Bühnenbeschimpfung - Maxim Gorki Theater Berlin
Komische Tiefenbohrung
18. Dezember 2022. Vor 56 Jahren wurde Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt. Heute drehen Sivan Ben Yishai und Sebastian Nübling den Spieß um: Jetzt wird das Theater, seine Machtstrukturen und die Arbeitsbedingungen angegriffen. Eine Selbstbeschimpfung.
Von Esther Slevogt

18. Dezember 2022. Der Anfang hat es schon mal in sich. Vier Figuren mit grotesken pinken Perücken und zeltartigen pinken Gewändern, unter denen schwarzschimmernde Glitterhosen hervorschauen, treten im Endlosloop zu immer neuen Applausformationen an. Stürmische Applauskonserven und eine Pophymne peitschen die Stimmung auf. Beim genaueren Hinsehen ist die Begeisterung allerdings getrübt. Der Typ mit dem pinken Bob zum Beispiel, unter dem Lindy Larsson steckt, packt Kollegin Aysima Ergün plötzlich brutal am Nacken und drückt sie in die Verbeugung, um sie dann wegzuschubsen und allein an der Rampe zu stehen. Machtmissbrauch am Theater in a nutshell. Aber schon geht's weiter in den nächsten Loop. Wieder verbeugen sich welche: strahlen, grinsen, springen und tanzen. The show must go on.
Dann sind wir auch schon mittendrin in Sebastian Nüblings Uraufführung von Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung", die sechsundfünfzig Jahre nach Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" die Institution Theater in die Mangel nimmt. Und zwar just an dem Haus, wo man eigentlich einmal alles besser machen wollte, bis die Intendantin selbst in den Strudel schwerer Vorwürfe geriet, die im Untergrund noch immer rumoren. Diese Gemengelage poppt auch einmal kurz auf an diesem Abend: als Text, der auf den eisernen Vorhang projiziert ist, an dem sich in anderen Szenen schon mal die Schauspieler den Kopf fast blutig schlagen oder entleert davor in sich zusammenfallen. Das Thema wird verhandelt und auch nicht.
Was folgt ist eine ebenso kluge wie unglaublich komische Tiefenbohrung an der Struktur des Theatermachens selbst, seinen Arbeits- und Produktionsbedingungen, an menschlichen Schwächen, wie Narzissmus und Egomanie, die in der Kunst einerseits wunderbare Blüten tragen können, jenseits davon aber der Humus menschlicher Verwerfungen und Brandbeschleuniger in mörderischen Konflikten sind. Weil eben diese Institution und die Bedingungen, auf denen sie gegründet ist, offenbar nicht so leicht vom Ergebnis auf der Bühne zu trennen sind.
Von den Abgründen
Lauter Arbeitshypothesen, die dann hinreißend in einzelnen Szenen mit abgründiger Komik durchexerziert werden: von Lindy Larsson, der den Souffleur fertig macht, weil der es ihm nicht recht machen kann und ihm dabei gerade seine Freundlichkeit zum Vorwurf macht. Larsson will einen ebenbürtigen Sparringspartner – einen King, so wie er einer ist. Dann würden sich zwei Könige auf der Bühne treffen und Drama entsteht. Nicht aber, wenn da bloß ein uninspirierender netter Schlappschwanz steht, der sich von dem Schauspieler und seinen Starallüren einschüchtern lässt.
Ein Abend, der auch Machtmissbrauch am eigenen Haus kritisiert: Aysima Ergün © David Baltzer
Dann ist Aysima Ergün dran und liefert einen der tollsten Monologe des Abends – als Schauspielerin, die auf der Bühne zu wenig Text, zu wenig Inhalt bekommt und als leere Hülle verzweifelt nach allem greift, was sich irgendwie performen und in Spielmaterial verwandeln lässt – am Ende sogar Stücktitel, Bühnenbild, Marginalien, bevor sie vor dem eisernen Vorhang zusammenbricht. Da tritt dann auch schon Mehmet Yilmaz auf den Plan und schreit die Absurditäten des Schauspielerdaseins ins Publikum. Vidina Popov präsentiert die Widersprüche ihrer Profession in einer Tanzeinlage, die es in sich hat. So weit so begeisternd.
Selbstbeschimpfung
Im zweiten Akt schwärmen die Vier in den Zuschauerraum aus. Junge Leute werden zum Mitlesen von auf die Bühne projizierten Textes genötigt – die aber nur auf den ersten Blick normale Zuschauer:innen sind – bei genauerem Hinsehen hat man die meisten von ihnen schon in Produktionen des Jugendclubs gesehen: Zari Eder und Nele Jochimsen, Sofian Doumou und Bashar Kanan. Irgendwann sitzen auch sie auf der Bühne. Dann fängt ein Dialog mit dem Publikum an: Wer seid ihr? Was wollt ihr? Was verdient ihr? Man soll aufstehen oder sitzenbleiben, je nach dem, zu welcher Gruppe man sich bekennen will. Das ist turbulent, und dank des energischen Ensembles immer wieder ziemlich unterhaltend. Gleichzeitig verliert der Abend hier den Faden und wirft auch die Frage nach seinen Adressat:innen auf. Hatte Handke noch das bürgerliche Publikum und seine passive Konsumhaltung im Visier, die es für die desolate Lage dieser Kunstform verantwortlich machte, beschimpft sich das Theater nun selbst.
Ein Ausfransen ins Nichts
Doch was soll das im Ergebnis bringen? Eine Antwort gibt der Abend nur insofern, als er den Beweis erbringt, dass tolle Schauspieler:innen alles zum Ereignis machen können: sei es das sprichwörtliche Telefonbuch oder eben Strukturdebatten des Theaters, mit denen es in den letzten Jahren mehr von sich reden machte, als mit der Kunst, für die diese Institution eigentlich da ist. Folgerichtig wird sie am Ende symbolisch zerlegt, versuchen die Spieler:innen immer wieder vergeblich, aus bunten Kunststoff-Klötzen einen klassizistischen Bau à la Gorki Theater zu errichten. "Kritik ist Liebe" werden auf einem Trägerpfeiler Buchstaben zusammengefügt – und nachtkritik.de kommt auch mal vor.
Applaus ist (wie schon bei Handke) am Ende auch nicht vorgesehen. Diese Als-Ob-Vereinbarung wurde damals souverän gekündigt. Doch was will uns dieses Ausfransen ins Nichts heute sagen? Dass, wenn es keine (Macht)Strukturen gibt, keine Kunst, sondern Chaos entsteht? Wollen wir das wirklich wissen? Interessiert das irgendwen außerhalb der Theaterblase? Müsste diese Blase nicht einfach platzen, statt sich immer nur selbst zu spiegeln? Platzen, wie gerade der Aquadom in Berlin?
Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)
Von Sivan Ben Yishai, aus dem Englischen von Maren Kames
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Amit Epstein, Sebastian Nübling, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Valerie Göhring.
Mit: Sofian Doumou, Zari Eder, Aysima Ergün, Nele Jochimsen, Bashar Kanan, Lindy Larsson, Christian Bojidar Müller, Vidina Popov, Mehmet Yilmaz.
Premiere am 17. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunden 50 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
Kritikenrundschau
"Zum Schreien", fand Tobi Müller von Deutschlandfunk Kultur (17.12.2022) den ersten Teil. Das Ensemble kapere im weiteren Verlauf den Text und reichere ihn um persönliche Monologe an. "Dass (Intendantin Shermin) Langhoff und auch die Autorin Ben Yishai das alles zulassen, das ist ein Punkt für beide. Das ist souverän und so hat das noch niemand gemacht auf einem deutschen Theater."
Sivan Ben Yishai Stück sei "auf dem Papier noch um einiges dichter, an manchen Stellen tiefergehend als die Inszenierung", meint Fabian Wallmeier bei rbb24 (18.11.2022), "dafür aber auch nicht durchgängig so außergewöhnlich komisch". Es werde "hinzugefügt, extrem gekürzt, improvisiert und dabei direkt mit dem Publikum interagiert". Im Ergebnis sei das "einer der stärksten Abende, die Hausregisseur Nübling je am Gorki gemacht hat", nämlich "rasant, klug, im besten Sinne selbstreferenziell", so der begeisterte Kritiker.
Das Theater wolle an diesem Abend "über sich selbst sprechen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (18.12.2022). "Aber eben nicht in Form jener berüchtigten Nabelschau, die ihm sowieso ständig (und durchaus nicht immer zu unrecht) vorgeworfen wird." Stattdessen gehe es um "die radikalstmögliche Nabelschau-Kritik". Vieles sei "amüsant, unterhaltsam und großartig gespielt", weniges allerdings "in seinem Erkenntniswert wirklich neu". "Großartig auf den Punkt" bringe der Abend allerdings die "Causa" Gorki: Die "Machtmissbrauchsvorwürfe, die im Frühjahr 2021 gegen Shermin Langhoff (...) öffentlich wurden" würden "in jeder Szene" als "sehr konkreter Kontext" mitschwingen.
Die "Lust am Spiel" siege immer, "erst recht in den energiegeladenen Inszenierungen von Sebastian Nübling, in denen der sportlich-choreografierte Einsatz der Körper den Großteil der Kommunikation stemmt", findet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (18.12.2022). Allerdings bleibe Sivan Ben Yishais "mäandernde Metierbeschimpfung" im Vergleich zu Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" von 1966 "eher harmlos". Vor allem aber kaprizierten sich Autorin und Regisseur "auf reaktionäre Sichtbeschränkung und Stadttheaterroutine", was im Ergebnis ein "eitles Blasenspektakel" ergebe.
Michael Wolf schreibt auf auf nd-aktuell.de (19.12.2022): "Wann immer es heikel werden könnte, wird Kritik ironisch gebrochen oder auf abstrakte Ebenen wie die der Institution verschoben. Man könnte das clever oder wahlweise auch feige nennen, wenn es nicht in erster Linie so belanglos wäre. Denn warum soll sich das Publikum überhaupt für all diese internen Querelen interessieren?"
"Sebastian Nübling inszeniert das als allzu grellen Kindergeburtstag aus überdrehtem Schauspielergejammer und Theaterbashing, dessen böse Spitzen ausschließlich Insider verstehen. Trotzdem: Ein Stück und ein Abend, die derart unverblümt die eigene Zunft in die Mangel nehmen, hat es vermutlich seit Peter Handke nicht mehr gegeben", so Barbara Behrendt von Inforadio (19.12.2022).
"Bühnenbeschimpfung" ist ein wütender Angriff auf die eigene Blase aus der Blase heraus," schreib Jakob Hayner in der Tageszeitung Die Welt (21.12.2022) über das Stück. "Hier wetzt jemand das Messer, um den neuen heiligen Kühen des Betriebs an die Gurgel zu gehen. Blöd nur, dass der Regisseur Sebastian Nübling offenbar kein Blut sehen kann." "Wie kann man einen Abend nur so vor die Wand fahren? Der inszenatorische Totalschaden hat immerhin zur Folge, dass man mit dem verweigerten Schlussapplaus den Wunsch verspürt, den Text in einer anderen Aufführung zu sehen. Doch die historische Chance, mit diesem Text an diesem Ort etwas zu wagen, ist verschenkt."
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Nicht immer zeigt sich ein roter Faden, aber die Nummernrevue hat doch ihre amüsanten Momente. Auch die Vorwürfe gegen Gorki-Intendantin Shermin Langhoff während des Lockdowns 2021 und die Frage, wie viel Kritik sich ein Arbeitnehmer, insbesondere ein Ensemble-Spieler, leisten kann, ohne Gefahr zu laufen, mehr oder minder subtil an den Rand gedrängt zu werden. Aysima Ergün und Vidina Popov verhandeln diese ernsten Fragen mit viel Charme und Witz.
Solange der „Bühnenbeschimpfung“-Abend im ersten Teil bei sich blieb, bot er eine vergnügliche Nabelschau, die zwar selbstreferentiell war, aber für ein theateraffines Publikum einen gewissen Unterhaltungswert besaß. Je länger der Abend voranschritt, desto mehr fiel Sebastian Nüblings Inszenierung jedoch in sich zusammen. Der Mitmachtheater-Nachklapp verliert an Schwung und Witz.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2022/12/17/buhnenbeschimpfung-gorki-theater-kritik/
Die Selbsbespiegelung schon bubble, aber lustig als Nummernrevue.
Der Publikumsteil mutlos, weil durch Schauspieler abgesichert.
(Oder wäre die These: Wir trauen dem Publikum so wenig, daß wir es besser nicht zu Wort kommen lassen, ausser aufstehen, setzen.)
Der dritte Teil: sinnlos. Konstruktion/Dekonstruktion: schon klar, aber Chaos durch Chaos erzählen--> klappt nicht.
Nicer Touch am Ende: die Aufgabe des Applauses (den gab es ja bereits am Anfang) führt zu zwei Effekten:
--> kein KreischKreisch der Fanmenschen.
--> keine Ansprache der Intendantin.