Am Leben werden wir nicht scheitern – Mario Salazar in Bielefeld uraufgeführt
Letztes Leben in einer zerstörten Welt
von Heike Sommerkamp
Bielefeld, 15. November 2013. Zwölf Menschen bevölkern in einem fiktiven Deutschland, das gleichzeitig fremd und unbehaglich wohlbekannt erscheint, die kleinbürgerlich-ärmliche Hinterhof-Alltagshölle einer unansehnlichen Mietskaserne. Gut zwei pausenlose Stunden lang wird an diesem Ort, der einem düstergrauen Comic-Strip entlehnt zu sein scheint, rund um einen Sandkasten gestichelt, gestritten und geschrien, gerafft und getötet. Dann ist, einer Atombombe sei Dank, die Menschheit ausgelöscht, und die Welt hat Ruhe.
Die Sache klingt deprimierend, ist aber fesselndes Theater, das unserer leistungsorientierten Gesellschaft einen überspitzt-verzerrten Spiegel vorhält, das gleichermaßen aufrüttelt und unterhält.
Am Freitagabend kam Mario Salazars Stück "Am Leben werden wir nicht scheitern" in Bielefeld zur Uraufführung. Regisseur Christian Schlüter betont zunächst die bewusst schablonesken Charaktere der Mieter. Wie in einem groß dimensionierten Scherenschnitt (Bühne: Jochen Schmitt) sitzen sie in ihren erleuchteten Fenstern und führen ihre stereotypen Fehden. Der obdachlose Buddelkarsten (Lukas Graser), der müllsackbehängt im bühnenzentral gelegenen Sandkasten kampiert, ist zunächst die einzige Figur, die als dreidimensionale Persönlichkeit gezeichnet ist. Die immergleichen Streitereien der anderen kann er mühelos wörtlich mitsprechen.
Verschlungenes Streitgefecht
Altnazi Herr Bettin vom 3. Stock links (Thomas Wolff) weist den schräg oberhalb wohnenden Türken Herrn Büyükal (diensteifrig mit Fes und Schnurrbart: Anton Pleva) in seine Ausländerschranken, zofft sich routiniert mit der Rentnerin Frau Wolter im Parterre rechts (Carmen Priego). Er flirtet mit der fähnchenschwingenden jung-naiven Kommunistin Frau Wollring (Isabell Giebeler) vom Vorderhaus, die sein Werben allerdings empört zurückweist. Während Frau Haberland (Christina Huckle), Physikerin, vergeblich versucht, im 4. Stock kühl über dem allgemeinen Hickhack zu schweben, sucht Herr Huemer sein Heil in der Selbstperfektionierung: Er baut sich, zum Befremden der anderen Mieter, sukzessive zum Kunststoffmenschen um. Dass ein weiterer Mitbewohner tot in der gelben Abfalltonne liegt, erscheint im verschlungenen Streitgeflecht nur als Nebenthema.
Bei Frau Mwanda (Thomas Wehling) sind sich alle anderen ausnahmsweise einig: Auch wenn sie eigentlich alles richtig macht, kann sie es als Schwarze trotzdem niemandem recht machen. Auch der Hausmeister Herr Klette (Stefan Imholz) schafft Konsens: Mit Beschimpfungen und besonders mit der omnipräsenten Drohung, Aufmüpfige sofort in den Krieg schicken zu lassen, erzwingt er allgemeinen Gehorsam der durchweg Arbeits- und damit in dieser Gesellschaft auch Geld- und Wertlosen. Ein Student (ebenfalls Thomas Wehling), der bluttriefend frische menschliche Herzen sammelt, mischt sich zunächst nur unsichtbar via Megafon ins Gespräch.
Besinnlichkeitschor mit vorgehaltener Pistole
Helles Licht, Musik und lebendiges Hofgeschehen bringt erst Ossi Osswald (Guido Wächter) mit: Er hat gerade 47 Millionen im Lotto gewonnen, feiert freigiebig mit Champagner für alle. Doch sein Reichtum entfremdet ihn abrupt den Anderen: Die kommunistische Freundin will nichts mehr von ihm wissen, alle anderen fordern auf einmal Geld für jede Handreichung. Plötzlich erobert der Soldat (Omar El-Saeidi) in Uniform mit Nikolausmütze im lichterkettenbehängten Rollstuhl wild um sich schießend die Bühne. Mit vorgehaltener Waffe eint er die Mitbewohner sechs zartzittrig intonierte Stille-Nacht-Strophen lang zum Besinnlichkeitschor, während der Türke, weil Moslem, ersatzweise Kniebeugen im Takt absolvieren muss.
Dann ist Bescherung: Der bärbeißige Hausmeister bekommt vom Soldaten einen Kuschelteddy, die altersarmutsbeschämte Rentnerin die gewünschte Kugel in den Kopf und die Physikerin alle fehlenden Komponenten für die ersehnte Atombombe. Osswald, von einer verirrten Kugel ins Bein getroffen, erhält den verzweifelt verlangten Krankenwagen dagegen nicht: Als Reicher gehört er hier einfach nicht mehr dazu. Mitleidslos reißen ihm die anderen bei lebendigem Leibe das Herz heraus und verkaufen es dem Studenten.
Als dann die Atombombe explodiert ist, taucht Buddelkarsten arglos aus den Tiefen des Sandkastens auf: als letzter lebender Mensch in einer zerstörten Welt. Erst nachdem auch sein allerletzter, verzweiflungsgehetzter Schritt verklungen ist, herrscht Dunkelheit und Stille, ist Ende, ist endlich Friede. Gleichmäßig herzlicher, minutenlanger Applaus für alle Akteure und besonders für Mario Salazar.
Am Leben werden wir nicht scheitern (UA)
von Mario Salazar
Regie: Christian Schlüter, Bühne: Jochen Schmitt, Kostüme: Franziska Gebhart, Dramaturgie: Viktoria Göke.
Mit: Lukas Graser, Carmen Priego, Thomas Wehling, Christina Huckle, Niklas Herzberg, Thomas Wolff, Stefan Imholz, Isabell Giebeler, Anton Pleva, Guido Wachter, Omar El-Saeidi
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.theater-bielefeld.de
Mit seinem StückAm Leben werden wir nicht scheitern gewann Mario Salazar 2012 nicht nur den Publikumspreis beim Essener "Stück auf"-Wettbewerb sondern war auch im Wettbewerb um den Heidelberger Stückemarktpreis dabei. Hier das Stückporträt von Wolfgang Behrens.
Der Anfang wirke wie ein Comicstrip in Schwarz-weiß, so Burgit Hörttrich im Westfalen Blatt (18.11.2013). Frau Mwanda, eine Frau aus Afrika, die alles richtig, aber es niemanden recht machen könne, findet ihren Nachbarn tot in der Gelben Tonne, "die Hausgemeinschaft spricht darüber, aber es berührt keinen". Fazit: "Ein dunkles Stück über Menschen, die an sich selbst scheitern. Ein Stück mit bösem, groteskem Humor."
Der Berliner Autor Mario Salazar hat "eine Endzeit-Groteske geschaffen, die schwer zu greifen ist und doch fasziniert", schreibt Sven Behler in Die Glocke (18.11.2013). In der dichten und ideensprühenden Inszenierung von Christian Schlüter pendle das Bühnengeschehen zwischen bitterböser Apokalypse und bodenloser Absurdität. "Das elfköpfige Ensemble liefert zwei Stunden lang eine Glanzleistung ab", das ganze strotze vor Tiefe, Charme und Kraft.
Kurz und böse serviert Till Briegleb den Abend in der Süddeutschen Zeitung ab (22.11.2013), der "wie ein zu lang erzählter Witz um Aufmerksamkeit" buhle. Den "Dauerradau der Laster-Allegorien" steigere Regisseur Christian Schlüter noch zur Travestie. "Übertreibung in Verkleidung und Spiel übervölkern das bereits hoffnungslos überfrachtete Weltalbum der Untalente mit weiteren Karikaturen. Und so sind die zwei Stunden Scherzdehnung über die Bosheit des Menschengeschlechts am Ende die Karikatur eines Theaterabends."
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