Rein ins Verderben

28. Oktober 2023. Eine neue Etappe in "Anthropolis", dem Theatermarathon um den Aufstieg und Fall der Stadt Theben: Auch in "Iokaste", dem vierten Streich der Antiken-Saga von Autor Roland Schimmelpfennig und Regisseurin Karin Beier, sind die Götter not amused. Entscheiden können das gegenwartsnahe Machtspiel aber erstmals Andere.

Von Stefan Forth

"Iokaste (Anthropolis IV)" in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Thomas Aurin

28. Oktober 2023. Zwei Brüder haben sich im blutigen Kampf ineinander verhakt. Neben ihnen hängt kopfüber ein anderer toter junger Mann, der sich für ein vermeintlich höheres Ziel geopfert hat. Der vierte Teil der Antikensaga Anthropolis am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ist der bislang düsterste. Das liegt auch daran, dass Regisseurin Karin Beier und Autor Roland Schimmelpfennig ihre "Iokaste" bei der Uraufführung besonders nah an unsere unmittelbare Gegenwart rücken.

Als wir noch Hoffnung hatten

"Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir alle noch Hoffnung auf Zukunft", sagt Schauspielerin Julia Wieninger mehrmals an diesem verzweifelt guten Abend. Ihre Iokaste versucht sich als Friedensvermittlerin zwischen ihren Söhnen Eteokles und Polyneikes, die miteinander um die Macht in der Stadt Theben kämpfen. Dabei ist von Anfang an klar, dass am Ende Krieg, Tod und Zerstörung stehen werden. Die Verhandlungen am schwarzen langen Vermittlungstisch drehen sich im Kreis. Die beiden Brüder lehnen jeden Kompromiss ab.

Stattdessen beharrt jeder auf seiner Maximalposition: Eteokles glaubt, dass nur er seine Heimat aus der Vergangenheit heraus in eine verheißungsvolle Zukunft führen kann, und verweigert seinem Bruder deshalb den ursprünglich vereinbarten jährlichen Wechsel an der Spitze des Staates. Polyneikes dagegen nimmt diesen Wortbruch zum Anlass, um gleich mit einem ganzen feindlichen Heer gegen Theben zu ziehen. Er will die Macht nun am liebsten vollständig an sich reißen. Denn: "Diese Gesellschaft bricht vor Leere in sich selbst zusammen".

Kampf der egomanen Eiferer: Maximilian Scheidt, Paul Behren © Thomas Aurin

Egomane Eiferer sind sie in dieser Inszenierung beide. Und was für welche! Paul Behren und Maximilian Scheidt drehen als ungleich gleiches Brüderpaar in schwarzen Lederhosen und dunkel gerippten Tanktops phänomenal furchterregend auf. Der eine, Scheidts Eteokles, verspricht Himmelsleitern aus Glück und Freiheit ganz im Stil eines Kapitalismus US-amerikanischer Prägung, während Polyneikes wütend gegen Werte wie Erfolg, Geschwindigkeit und Wachstum wettert. Im Hintergrund laufen dazu wie ein düsteres Schattenspiel in Schwarz und Weiß Projektionen von Kamerafahrten über Hochhauslandschaften, digitale Zahlenreihen und mathematische Formeln. Hier baut sich in aller nüchternen Wucht das auf, was wir heute Zivilisation nennen.

Ihr könnt entscheiden!

Was Eteokles und Polyneikes da miteinander verhandeln, soll zum ersten Mal in dieser Saga nicht von irgendwelchen Schicksalsgöttern vorherbestimmt sein. "Jetzt und hier stellt Euch das Leben vor eine Wahl. Ihr seid frei. Ihr könnt entscheiden", ruft Iokaste ihren Söhnen zu. Und trotzdem (oder vielleicht auch gerade deshalb) laufen sie in ihr Verderben. Es erschüttert, wühlt auf, berührt, wie dieses Familientrio in Variationen immer wieder gleiche Argumente gegeneinander ausspielt: "Und jetzt muss einer anfangen zu sprechen, obwohl es nichts zu sagen gibt" – mit dieser Bankrotterklärung gehen die verzweifelten Diskursschleifen oft los. Wohin sollen da Iokastes wiederholte Friedensappelle überhaupt noch führen? "Dieser Krieg bringt nichts als unzählige Opfer. Wie jeder Krieg", sagt sie wie selbstverständlich immer wieder. Dabei hat diese mittlerweile glatzköpfige Frau doch nicht ohne Grund auch selbst Blut auf ihrem hell glitzernden, übergroßen Hosenanzug.

Am Ende klebt Blut an den Händen: Daniel Hoevels, Michael Wittenborn, Julia Wieninger © Thomas Aurin

Die überragende Julia Wieninger findet an diesem Abend einen Menschen im Mythos um die Frau des Ödipus. In der vorherigen (weitaus konventioneller erzählten) Folge dieses Theatermehrteilers hatte ihre Iokaste einer Prophezeiung gemäß noch ihren eigenen Sohn (den ersten von dreien) geheiratet und mit ihm weitere Kinder gezeugt. Letztere sorgen jetzt für die frei gewählte Fortsetzung des Verderbens. Iokaste kann ihren Nachwuchs dabei nicht aufhalten. Sie taugt nur eingeschränkt als moralische Instanz, sagt von sich selbst, sie habe dem Schicksal ins Gesicht gelacht und eine Welt umgedreht. Warum sich Menschen gegenseitig umbringen – das habe auch der berühmte Rätsellöser Ödipus, ihr Sohn und Mann, nicht herausfinden können.

Diese Fassungslosigkeit über das immer neue Aufflammen menschlicher Gewalt prägt den Ton des Abends. Deutlicher und häufiger als in anderen Teilen des "Anthropolis"-Projekts haben Karin Beier und Roland Schimmelpfennig in diesem neuesten Teil ihrer Antiken-Überschreibung politische Aktualitätsbezüge eingebaut, ohne dabei den Krieg gegen die Ukraine, den Terror der Hamas oder die israelischen Gegenschläge ganz ausdrücklich zu nennen. Trotzdem skizzieren die Spieler*innen immer wieder Szenen, wie wir sie aus Nachrichtensendungen unserer Zeit kennen. Da ist etwa die Rede von Scharfschützen, Raketeneinschlägen, ausgebrannten Kirchen und Moscheen, verkohlten Resten eines abgestürzten Hubschraubers, Panzern, Öl-Raffinerien, Scharfschützen mit Maschinenpistolen, Unterbodenkontrollen an Fahrzeugen, Chefunterhändlern, Blauhelmen, Fluchtkorridoren mit Fernsehkameras am Straßenrand oder dem Angriff auf eine Schule mit mindestens 82 Toten.

Kriegsbilder, infrage gestellt

Die Inszenierung holt immer wieder Kriegsbilder wie diese aus der medialen Gewohnheitsmaschine und stellt sie neu infrage. Dabei steht sie zu ihrer eigenen Ratlosigkeit und gewinnt gerade daraus Kraft. Die Ursprungstragödien, "Sieben gegen Theben" von Aischylos und "Die Phönikerinnen" von Euripides, werden auf ihre Essenz konzentriert, der bearbeitete Text auf zentrale, wirkmächtige Sätze reduziert – und Beier und Schimmelpfennig gelingt es auch noch, die Kernelemente der Handlungsstränge selbst über Folgengrenzen hinweg nachvollziehbar zu halten. Das an sich ist schon eine große dramaturgische Leistung.

Dazu kommen auf den Punkt genau gesetzte Bilder und ein exakt choreographierter Körpereinsatz des Ensembles. Während Maximilian Scheidt aus weißen Steinen einen immer höheren Wall errichtet, schlägt Paul Behren schon mit einem überdimensionierten Hammer darauf ein. Wo Julia Wieninger zum Friedensmahl einlädt, fehlen ihr die Teller – und so platscht die ganze Suppe nutzlos zerfließend auf den Tisch. Und wenn sich Daniel Hoevels als Menoikeus zum Selbstmord entschließt, um mit diesem Opfer seine Heimatstadt vor der Vernichtung zu retten, führt er mit hell getünchtem Gesicht einen Verzweiflungstanz auf, der wohl ganz bewusst rein gar nichts Heroisches oder Märtyrerhaftes hat. Zu sterben ergibt in dieser Inszenierung nämlich ganz sicher rein gar keinen Sinn. Erst recht keinen höheren.

AnthropolisIV lokaste 3 ThomasAurin uDer Mythos holt die Gegenwart ein: Maximilian Scheidt, Paul Behren, Julia Wieninger © Thomas Aurin

In einer Welt, die "Anthropolis"-Dauer-Bühnenbildner Johannes Schütz und Kostümfrau Wicke Naujoks dieses Mal ganz besonders betont in (dominierendem) Schwarz und Weiß gehalten haben, entstehen dabei eine ganze Menge Grautöne. Etwa wenn Michael Wittenborn als der blinde Seher Teiresias auf den weißen Treppen Richtung Zuschauerraum ein Meer von Leichen prophezeit, nur um anschließend mit ausladend nonchalant-wissender Geste in den bürgerlich protzigen Publikumsprunksaal des Deutschen Schauspielhauses einzuräumen: "Schwer vorstellbar, so schön, wie das hier ist." Oder wenn Spielerin Josefine Israel im schwarzen 20er Jahre-Fransenkleid unter einer von der Decke baumelnden aschefarbenen Weltkarte feststellt: "Krieg ist erst Absicht, und dann ist Krieg Zufall. Warum also zufällig sterben?"

Vielleicht sind es wirklich die zentralen Rätsel unserer Zeit, denen sich Regisseurin und Intendantin Karin Beier hier stellt, indem sie den kriegerischen Mythos um Iokaste und ihre Kinder in die Gegenwart holt. Es ist jedenfalls der Kulminationspunkt ihrer bisherigen Antikenbefragung in Serie, die große Ungeheuerlichkeit, auf die alles Vorherige zuzulaufen scheint. Weniger lässig als die schnodderige One Woman-Show Laios (Teil II), wesentlich ambitionierter als der unmittelbar vorhergehende Ödipus (Teil III) – aber vor allem: ein großer Theaterabend allein für sich. Eine Inszenierung voller Fragen an eine Welt, der die Hoffnung abhanden gekommen zu sein scheint.

 

Iokaste (Anthropolis IV)
von Roland Schimmelpfennig, nach Aischylos und Euripides
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Paul Behren, Daniel Hoevels, Josefine Israel, Maximilian Scheidt, Ernst Stötzner, Julia Wieninger, Michael Wittenborn und Benjamin Crawford-Anton/Felix Strauß (Der Junge).
Premiere am 27. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zur Antiken-Serie "Anthropolis" von Beier/Schimmelpfennig:

Kritikenrundschau

"Iokaste" schneide ins Mark, so Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (30.10.2023). So wie es in jeder guten Serie in der vorletzten Folge noch einmal eine Steigerung gebe, steigern sich auch Beier und Schimmelpfennig. Eine eindringliche Inszenierung gerade in diesen von Kriegen neuerlich erschütterten Tagen. " Das Wagnis, eine fünfteilige Antikenserie aufzulegen darf schon jetzt als Sensation gelten. Eine, die auch inhaltlich, szenisch, schauspielerisch ihr Versprechen einlöst."

Karin Beier arbeite mit einer "konsequenten Schwarz-Weiß-Ästhetik". Für "starke Bilder" sorgen vor allem die Projektionen an den Wänden, findet Katja Weise im NDR (online 28. Oktober 2023). "Am Ende fließt eimerweise Blut, und doch findet die Inszenierung hier zu sich, zu einer Konzentration und Ruhe, die erschüttert", schreibt die Kritikerin. Trotzdem sei "Iokaste" der bisher schwächste Teil der Serie, fragt man Katja Weise – "nicht nur inszenatorisch - das gilt auch für den Text von Roland Schimmelpfennig. Die "Wucht" entstehe vor allem durch die "erschreckende Aktualität".

Kommentare  
Anthropolis IV / Iokaste, Hamburg: Blaupausen
Schimmelpfennigs Iokaste in der Regie von Karin Beier baut stark auf Mauerschau, was dem Zuschauer: in aktives Miterleben ermöglicht, da eigene Bildsequenzen im Kopfkino entstehen. Der Zuschauer als aktiver Teil dieser Inszenierung. Eigene Assoziationen zu einer vorgegebenen Story. Zwei Handlungsstränge bestimmen diesen Abend im Wesentlichen: 1. der Streit der Brüder Eteokles (M. Scheidt) und Polyneikes (P. Behren) um die Herrschaft Thebens und der daraus erwachsende Hass. Iokaste ihre Mutter (J. Wieninger) als Schlichtungscoach versucht, mittels Diplomatie die Kampfhähne zu besänftigen und den Krieg, das sinnlose Schlachten von Menschen, zu verhindern. Die permanente Wiederholung dieser Bestrebung und die verrohende Gewalt der Kontrahenten machen die Sinnlosigkeit dieses Bestrebens deutlich. Überzeugend verkörpern Scheidt und Behren das Bruderpaar in ihren Wutausbrüchen und wenn Behren (Polyneikes) mit brachialer Gewalt die von Scheidt (Eteokles) errichtete Steinmauer einreist. Eins der starken Bilder dieser Inszenierung. Iokaste, die Mutter, die mittels Diplomatie den Krieg verhindern will, wird von ihren Söhnen der Doppelmoral enttarnt, indem sie ihren Sohn Ödipus verstümmelt und Polyneikes Verbannung aus Theben gebilligt hatte, was ihre Glaubwürdigkeit als Schlichterin in Frage stellt. Stark die Szenen an einem langen Tisch, vorn am Bühnenrand zum Publikum. Eteokles und Polyneikes sitzen sich unversöhnlich an den Tischenden gegenüber und Iokaste als Vermittlerin in der Mitte, wer denkt da nicht an die Gespräche von Putin und Scholz im Kreml. „Es muss Frieden geben, es muss Frieden geben können, und gibt es keinen Frieden, dann muss Frieden verhandelt werden“, wiederholt Iokaste gebetsmühlenartig. Doch das verbitterte Ringen ihrer Söhne um die Macht verhindert den Frieden. Wie Blaupausen passen der Ukraine-Krieg und der Nahostkonflikt zu diesem Setting. Iokastes Satz „Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir alle noch Hoffnung auf Zukunft“ erscheint als Vision einer uns nicht fernen Zukunft. Schimmelpfennig und Beier konfrontieren das Publikum unverblümt mit der realen Wirklichkeit und einer dystopischen Zukunft. Die zwei metallenen Arme eines Mobiles oder Perpetuum Mobiles mit Flugzeugschablone und grauer Weltkarte plus zwei weiterer Karten, drehen sich umeinander in endloser Wiederholung. Sind Kriege unvermeidbar wie die Rotation dieses Mobiles, wenn Kriege mehr Profit schaffen als Kosten zumindest für die Gewinnler und Verluste sozialisiert werden? 2. Die Story des Menoikeus, des jüngsten Sohnes Kreons, der vom Seher Teiresias zum Märtyrertod verführt wird, soll mit seinem Opfertod die Zerstörung Thebens verhindern, wem gehen da nicht die Bilder von Gotteskriegern durchs Hirn, die Ihr Leben für eine religiöse Idee opfern. Auch hier geht es um Profit. Wer profitiert von wem? Teresias von Menoikeus oder dieser von Teiresias? Zunächst zelebriert Menoikeus die Idee des Opfertodes, bevor er später mit clowneskem Gesicht einen verzweifelten Veitstanz aufführt, der die Sinnlosigkeit dieser Tat verbildlicht. D. Hoevels als Menoikeus ist einer der beeindruckendsten Akteure durch seine Wanderung vom enthusiastisch schwärmenden Märtyrer mit mythischer Bindung zum verzweifelten Clown, der die Sinnlosigkeit seiner Tat begreift. Schimmelpfennig und Beier stellen die Bestie Mensch in allen Schattierungen dar und Zweifel ist berechtigt, wenn wir an die Macht des Verstandes Hoffnung knüpfen. Wenn weltwirtschaftliche Interessen zu Quellen lokalen Reichtums führen, wird Gewalt in Zukunft ein Element der Profit- und Machtgier des Menschen bleiben und die Oligarchen werden die Verluste gnadenlos sozialisieren. Beispiele sehen wir in der Gegenwart zur Genüge. Eine Bereicherung der Inszenierung ist das Programmheft von Sybille Meier, das aufschlussreiche Texte zur Frage der Bedeutung von Kriegen liefert oder inwieweit der Kulturpessimismus in Euripides´ „Phönikierinnen“ auch in unserer Zeit der Globalisierung Relevanz besitzt?
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