Der Kaufmann von Venedig - Elmar Goerden lässt Shylock von einer Frau spielen
Jenseits der Finanzkrise
von Sarah Heppekausen
Bochum, 10. Oktober 2008. Partylaune auf dem Rialto: Hier wird zur Klaviermusik gesungen und getanzt statt einer Finanzkrise entgegengezittert. Die Damen aus Belmont haben sich auch schon unter das geschäftige Volk gemischt. Auf eine lokale Trennung des romantisch-märchenhaften Landsitzes und der harten Realität in Venedig, wie Shakespeare sie angelegt hat, verzichtet Regisseur Elmar Goerden. Er lässt seinen Kaufmann von Venedig durchgehend in einer Ansammlung unzähliger silberner Bistro-Stühle spielen.
Bevor hier die großen Themen Geld, (Nächsten-)Liebe, Gnade und Recht die Gemüter beschweren könnten, sorgt der Bochumer Intendant in seiner Saisoneröffnungs-Inszenierung erst einmal für stimmungsvolle Atmosphäre auf der Bühne von Silvia Merlo und Ulf Stengl, inklusive Profi-Sängerin und Geburtstagstorte.
Ohne Illusionen
Das macht es dann jedoch schwierig, Benno Iflands Antonio die Melancholie am Beginn des ersten Akts abzunehmen. Aber vermutlich geht es darum auch gar nicht. Denn Antonios Worte "Ich weiß gar nicht, warum ich so traurig bin, die Depression macht mich ganz schön blöde" werden später noch von anderen wiederholt. Im Gegenteil: Goerden macht gleich unmissverständlich deutlich, dass er Shakespeares als Komödie ausgewiesenes Drama auch als solche versteht. Ernste Szenen gibt es zwar, aber die Schauspieler spielen sie selten aus.
Renate Becker allerdings hat viele dieser bedachtsameren Momente. Die Schauspielerin stellt – in umgekehrter Shakespeare-Tradition – den Juden Shylock dar, den Antonio für seinen Freund Bassanio um ein Darlehen bittet. Beckers Shylock ist kein abgebrühter Teufel oder schmieriger Kreditgeber, die weiblichen Züge verleihen ihm eine Verletzlichkeit, die seine Opferrolle verstärkt. In einem Gespräch mit Lessings Nathan, das Goerden der Textfassung zufügt, ist Shylock ein Holocaust-Überlebender, der weder an Illusionen noch an den falschen Messias, also Aufklärung und Toleranz glaubt.
Mehrdeutige Charaktere
"Ich will als Jude Mensch sein dürfen, nicht Mensch statt Jude", postuliert Shylock nach Goerden. Und er fordert sein Recht – ein Pfund Fleisch –, als Antonio nicht in der Lage ist, seine Schulden zu begleichen. In der Gerichtsszene verwandelt sich Renate Becker vom Messer wetzenden Rächer zum jammernden Bittsteller. Gebrechlich wirkt sie dann plötzlich, bemitleidenswert.
Ähnlich facettenreich zeigt auch Christoph Pütthoff den Bassanio. Als Lebemann mit tief geöffnetem Hemd, Drink und Zigarette in der Hand, spekuliert er zu Beginn noch auf das Geld der reichen Portia. Als Shylock droht, seinem Freund Antonio das Herz herauszuschneiden, wehrt er sich emotionsgeladen, voller Gefühl. In diesem kurzen Augenblick ist die ganze Kraft der Emotionen spürbar. Nur hier. Das Verhältnis zwischen Portia und Bassanio und innerhalb der zwei anderen Paare wird eher als körperliches Begehren abgehandelt.
Bei Shylock und Bassanio also funktioniert die Umsetzung der von Shakespeare mehrdeutig angelegten Charaktere. Weniger gelingt es Claude De Demo mit ihrer Portia. Sie wechselt von einem Extrem ins andere ohne sichtbare Entwicklung. Ihr nimmt man die trickreiche, spontane und manchmal naiv handelnde Frau ab, aber keine echte Liebe.
Viel zusätzliches Material
Nerissa (Maja Beckmann pendelt zwischen wunderbarer Komik und beherztem Aktionismus) wird in Goerdens Fassung zu Portias Schwester. Gemeinsam gehorchen und trotzen sie den Anweisungen ihres verstorbenen Vaters, der als riesige Porträt-Aufnahme über der Bühne wacht oder im liebevollen Familienvideo mit seinen kleinen Töchtern zu sehen ist.
Goerden bestückt den Kaufmann von Venedig mit reichlich zusätzlichem Wort-, Gesangs- und Bildmaterial. Doch verhindert er so eine nachvollziehbare Richtung seiner Inszenierung. Verweise auf die aktuelle Finanzkrise liegen nahe, und es gibt sie auch: in den Sätzen, die, an die Wand projiziert, den Szenen vorausgeschickt werden, oder in Form der Wirtschaftsseite einer Tageszeitung. Aber das Geld wird genauso wenig zum tragenden Thema wie die Liebe oder der Antisemitismus. Die Ansätze nehmen sich gegenseitig die Wirkkraft oder verlaufen sich im Vagen: unverbindlich und auswechselbar, wie die silbernen Bistro-Stühle.
Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare
Deutsch von Elisabeth Plessen
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Musik: Franziska Dannheim und Torsten Kindermann.
Mit: Manfred Böll, Christoph Pütthoff, Benno Ifland, Alexander Maria Schmidt, Marco Massafra, Franziska Dannheim, Torsten Kindermann, Renate Becker, Sven Walser, Claude De Demo, Maja Beckmann, Elisabeth Hart.
www.schauspielhausbochum.de
Mehr über Elmar Goerden? Im Oktober 2007 eröffnete er die Saison in Bochum ebenfalls mit Shakespeare, und zwar mit Wie es euch gefällt. Im Januar 2008 inszenierte er Friedrich Schillers Trauerspiel Maria Stuart, im Mai 2008 Ödön von Horvàths Geschichten aus dem Wiener Wald. Dramatisch war es im Bochumer Schauspielhaus in jenem Mai auch jenseits der Bühne, als Intendant Elmar Goerden erklärte, seinen Vertrag wegen massiver Kritik am künstlerischen Profil des von ihm geleiteten Hauses nach Ablauf der Spielzeit 2009/2010 nicht mehr verlängern zu wollen. Hier Goerdens Rücktrittsrede im O-Ton.
Kritikenrundschau
Werner Streletz von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (12.10.08) weiß, dass es sich bei der Bochumer Inszenierung von "Der Kaufmann von Venedig" um einen "lang gehegten Wunsch" von Intendant Elmar Goerden handelt. Die "gelegentlich disparaten und mit viel ohrgefälliger Musik kombinierten Inszenierungs-Teile" fügten sich insgesamt zu einem "Abend der ungewohnten und dennoch plausiblen Shakespeare-Aneignung – fernab von aller polierten Glätte". Dabei erweise sich die Besetzung des Shylock mit Renate Becker, die eine "große Leistung" biete, "als überaus angemessen". Sie spiele die Verhärmtheit und Verbissenheit des Außenseiters "als ergreifenden Typus des mit seinem Schicksal Hadernden: ein sich in verzweifelten Beharrungswillen versteigernder Fremdkörper in einer Gesellschaft von beinahe selbstgefälligen Christen".
In Bochum blitzten "bedrohliche Messer, und Blut klebt schmierig an den Wänden", berichtet Bernd Berke für die Westfälische Rundschau (13.10.). Hier werde "nichts verharmlost, sondern grell verdeutlicht". Der Versuchung, an die aktuelle Finanzkrise anzudocken, widerstehe auch Goerden nicht ganz und zitiere ansonsten "etliche Ideen-Partikel" zum Stoff herbei, die sich lose anlagerten – "gut möglich, dass eine solche Materialsammlung eine der besseren Arten ist, mit dem Text umzugehen, der (...) ohnehin nicht spielend 'auszudeuten' ist". Die hintersinnigen Sprüche, die als Projektionen aufleuchten, laufen für Berke allerdings "recht unverbunden" nebenher und klärten kaum die "eingangs eindringlich gestellte Frage, aus welchem Stoff denn die menschliche Depression bestehe". Dennoch: "trotz mancher Lärmigkeit" eine "insgesamt achtbare Inszenierung", in der Becker als Shylock eine "veritable, tiefer durchdrungene Figur" abgebe, bei der sich die Widersprüche "zum bewegenden Bild eines leidenden Menschen" formten.
"Nichts Neues auf dem Rialto. Eine Party wird gefeiert, und die chromblitzenden Stühle und Tische, die hier herumstehen, sind auch nicht besser als die auf dem Theatervorplatz", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.10.) Und auf der Bühne: "Lauter Leute von heute, Anzugträger mit offenen Krägen und guter Laune. Warum er so traurig ist, kann Antonio da "wahrhaftig" nicht sagen." Keine Gegenwelt tut sich hier auf, und "was dieser Shylock da in den Schuldschein aufnehmen lässt, (...) ist doch nicht ernst zu nehmen, und wer ist der überhaupt?" Er ist "ein alter Mann, klein und korrekt, Relikt einer anderen Zeit," der "eine Leidensgeschichte mit sich herumträgt, die niemanden mehr interessiert". Diese Figur wäre, schreibt Rossmann, "jenseits des antisemitischen wie kapitalistischen Klischees, bemerkenswert, wenn die Regie mehr damit anfinge". Doch Elmar Goerden "weicht immer wieder ab von Shakespeare". So entsteht eine "konfuse Inszenierung", die sich nicht genug auf das Drama einlässt, "um eine eigene Lesart entwickeln zu können".
In der Süddeutschen Zeitung (14.10.) schreibt Till Briegleb: "Shakespeares "Kaufmann von Venedig", so könnte man meinen, ist ein Stück, das sehr viel mit Theaterleuten zu tun hat, geht es darin doch um die Frage, wie man Demütigungen aushält." Hat Elmar Goerden also darum dieses Stück als Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit ausgewählt? "Auch Goerden hat einiges einstecken müssen." Und da Goerden ja seinen Vertrag als Intendant freiwillig nicht verlängert hat, fragt sich, ob er "klüger als sein Shylock" ist. Zumindest verbinde ihn mit Shylock eine intime Bekanntschaft, "denn bereits 1999 hat Goerden eine Textcollage mit dem Titel 'Lessings Traum von Nathan dem Weisen' verfasst und in Stuttgart inszeniert". Und auch die zentrale Szene in seinem "Kaufmann" ist "nicht von Shakespeare, sondern von Goerden". Aber da "man Shakespeares Stück mit seinem offenen Antisemitismus in Deutschland nie ohne die Erfahrungen des Holocaust lesen kann, wirkt diese implantierte Szene natürlich etwas lehrstückhaft". Das Stück bietet dabei "zahlreiche Szenen, in denen sich die Motive für Rassenhass und Selbstsucht darstellerisch ausdeuten ließen". "Leider tut das niemand." Denn die Inszenierung weigere sich, "Probleme von Antisemitismus, Hass und Demütigungen in zeitgenössischen Rahmenbedingungen ernsthaft zu verhandeln". Briegleb merkt daher noch an: "Goerdens Nachfolger, vermutlich einer aus dem Quartett Thomas Oberender, Sebastian Nübling, Stefan Bachmann und Anselm Weber, muss sich der Aufgabe stellen, dieses Déjà-vu eines erschlafften Regietheaters aus den Achtzigern mit entschlosseneren Zugriffen zu verscheuchen, damit Bochum seinen alten Stellenwert wiedererlangt."
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Diese Inszenierung ist mit Sicherheit äußerst gelungen.
Die ewige Nörgelei ist kaum noch zu ertragen.
Vielleicht bietet Goerden nur manchmal Ansätze, aber wenn die Damen und Herren, die das bemäkeln auch nur halb so intellektuell sind, wie sie sich darstellen, sollte es für sie kein Problem sein, selbst ein Stück weiterzudenken.
Es nervt!!!!
das war eine sehr beeindruckende inszenierung, die mich von der ersten minute an gefesselt hat.
zudem hatte ich den eindruck einer sehr persönlichen arbeit von goerden. dazu ein wunderbares ensemble, das wirklich zusammengespielt hat.
bei bösch ist das fazit halt positiv, obwohl während der besprechung auch genörgelt wird (in essen am gleichen abend meine ich), bei goerden wird eigentlich gutes beschrieben, um dann mit dem letzten satz doch noch zuzustossen.
ziemlich eklig.
viel spass allen, wenn dann in bochum der gleiche käse gemacht wird, wie in hamburg, berlin...:
ironische moderne...
Das waren Ansätze, die keinen Sinn ergaben.
Herr Goerden ist ein netter Kerl, aber so verspielt er den Ruf unseres Theaters weiter.
M.H.
haben Sie eigentlich kurz vor dem letzten Satz noch schnell die Kurve kriegen müssen, weil Sie gemerkt haben, daß es auf eine durchaus positive Besprechung hinausläuft? Das darf natürlich nicht sein. Hat jemand Puchers "Kaufmann" gesehen? Da ist Goerden aber in punkto gedanklicher Esprit und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung eine andere Hausnummer. Ich gebe zu, daß eine solche Haltung allerdings z.Zt. nicht angesagt ist, gerade in meiner Zunft (Feuilleton). Schade daß B. Henrichs nicht mehr schreibt, der hätte es sicher bemerkt.
Die Reise hat sich jedenfalls sehr gelohnt.
A.B. Sutter (Basel)
hoffentlich wird das nicht zu lang und unpolemisch für dieses Forum hier. Bestimmte Debatten funktionieren offensichtlich nur mit einem sehr kurzen Gedächtnis. Jahrelang hat man Elmar Goerden als den Protagonisten der Werktreue durchs Dorf getrieben. "Zu eng am Text!" hieß die endlos repetierte Dauerformel, sowohl in Stuttgart als auch später in München. Seine O'Neill Inszenierung für die Salzburger Festspiele wurde von C. Dössel in der SZ als ultimatives Beispiel von "Schauspielertheater" bezeichnet. Jetzt muß er plötzlich als Protagonist des "Regietheaters" herhalten, der den Text mit zuviel "Fremdmaterial" bestückt. Wie geht das zusammen? Lohnte nicht eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Regisseur, der wie (auch in diesem Forum wieder nicht zu übersehen) so die Lager spaltet. Goerden hat im Gegensatz zu den wenigen ernsthaften Kollegen seiner Generation im Feuilleton keinerlei Lobby, das ist nicht zu übersehen. Es ist schade, dass man so wenig über ihn weiß, stattdessen so viel über ihn polemisiert. Ich habe gelesen, daß Armin Petras starkes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Goerden hat, daß Bosse ihn sehr schätzt, ich selber habe ihn hier am DT im Gespräch mit Thalheimer gesehen (belauscht). Ich könnte mir vorstellen, daß das Feuilleton Bild von Goerden mit der realen künstlerischen Persönlichkeit nichts zu tuen hat. Man hört, daß er malt, selber Jude ist, wer weiß darüber mehr? Ich weiß aus eigener Erfahrung (arbeite im "Theater des Jahres"), daß er bei vielen Schauspielern einen exzellenten Ruf hat und es mittlerweile durchaus ein Thema ist, daß man ihn kontinuierlich in die Pfanne haut, egal was er macht. Den "Kaufmann" konnte ich nicht sehen. Hätte aber gerne erfahren, wie das Publikum darauf reagiert hat.
Gruß aus Berlin!
R. Herget (Köln)
Übrigens auch bezeichnend, dass diese Thematik in der Rezeption der Inszenierung scheinbar sonst nirgends vorkommt.
An den Rossmann-Kritiken verzweifelte ich schon zu Steckel-Zeiten, als ich noch in Bochum lebte. Und zu Hausmann-Zeiten war Steckel plötzlich in den Augen des Kritikers die maßgebliche Bezugsgröße! Da scheint mir Hasliebe zum Bochumer Theater im Spiel zu sein bzw. ein an sich ehrenwertes, aber zwanghaftes Bemühen, jede regionale Befangenheit zu negieren. Und dabei schießt er dann zuweilen weit übers Ziel hinaus.