AufBruch - Das Berliner Gefangenentheater feiert mit den Atriden sein 10-jähriges Bestehen
Die Freiheit in der Zwangsgemeinschaft
von Simone Kaempf
Berlin, 16. November 2007. Eine Ziege. Ausgerechnet mit einer Ziege zogen die Theatermacher durch die Gefängnisgänge, um die Insassen für ihr Theaterprojekt zu gewinnen. Es sollte um das Mittelalter gehen – aber wie das Interesse dafür wecken? So kam das Tier für wenige Stunden ins Gefängnis, und wer es dort sah, scheint es nicht vergessen zu haben. An die Ziege erinnert sich auch ein Gefängnismitarbeiter: "Als die kam, dachte ich erst, dass Vollzug und Theater nicht kompatibel sind." Sie waren es doch. Deswegen ist auch er jetzt in den Mehrzwecksaal der JVA Tegel gekommen und hält nach der Premiere der "Atriden" eine der kleinen Reden anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Gefangenentheaterprojekts.
Zehn Jahre AufBruch – knapp zwei Dutzend Inszenierungen sind in dieser Zeit entstanden. "So kontinuierlich hatten wir uns die Arbeit anfangs niemals vorstellen können", sagt Holger Syrbe. Er und der Regisseur Roland Brus waren es, die 1997 das Gefängnis-Kunstprojekt AufBruch ins Leben gerufen haben, um das Leben hinter Mauern sichtbar zu machen. Brus arbeitet mittlerweile in Argentinien. 2003 kam Regisseur Peter Atanassow zu Bühnenbildner Syrbe und Produzentin Sibylle Arndt ins Leitungsteam. Längst hat sich das Theater in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Auch um die Tegeler Gefangenen muss nicht mehr mühselig geworben werden. Der Auftritt mit der Ziege blieb einmalig. Aber er symbolisiert, dass es neben der Theaterarbeit mit den Gefangenen auch immer darum ging: die Grenzen eines geschlossenen Systems auszuloten.
Gefängnis als Urort des Unterweltlichen
Das Gefängnis ist ein Ort, an den niemand will, aber von dem jeder wissen will, wie es dort zugeht. Die Karten für die vier öffentlichen Vorstellungen der "Atriden" waren auch dieses Mal innerhalb von drei Tagen ausverkauft. Als Stadt in der Stadt gibt es in der JVA Tegel Straßen, Häuser, Bäcker und Werkstätten. Es gibt schriftlich fixierte Regeln und unsichtbare Gesetze für 1.700 Gefangene des geschlossenen Vollzugs, die hier teils wegen schwerer Straftaten einsitzen.
Was genau sie verbrochen haben, wurde nie zum Thema gemacht, das Leben mit der Schuld dagegen schon. Und immer wieder hat es in Inszenierungen auch den Punkt gegeben, an dem die Gefangenen den Spieß umdrehten und die voyeuristische Neigung des Zuschauers auf Korn nahmen: ein bisschen auch als Druckventil, weil die Gefangenen viel von sich preisgeben.
Indem das Gefängnis "die Gefangenen ausschließt, schafft es innerhalb ihrer Mauern die Gesellschaft neu", steht seit den Anfängen im AufBruch-Programm. Die Öffentlichkeit an dieser weggeschlossenen Gesellschaft teilhaben zu lassen, ist das bleibende Ziel. Allein der künstlerische Zugang hat sich verändert. Gründer Roland Brus stand als Regisseur dafür, von Träumen, Sehnsüchten, Zwängen aus einem vergitterten Ort zu erzählen und diese Geschichten aus dem Knast in den Stadt zu tragen.
In "Tegel Alexanderplatz" etwa traten im ersten Teil Schauspieler im S-Bahnhof auf, um über den damals noch unterwelthaften Ort die Eingesperrtheit inmitten scheinbarer Freiheit zu vermitteln. "Transfer Nacht" spielte auf einem Kahn, der durch Berlin schipperte. Die weltweit erste Website von Gefangenen wurde mitinitiiert (www.planet-tegel.de), und 1999 war AufBruch mit einer Installation auf der New Yorker Ausstellung "Children of Berlin" vertreten: ein Regal mit einem Sammelsurium von Gegenständen, die von 17 Tegeler Insassen stammten, vom Pantoffel bis zum Pornoheft, als Versinnbildlichung des Wartens.
Gefangene sind per se ein Chor
Regisseur Peter Atanassow bewegt sich strenger im formalen Rahmen Theater und nutzt das Spannungsverhältnis aus räumlicher Enge und überschüssiger Energien der Darsteller. Von seiner ersten Inszenierung an war der Chor das beherrschende Element: als Kollektivkörper, der einerseits zusammenhängt, aber immer kurz vorm Auseinanderbrechen scheint, als Wechsel von kollektiven Ritualen mit den Monologen im Zentrum und vor allem als Ästhetik des Gegeneinander von Masse und Protagonist in der Tradition Einar Schleefs.
Auch in der neuen Arbeit "Atriden" gehört dem Chor der erste Auftritt. Im rhythmischen Sprechen erzählen sie die Vorgeschichte von der entführten Helena, dem Beginn des Krieges, dem göttlichen Willen. Schon geht in ihre Redeweise das Flehen, Bitten, Überwältigen und Verteidigen über. Warum funktioniert das chorische Prinzip im Gefängnis so gut? "Gefangene sind per se ein Chor", sagt Atanassow, "sie sind einerseits Masse, aber andererseits in ihren Zellen extrem individualisiert. Deswegen hat diese Art des Spiels, ohne dass man das groß reflektiert, viel mit ihrer Situation zu tun. Dieses aufeinander-angewiesen-Sein, sich eigentlich-nicht-ab-Können, aber im entscheidenen Moment zueinander-Halten."
Die "Atriden" sind ein stark geformter Abend. Mit gleitenden Szenen-Wechseln auf der Bühne und eindeutigen optischen Zuordnungen. Man trägt weiße Anzüge zu schwarzen Spitzkragen-Hemden oder umgekehrt, und wer Blut am Stecken hat, dessen Hemd ist eben rot. Zuletzt wurden die "Nibelungen" und im Sommer der "Räuber"-Stoff mit dem "Götz" verkreuzt. Mit anderen Klassikerinszenierungen will sich AufBruch nicht messen, aber die großen Theaterstoffe sind wichtig geworden. Darin findet sich, was die Gefangenen beschäftigt: Täter sein, sich schuldig gemacht haben, die eigene Schuld verstehen. "Wir machen keine individuelle Schuldaufarbeitung. Das ist Aufgabe der Therapeuten und Sozialarbeiter, die in den Sitzungen ständig die Reuefähigkeit überprüfen", sagt Atanassow, "aber natürlich fließt diese Auseinandersetzung in die Inszenierungen ein."
Kopf hoch, und immer schön die Leute grüßen
Einmal hatte das Theater professionelle Unterstützung: der inhaftierte, ehemalige Fassbinder-Schauspieler Günther Kaufmann spielte in "Einsatz. Ihr seid im toten Winkel" und war das schauspielerische Zentrum zwischen den Chorgruppen aus Dealern und Kunden auf der Bühne. Wer er eigentlich war, wurde einem (zumindest der Autorin) erst klar, als Monate später überall groß berichtet wurde, dass er mit einem falschen Mordgeständnis seine ehemalige Lebensgefährtin geschützt hatte.
Kaufmann wurde bald wieder entlassen. Andere, Langzeitinsassen hat Atanassow über das kontinuierliche Arbeiten zu Protagonisten entwickelt, die jetzt die Hauptrollen Klytaimnestra, Agamemnon, Elektra, Orest spielen. "Theaterspielen bedeutet Freiheit im Knast", bedankt sich der Ägisth-Darsteller Tuncay nach der "Atriden"-Vorstellung bei den künstlerischen Leitern. Und doch wirkt die Freiheit an diesem Abend besser genutzt, wenn alle gemeinsam auftreten. Als wirke das Kollektiv auch wie ein Schutzraum, in dem sich querulante Sichtweisen leichter zur Sprache bringen lassen. So, wenn der Chor am Ende als Volksvertreter das letzte Wort hat: "Guck nicht nach rechts, guck nicht nach links. Kopf hoch, nicht zu hoch, nach vorne schauen und immer schön die Leute grüßen... Wir sagen ja und sagen nein, ganz wie es beliebt. Das ist, war und wird so bleiben."
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