Fußball ohne Ball

9. Mai 2024. Kann man lieben, obwohl alles gegen diese Liebe spricht? Tuğsal Moğul und Maren Zimmermann singen am Schauspiel Hannover am Abend des Halbfinales der Championsleague mit "Unsere Elf" eine "etwas andere Nationalhymne".

Von Falk Schreiber

"Unsere Elf" von Tuğsal Moğul und Maren Zimmermann am Schauspiel Hannover © Katrin Ribbe

8. Mai 2024. Während elf Künstler:innen im Hannover'schen Schauspielhaus die Kulturform Fußball dekonstruieren, kämpfen elf Fußballer des FC Bayern München in Madrid um den Einzug ins Finale der Champions League. Was deswegen wichtig ist, weil dieses Finale ein historisches sein könnte: Den anderen Finalplatz hatte sich einen Tag zuvor schon Borussia Dortmund gesichert, unter Umständen werden also zwei deutsche Mannschaften den Sieg untereinander ausmachen, und wer die Relevanz solch einer Paarung nicht versteht, der versteht auch nichts von den sozialen und kulturellen Hintergründen von Fußball. So wie der Autor dieser Nachtkritik also.

Grabungen in den Tiefen der Fußbalwelt

Hilfreich allerdings, wenn Tuğsal Moğul und Maren Zimmermann ihm diese Hintergründe erläutern. "Unsere Elf" ist eines jener Recherchestücke, für die Moğul mittlerweile bekannt ist, zuletzt das scharfkantige "Wir haben getan, was wir konnten" am Hamburger Schauspielhaus und das anklagende "And now Hanau" bei den Ruhrfestspielen: genau recherchierte Untersuchungen über ein bestimmtes Thema, die von Schauspieler:innen auf einer Bühne präsentiert werden, die nie den Eindruck erweckt, als ob sie etwas anderes wäre als eine Theaterbühne, während die Darsteller:innen auch nie so tun als ob sie etwas anderes machen würden als Theater.

In Hannover hat sich Moğul also gemeinsam mit der Dramaturgin Maren Zimmermann in die Tiefen der Fußballwelt eingearbeitet, in langen Interviews mit Protagonist:innen dieser Welt.

Klapping und Verfremdung

Diese Interviews werden mehr oder weniger eins zu eins auf Vanessa Maria Sgarras Bühne gezeigt, wobei die beteiligten Schauspieler:innen konsequent gegen ihre Rollen besetzt sind. Heißt: Den hypermaskulinen Mittelfeldspieler Felix Magath stellt die verhältnismäßig zarte, mädchenhafte Yasmin Mowafek dar, die ehemalige Bundestrainerin Silvia Neid wird von dem glatzköpfigen, bärtigen Hajo Tuschy dargestellt, die dunkelhäutige Florence Adjidome ist die weiße TV-Kommentatorin Katrin Müller-Hohenstein. Das sorgt für eine Verfremdung, die den Authentizitätscharakter des Beschriebenen ebenso hübsch unterläuft wie das Pathos des "You'll never walk alone", das am Ende angespielt wird.

Ausgeklügelte Klapping-Choreografien von Feras Shaheen: Ensemble © Katrin Ribbe

Eine weitere Verfremdung findet auf der choreografischen Ebene statt, das ist neu in Moğuls Theater: Feras Shaheen hat ausgeklügelte Klapping-Choreografien für das Ensemble erarbeitet, einen Urban-Dance-Stil, der sich im weitesten Sinne als "Fußball ohne Ball" beschreiben lässt. Im Programmheft wird Klapping als Neuinterpretation des Spiels beschrieben, als Konzentration gleichzeitig auf die technischen Aspekte des Fußballs und auf die damit verbundene Kultur.

Hier sorgt das Klapping neben der Verfremdung auch für eine Identifikation, die jenseits der durchaus kritisch behandelten Aspekte der Fußballkultur existiert. Kein Zweifel, Moğul und Zimmermann mögen das, womit sie sich hier beschäftigen, und auch die Erkenntnis, dass Sexismus, Chauvinismus und Entertainment-Ökonomie den Fußball tief durchziehen, kann diese Sympathie letztlich nicht beeinträchtigen.

Der tragische Mesut Özil

Und "Unsere Elf" macht in dieser Hinsicht keine Gefangenen. Ja, im Fußball geht es um viel Geld, ja, die eingestreuten Zitate von unter anderem Berti Vogts, Sepp Herberger und Wim Thoelke über Frauenfußball dokumentieren ein problematisches Geschlechterverständnis, ja, die Beschreibung der tragischen Figur Mesut Özil, die vom Musterbeispiel für Integration zum türkischen Nationalisten mutierte, beweist, wie kaputt diese Szene einen machen kann.

Und über die ästhetischen Zumutungen von Fußballschlagern wurde hier noch gar nicht gesprochen: "Olè España!" Interessant, dass Moğul und Zimmermann all diese Problematiken sehen, und doch stehen sie dem Fußball voller Zuneigung gegenüber. In diesem Widerspruch scheint eine Spannung auf, die "Unsere Elf" zu einem Abend macht, der mehr kann als nur einen Einblick in die Fußballkultur geben. Weil es hier um eine echte Frage geht, die Moğul und Zimmerman zwar stellen aber nicht beantworten: Kann man lieben, obwohl alles gegen diese Liebe spricht?

Kein deutsches Championsleague-Finale

Dass "Unsere Elf" dabei auch noch theaterästhetisch einiges hergibt und auch dem fußballignoranten Nachtkritiker einige inhaltliche Erkenntnisse über den Mikrokosmos des Spiels liefert, ist ein weiterer Pluspunkt. Auf der Bahnfahrt nach Hause dann die Info: Es gibt kein deutsches Champions-League-Finale, Bayern München ist gegen Real Madrid ausgeschieden. Am Ende ist das, was wichtig ist, auf dem Platz, der Ball ist rund. Und in der letzten Szene von "Unsere Elf" fällt endlich auch ein Ball vom Bühnenhimmel herab: Heute abend ging es nicht um ihn, aber tatsächlich ist er doch das, um das sich alles dreht.

Unsere Elf
Eine etwas andere Nationalhymne von Tuğsal Moğul und Maren Zimmermann
Uraufführung
Regie: Tuğsal Moğul, Bühne und Kostüme: Vanessa Maria Sgarra, Musik: Tobias Schwencke, Choreografie: Feras Shaheen, Dramaturgie: Vanessa Hartmann, Maren Zimmermann.
Mit: Florence Adjidome, Philippe Goos, Max Koch, Helene Krüger, Viktoria Miknevich, Yasmin Mowafek, Tom Scherer, Hajo Tuschy, Live-Musik: Tobias Schwencke, Mikaîl Ezîz, Melanie Streitmatter/Roz Macdonald.
Premiere am 8. Mai 2024
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Die historische Unterhaltungsshow zum deutschen Lieblingssport eigne sich hervorragend "als Begleitprogramm einer Europameisterschaft, die stattfindet, während nationalistische Erzählungen und tödliche Feindschaften wieder die Weltlage dominieren". Sie erinnere spielerisch daran, dass der Kampf um Anerkennung nicht auf dem Rasen ende, und dass Fairness selten verschenkt werde. "Und dass mit Witz, Ehrgeiz und Talent auch nach dem Schlusspfiff Erfolge erzielt werden können", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (9.5.2024).

Kurz vor der EM streife der Abend "durch die Nationalmannschaftsgeschichte" und rufe beim Publikum "jede Menge persönliche Erinnerungen" wach, schreibt Uwe Janssen in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.5.2024). Die Inszenierung sei "ein kurzweiliger Episodenabend", eine "Mischung aus Denkanstoß, Fußball-Wikipedia und gefeiertem Ritualklischee", zeigt sich der Kritiker erfreut.

Der Abend werfe die Frage auf, was uns die Geschichte des deutschen Fußballs über die Geschichte des Landes verrät, meint Agnes Bührig im NDR Kultur (10.5.2024). Schade findet sie indes, dass die türkische Langhalslaute, die "für das Migrantische" stehe, nicht "selbstbewusst mit einer eigenen Melodie" durchdringe.

 

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