Die Aufführung - Melanie Mohren und Bernhard Herbordt spielen in den Berliner Sophiensälen mit den Grenzen des Theater
Die Innenseite des Mantels
von Simone Kaempf
Berlin, 31. Oktober 2013. Auf dem Boden sind mit rotem und grünem Kreppband viele Bühnenbild-Markierungen aufgeklebt. Gleich die erste soll eine Veranda sein, dahinter ein Gästezimmer und eine Küche. In der steht dann aber ein echter großer Tisch. Und tatsächlich wird dort bald ein Koch mit einer scheppernden Blechkelle auch echte Suppe verteilen. Denn es ist zwar vieles Behauptung an diesem Abend, aber nicht alles.
Theaterwissenschaftliche Dogville-Landschaft
Sperrholzwände, Rollos und Klebemarkierungen trennen die Bühne provisorisch in mehrere Bereiche, zwischen denen sich die Zuschauer bewegen. Es gibt auch eine Tribüne. Kleine Regiepulte mit Leselampen sind aufgestellt, eine Mischung aus Probebühnen- und Werkstatt-Ambiente, in der die angekündigte "Aufführung" von Melanie Mohren und Bernhard Herbordt spielt.
Diese "Aufführung" will natürlich auch genau eine solche sein. Man kann sie sich wie ein theaterwissenschaftliches Dogville vorstellen, ein Abend, der mit Theater-Accessoires und -Zuschreibungen sein Spiel treibt, aber sie zugleich transzendiert. Da sitzen an einem großen Tisch mehrere Theaterwissenschaftler, die Referate halten und darüber diskutieren. Am Archivtisch liegen Stapel bedruckten Papier griffbereit, Fotos oder Zitate sind darauf zu sehen und man erfährt, dass dies für die Aufführung relevante Materialien sind. Fünf Performerinnen bieten ihre Dienste als Führer an. Oder ein stumm-verstockter Künstler bringt Schlagzeugbecken zum Erklingen, indem er sie mit getrockneten Erbsen bewirft, und wie zum Beweis, dass die Uhren hier anders ticken, läuft an einer Wand eine kleine Digitalanzeige, die nach 90 Minuten erst auf 8:31 steht.
Geheimnisvolle Schnappgeräusche
Als Zuschauer muss man an diesem Abend erst einmal gar nichts, aber man darf alles, was man will. Und natürlich ist doch alles darauf angelegt, dass man wie eine fromme Seele in der Kirche sitzt. Erst einmal glaubt man allerdings gar nichts. Dann aber entwickelt sich der Abend immer mehr zu einer Art begehbarem Akustik-Hörspiel. Man hängt an den Lippen eines Vortragenden, von weiten mischt sich darunter das Kratzen der Suppenkelle, aus den Lautsprechern werden geheimnisvolle Schnappgeräusche eingespielt und jeder Zuschauer steuert seine eigene Geräuschkulisse bei. Das ist eine sinnliche Einlullung, ein Theater-Dolby-Surround, das einen in Versuchung bringt, sich hinzusetzen und nur noch zuzuhören. Wenn die Geräuschkulisse in einer Ecke anschwillt, weckt das aber doch wieder Aufmerksamkeit und man wechselt den Platz. Oder es flackert das Licht bedrohlich. Und wenn es am Ende das Licht angeht, ist das der Hinweis, dass der Abend sein Ende hat.
Das fragmentierte Treiben rundet sich dann doch zu einer Erzählung, denn man schnappt bei dieser ständigen Wanderung immer wieder Themen-Schnipsel auf, deren lose Enden sich zu einem Bezugsgewitter zusammenfügen. Was Theater sein kann, was es will oder nicht sein soll, "dass sich der Ort in seiner Bedeutung ständig verändert", daraus haben Melanie Mohren und Bernhard Herbordt einen entspannten Abend gemacht, der sozusagen die Innenseite des Theaters zeigt, und man weiß danach auch wieder, warum es irgendwann Kult geworden ist, die Befragung seiner eigenen Mittel bei der Kunstproduktion auszustellen.
Die Aufführung
Konzept, Regie, künstlerische Leitung: Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Bühne: Leonie Mohr, Hannes Hartmann, Komposition: Hannes Seidl, Video: René Liebert.
Mit: Judica Albrecht, Michael E. Kleine, Lina Lindheimer, Armin Wieser, Katharina Zoffmann, Schlagzeug: Matthias Engler. Weitere Beteiligte: Knut Ebeling, Elise von Bernstorff, Ursula Achternkamp, Maximilian Haas, Marcus G. Bergmann.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.sophiensaele.de
Von einer "fantastischen Versuchsanordnung" schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (2.11.2013). Wer sich auf den "kribbeligen, luftigen Abend" einlasse, "der wird langsam Augen und Ohren bekommen für die Gedankenkerne und Lebensarchitekturen, die hier ausgeworfen werden. Und plötzlich öffnet sich ihm die Welten".
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