zum Beispiel vom "spartanischen Leben" mit einer um zwei Drittel gekürzten Rente die Rede. Doch mehr und mehr wird es zu einer Übung in Kulturpessimismus, was sich am explizitesten in der konsequenten Verballhornung der Medien zeigt, die als eigene Troika mit Jokermäßig überschminkten Mündern eifern und geifern, das Böse und Falsche in die Welt zu bringen.
Aus welchem Geist auch immer, "Die Griechen" geraten selbst zur zynischen Veranstaltung. Und es bleibt schließlich nur die Frage: Warum sollen wir an ein Theater glauben, das sich selbst so konsequent dem Untergang geweiht hat?
Die Griechen
von Volker Braun
Uraufführung
Regie: Manfred Karge, Bühne und Kostüme: Beatrix von Pilgrim, Musik / Klavier: Tobias Schwencke, Dramaturgie: Hermann Wündrich.
Mit: Krista Birkner, Claudia Burckhardt, Swetlana Schönfeld, Marina Senckel; Raphael Dwinger, Winfried Goos, Anatol Käbisch, Michael Kinkel, Benno Lehmann, Joachim Nimtz, Stephan Schäfer, Sven Scheele, Felix Tittel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Brauns Text mache deutlich, wie sehr "etwa die durch die Konsumgesellschaft entfachte Gier jedes Einzelnen" der Demokratie schade. "Manchmal nutzt er auch Kalauer, wie 'kein Heller für Hellas'. Schade, dass ihm das kein guter Dramaturg gestrichen hat", sagt Peter Claus im Deutschlandradio Kultur (16.9.2016). Regisseur Manfred Karge setze aufs Wort. "Alles bleibt dezent. Keine Spielastik." Die Schauspieler gäben ihr Bestes, mit Worten und in der Körpersprache. "Da ist man als Zuschauer nicht nur ob der Nähe zum Geschehen sofort dicht dran – und nimmt jede Menge zum Nachdenken mit nach Hause, darüber, wie man sich selbst einbringen kann oder sollte, ins politische Geschehen."
Brauns Stück vermöge etwas Seltenes, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau (19.9.2016): "Den hohen Ton mit harten Wahrheiten vereinen, den Kalauer mit den Katastrophen, den Einspruch wider die Gegenwart mit der Erinnerung an ihre Herkunft." Die linke Hand dieses Textes winke zu Elfriede Jelinek hinüber, die rechte zu Aischylos, Euripides. "Postdramatik und griechische Tragödie in einem – das können nicht viele." Manfred Karge sei als Regisseur der Uraufführung gut beraten, auf hohe Spielkonzentration zu setzen. "Vor allem die chorischen Szenen: Eindringlich, versgenau, auch in seiner grob zusammengestrichenen Fassung." Weniger gut beraten sei Karge, in stereotype Bebilderungen auszubrechen. "Varoufakis mit Sturzhelm und Stinkefinger, die Putzfrau (Swetlana Schönfeld) mit Putzeimer und Besen: Überflüssig, holzhammerig." Aufs Ganze aber seien diese knapp 90 Minuten "ein dichtes Denkspiel, mit klarer Reflexionsrichtung".
Als "in Verse gemeißelten und zu Gehör gebrachten Leitartikel, anspielungsreich und schön verkopft" beschreibt Philipp Haibach Volker Brauns Stück in der Welt (19.9.2016). "Denn wie es sich für diese journalistische Gattung gehört, eiert auch die antike Tragödie stets herum."
Manfred Karge setze in seiner Uraufführung des Textes von Volker Braun "klugerweise ganz auf die Sprache", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (21.9.2016). "Die Sprachgewalt des Textes, der Tragödie und Trash verbindet, wird hörbar." Im zweiten Teil werde manches "überdeutlich" gezeigt. Dass der dritte Teil des Braun-Textes fehle, verwundert die Kritikerin. Dennoch sei "diese konzentrierte Uraufführung ein Erlebnis" und Brauns Text im Ganzen "ein Sprachkunstwerk. Ein großer historischer Bogen. Und, was zurzeit im Theater selten ist: eine Überforderung."
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Und Manfred Karge? Er illustriert und plakatiert, wie man es in seinem Haus gewohnt ist. Natürlich beeindruckt der präzise, kraftvolle Chor vor allem im ersten Teil, wie er rhythmisch prägnat durch die Untiefen der (jüngeren) Geschichte watet, die Aufstiege und Fälle wie gottgegeben erhöht und auf den Boden der Tatsachen zurückschleudert. Doch kennt er eben keine Zwischentöne: Die Troika flicht sich Teufelshörnchen, der Eurotaurus trägt grauen Beamtenanzug, die Gefallenen sind abgerissene, entblößte Verjagte, das Volk trägt Putzfrauenkittel und rote (!) Gummihansdschuhe – Swetlana Schönfeld etwa gibt eine veritable Mutter Courage aus der Mottenkiste. Am Ende fällt der Vorhang, paart sich die Leere des Raums mit der Unordnung auf der Bühne, platte Sinnbilder, die nichts erklären. Und als wäre das alles noch nicht genug, wird das ganze gerahmt vom berühmt berüchtigten Sirtaki aus Alexis Sorbas, zu Beginn im Original, am Ende als A-Capella-Trauergesang. Es geht um Griechenland, Leute. Ach so. 80 Minuten können sehr lang sein.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/09/22/achilles-verse-mit-troika/#more-5836
Der zweite Grund dafür, dass sich „Die Griechen“ nicht unbedingt für die Bühne eignen, ist, dass er ein Thema behandelt, das in zig Talkshows durchgekaut und in zig Leitartikeln erörtert wurde, aber in unserer schnellebigen Medienlandschaft bereits ein Jahr vor der Uraufführung auf die kleingedruckten Randspalten und Kurzmeldungen verdrängt worden ist. Brauns rasante Tour durch die griechische Schuldenkrise, die Europas Gipfeltreffen über mehrere Jahre in Atem hielt und das Publikum durch diverse retardierende Momente irritierte, fordert den Leser und Zuschauer heraus, in seinem Gedächtnis zu kramen: Wie war das damals noch mal genau? Ist das wirklich schon so lange her? Der Leser kann innehalten, Suchmaschinen bedienen nachdenken, der Zuschauer droht den Anschluss zu verlieren.
Es war also mutig von Manfred Karge, sich an die Uraufführung zu wagen. Er bietet dem Publikum einen Frontalunterricht: das gesamte Ensemble nimmt auf Stühlen Platz und spricht in chorischen Kleingruppen den Text gegen die vierte Wand. Zur Auflockerung bietet der Text viele kleine Momente zum Schmunzeln.
Dass das Experiment nicht scheitert, liegt vor allem daran, dass Braun in seinen überbordenden Text so viel hineinpackte, dass jeder Zuschauer genug Material darin findet, das zum Weiterdenken und Mit-Nach-Hause-Nehmen einlädt.
„Die Griechen“ sind ein herausfordernder Abend, der sein Publikum nicht mit wohlproportionierten Häppchen an der Hand nimmt, sondern unter 80minütigen Beschuss mit Assoziationen, Anspielungen und Anekdoten setzt und genau daraus einen Reiz entwickelt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/28/die-griechen-volker-brauns-tragikomoedie-zur-griechischen-schuldenkrise-am-berliner-ensemble/