Iwanow - Schauspielhaus Bochum
So viele Räder, Schrauben und Ventile
von Andreas Wilink
Bochum, 18. Januar 2020. Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt. Auf der Bühne des Schauspielhauses Bochum ist Geäst verstreut, Stümpfe und Stämme von Bäumen. Das ist geblieben von Tschechows Landleben: mehr Skulptur als Natur. Oder auch zerbrochene Wirklichkeit. Die Rückwand hat Johannes Schütz großzügig zur Etagere ausgebaut: Arsenal und Ablage für Menschen und Gegenstände, allerhand Gebrauchsgut und Ausrangiertes, Teegeschirr, Kerzenleuchter, eine Menora, Stühle, die auf keinen Sitzenden zu hoffen scheinen.
Zuletzt wurde "Iwanow" hier klein gemacht. 2004 inszenierte der damalige Intendant Matthias Hartmann den frühen Tschechow in den Bochumer Kammerspielen mit Michael Maertens als Gegenwartsmenschen, der nicht einmal sterben kann. Die Kugel, die er sich in den Kopf schoss, rollte ruhelos weiter in ihm, stieß mal hier am Leidenspathos an oder drehte ab in die Illusionsverweigerung und die Krise der Saturiertheit. Iwanow stand neben sich und traf dort seinen Interpreten Maertens, der ebenfalls neben sich stand: Haltungen und Haltungsschäden in einer Person.
Fragmentkörper im Phantomzimmer
Jens Harzer hingegen – eingezogen ins Schauspielhaus, mithin ins große Format – ist bei sich und mit sich. Aber was für ein Ich ist das? Eines, das von seiner Schuld spricht und dabei im Geiste schon bei seiner Visite ist, die ihn wegführt. Es ist kein Bleiben für ihn – nicht in sich selbst und nicht in der Welt. In seinem Körper ist dieser Gliedermann so wenig daheim wie in seinem Zuhause, wo seine todkranke Frau Anna Petrowna, geborene Sarra Abramson, die für diese Ehe dem Glauben ihrer Eltern abgeschworen hat, nun keine Luft zu atmen mehr hat. Tuberkulose, stellt der Arzt Lwow fest, dessen wahrheitsfanatische Jugend Regisseur Johan Simons so ernst nimmt, dass er einen hochbeinigen schmucken Jüngling (Marius Huth) in ein revoltierend rotes Blusenhemd steckt und ihn sich treusorgend seiner Patientin widmen lässt.
Lesen, vielleicht träumen – von seinem besseren Ich. Mit gespreizten Beinen sitzt Iwanow, als sei er knochenlos und bestünde nur aus Weichteilen, am Rande des Raums im Raum: einem goldfarben gerahmten Kasten. Bald wird dieser "Fragmentkörper", wie Klaus Theweleit sagt, der ebenso verzärtelt mit wie gleichgültig gegenüber sich selbst ist, sich in dem filigran konstruierten Phantom-Zimmer zurecht machen für seinen Besuch bei den befreundeten Lebedews, seinen Gläubigern, und deren Tochter Sascha, die gerade 20 wird. Dafür nestelt Jens Harzer an sich herum, um Socken, Schuhe, Pullover, Anzugjacke, alles in Schwarz, in Facon zu bringen. Beinahe ein Dressurakt – eine komische Nummer, die nicht lachen macht. Später rutscht er auch mal in den Slapstick aus und versucht sich an Kapriolen, die harmlos obszön sind und ihn, aufgedreht und aufgezogen, befallen wie andere das Tourette-Syndrom.
Iwanow auf dem Zauberberg
Simons und sein Ensemble öffnen das Tschechow-Stück und die Chronik der Seelenmorde, als sei es ein Roman von Henry James oder als sei Iwanows Anwesen auf dem Zauberberg gelegen, wo es im Speisesaal der Lungenkranken den guten und den schlechten Russentisch gibt, und ein Kapitel "Der große Stumpfsinn" heißt. Simons nimmt sich alle Zeit der Welt, verwaltet sie klug und gewichtet sie gleich. Sie vergeht nicht, ob langsam, ob schnell, ob angeregt, ob sterbensmüde, sie steht still. Langeweile und Kurzweil überblenden in eins. Das leise Anschlagen einer Glocke kündet von vielen letzten Stündlein. Aber dann wird mit dem Instrument so laut gebimmelt, dass das Leben noch einmal wiederkehrt – für Iwanow. Das metallische Bimbam ruft auf zum schlenkernden Twist von Iwanow und Sascha, während die leidensmüde Anna (Jele Brückner) – wie der Schatten von Eurydike – aufrecht und stumm zuschauend am Klavier sitzt, dem Requisit bürgerlichen Selbstverständnisses und auch seiner kultivierten Kälte.
Danach wird – als Pausenzeichen – der Salon der Lebedews, für dessen Herrichtung das Bühnen-Rechteck in schräge Höhen gezogen wurde zu einem Panoramafenster auf Kipp, abgeräumt mitsamt dem zuvor dorthin getragenen eineinhalb Dutzend Stühlen. Auch diese Möglichkeit also ist abgetan: Iwanows Alternative eines Glücks mit Sascha galt nur einen Tanz lang. Für die Hochzeit reicht es nicht. Er, der sich selbst abwinkt, schien nur darauf zu warten, dass ihn sich jemand schultert. Eine wie Sascha, deren ungebärdige, elastische Elfen-Burschikosität Gina Haller gar nie zügeln will, die all ihre Energie von den Fingerspitzen bis in die Fußballen leitet und die vibriert, als erwarte sie beständig einen Sparringspartner.
Neugier-Sympathie für die Überflüssigen
Iwanow bleibt, was er ist: in symbiotischer Kumpanei mit seiner "Scham als verhüllter Begleiterin des Narzissmus", wie der Psychoanalytiker Léon Wurmser sie deutet. Aber, nein, auch das greift zu kurz. Das Räderwerk Mensch ist um vieles komplizierter – Iwanow spricht von den "zu vielen Rädern, Schrauben und Ventilen". In der Introspektion hat er es weit gebracht, so weit, dass er Anderen das Grausamste sagt und doch gegen sich selbst schonungsloseste Anklage führt. Da hat es ein Kerl wie der Gutsverwalter Borkin einfacher. Thomas Dannemann (große Freude, ihn in seiner saloppen Präzision auf der Bühne wiederzusehen!) zeigt ihn ausgebufft patent wie eine Vorstudie zu Lopachin, der den "Kirschgarten" aufkauft; ein grauer Grabscher-Wolf mit Goldkettchen auf offener Hemdbrust, der doch auch nur gestreichelt werden will, auf dass sein prosaisches Fell feiner glänzt.
Für diese Überflüssigen – knochentrockene Habitués (Martin Horn, Bernd Rademacher), sonderliche Schwärmer und Umschwärmte, Weit- oder Engherzige, Verschwenderische und Unnachgiebige – hegt Tschechow Neugier-Sympathie. Johan Simons steht ihm darin nicht nach. Zwei Meister haben sich gefunden, die Jugend des einen ergänzt das Alter des anderen wunderbar – und umgekehrt. Zum Schluss hin verdichtet sich die Inszenierung und wird zur Intensivstation mit Duoszenen und ergreifenden Soli, in denen Jens Harzer in das Unlösbare und Unerlöste der Existenz vordringt, die Nikolaj Aleksejewitch Iwanow für sich und uns darstellt. Ein Menschenleben vergehen zu sehen, braucht Zeit. Braucht Verausgabung, die keine Verschwendung ist.
Iwanow
von Anton Tschechow, Übersetzung Angela Schanelec
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Sofia Brockhausen, Dramaturgie: Angela Obst, Musik: Benjamin van Dijk, Lichtdesign: Bernd Felder.
Mit: Jele Brückner, Konstantin Bühler, Thomas Dannemann, Marina Frenk, Gina Haller, Jens Harzer, Martin Horn, Marius Huth, Veronika Nickl, Bernd Rademacher, Romy Vreden.
Premiere am 18. Januar 2020
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.schauspielhausbochum.de
Kritikenrundschau
"Wenn man nur einen Abend hätte, um in diesem Jahr ins Theater zu gehen", hebt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.1.2020) zu einer regelrechten Hymne an, "dann müsste man nach Bochum fahren. Zum Iwanow, mit Jens Harzer". Vier Stunden dauere dieser Abend, dessen Ende dennoch "viel zu früh" komme, denn "zu schön, zu tief ist gewesen, was eben auf der Bühne zu sehen war". Jens Harzer als Iwanow sei der "zurzeit wahrscheinlich sensibelste Schauspieler deutscher Sprache" und spiele "diesen verlorenen Schuldiger in all seinen Facetten". Harzer wechsele "unberechenbar die Stimmung und den Ton, mitunter sogar innerhalb desselben Satzes", seine "innere und äußere Beweglichkeit" ziehe "ganz in den Bann, "gerade weil er von einem ebenso phantastischen Ensemble umgeben ist". Die Frage, die hier über allem schwebe, sei: "Nach welcher Regel führt man sein Leben?" Die Antwort, die Johan Simons' Abend darauf gebe, sei ihrerseits ein "strahlender Siegesbeweis für das poetische Theater".
Ein "großartig eingestelltes Ensemble mit einem charismatisch verhuschten Jens Harzer in der Titelrolle", hat Christoph Ohrem im Deutschlandfunk Kultur (18.1.2020) gesehen. Im Bühnenbild von Johannes Schütz werde die "Selbstzerfleischung des Protagonisten" durchaus auch "mit sehr viel Humor" aufbereitet, so der Rezensent. Man bekomme den Eindruck, "dass die Figuren auf der Bühne sich selbst beim Spielen zuschauen und auch miteinander interagieren, auch nonverbal". Das erzeuge eine Spannung und Energie, die "die bis ins Publikum hinein reiche".
Jens Harzer als Iwanow sei ein "großartiger, vielschichtiger Charmeur", so Anke Dürr auf Der Spiegel (19.1.2020), wo Simons' Bochumer Inszenierung direkt mit Karin Beiers gleichzeitiger "Ivanov"-Premiere in Hamburg verglichen wird. "Melancholisch, fast verdruckst wirkt er, wie er da anfangs vorn an der Rampe auf seinem Stuhl hockt, im zerknitterten Hemd, die Schultern gebeugt, die Hände knetend". Johan Simons' Regie dränge einem dabei "die Übertragung in die Gegenwart" nicht auf, sondern erzähle "das Drama der Langeweile". Dabei seien zwar einige "Durchhänger" hinzunehmen, aber man bekomme eben und "zum Glück" auch: Jens Harzer.
"Johan Simons zeigt uns die Welt aus Iwanows Sicht, und aus dieser Monade gibt es kein Entrinnen. Wie ungeheuer überdrüssig seiner selbst muss dieser in manieriertem, oft unmoduliertem, unbestimmt sehnend-leidendem Ton salbadernde Mensch sein", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2020). Jens Harzer verströme jene Art unverdünnten Weltekels, der am Ende alles zersetzen werde.
Jürgen Boebers-Süßmann von der Westdeutschen Allgemeine Zeitung (20.1.2020) bezeichnet den Abend als einen "veritablen Erfolg", als "Erlebnistheater" mit "hoher Schauspielkunst pur". Zwar sei die zweite Hälfte etwas lang geraten, "aber dass der Regisseur und seine Schauspieler/innen dem Geist Tschechow'schwer Dramenkunst gerecht werden, darüber besteht objektiv kein Zweifel".
"Großartiges Sprechtheater" hat Achim Lettmann vom Westfälischen Anzeiger (20.1.2020) gesehen bzw. gehört. "Simons' intensives Regietheater schafft mit seiner Wirkkraft Verweise in unsere Zeit und bleibt dem Original doch verpflichtet.“ Jens Harzer verenge die Seelenqualen Iwanows immer introvertierter, mache sie wirklich körperlich fühlbar.
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(Lieber Frank Dewell, dann schreiben Sie doch Kommentare, die zu 100 Prozent nicht ad personam gehen. Hier im Impressum finden Sie unseren Kommentarkodex. https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102Mit freundlichen Grüßen, sd/Redaktion
Mein Unbehagen, das bleibt, beruht auf einer empfundenen Ungerechtigkeit bzw. Dominanz der mit Männern besetzten Rollen und der von Männern geschriebenen Texte über Iwanow im Programmheft gegenüber anderen Geschlechtern. Das Empfinden steht dabei im Widerspruch zu meiner Wertschätzung der Vielfalt des Ensembles des Bochumer Schauspielhauses.
Dass die stark männlich geprägte Deutung des Imwanow in der Inszenierung und im Programmheft unreflektiert bleiben, halte ich für ein Manko. Frauen sind für Iwanow austauschbar (Anna Petrowna, Sascha), haben viel Geld, aber wenig intellektuelles Interesse (Zinaida Sawischna, Marfa Jegorowna Babakina) oder werden als Jüdin diffamiert (Anna Petrowna). Sie erfahren folglich wenig Wertschätzung.
Diesem Ungewicht hätte freilich durch die Textauswahl im Programmheft entgegen gewirkt werden können. Das ist nicht geschehen. Daher bleibt nicht nur Iwanow, sondern auch mir ein Unbehagen.
Bei der Frage, ob "Iwanow" eine Komödie oder eine Tragödie ist, dominiert in der Simons-Interpretation klar die Tragödie: Tief stecken die Figuren in Weltschmerz und Langeweile, auf Comedy-Auftritte wie von Lina Beckmann, Bastian Reiber und Michael Wittenborn in Karin Beiers Inszenierung, die am selben Januar-Wochenende 2020 in Hamburg Premiere hatte, wurde in Bochum verzichtet.
Ich war damals sehr beeindruckt davon (Television). Premiere 2OO5. -
Zustand der Subjekte in einer zunehmend asozialen Welt, in der die
Verbesserung des einen Teils immer mit einer Verschlechterung der
Lebensbedingungen von Menschen des anderen Teils verbunden ist. Der
globale Markt fordert seine Opfer. "Iwanow" als groteske Komödie einer
Gesellschaft in Stagnation. Die Schauspieler, an ihrer Spitze Samuel
Finzi als Iwanow, stellen die Daseinszweifel ihrer Figuren, die sich
im existentiellen Elend vergeblich einzurichten suchen, mit schmerz-
hafter Kraft und trauriger Komik aus. (aus "vimeo", Volksbühne Archiv).
Der Mensch ist jedoch nicht immer aus krummem Holz geschnitzt. Die
Wirklichkeit ist nicht immer eine zerbrochene. Dem Iwanow im frühen
Tschechow aber scheint alles zerbrochen. Ich mag diese Tschechow-Figur
nicht sonderlich leiden. Lieber ist mir doch der Konstantin Trepljow:
Da - eine Möwe - eine MÖWE! - in meiner lebensbejahenden Vorstellung
jagt er sich keine Kugel in den Kopf, sondern befreit sich von seiner zwanghaften, unreifen Liebe zu Nina Sarjetschnaja durch sein befreien-
des Schreiben. - Das Iwanow-Ich das von seiner Schuld spricht und
dabei im Geiste schon bei seiner Visite ist, die ihn wegführt. Es ist
kein Bleiben für ihn - nicht in sich selbst und nicht in der Welt, die
ihm schließlich nur eine schlechte ist. Er ist in seinem Körper so
wenig daheim wie in seinem Zuhause mit seiner Frau, welche todkrank
ist. Kann man denn bei einer "Todkranken" zu Hause sein? Da hat er wohl
kaum gesunde "Liebesluft" zu atmen, denn sein armes Weib hat Tuberkulose.
In der Vase neben ihr steht vielleicht schon eine dunkelrote "Todesrose".
Es ist ganz klar und verständlich, Iwanow in seiner Depression flüchtet
zu seinen Gläubigern, zu deren Tochter Sascha, sie ist jung, gerade 2O.
Ob Mann oder Frau - wir alle tun es: Wo ist die Jüngere, die Nicht-Kranke, lebendig Verliebte? Mann/Frau will heraus-kommen aus der krank-
machenden Beziehung, der Ehe, dem Lebenstief und der Müdigkeit, dem
"Arbeitsleid", dem "Großen Stumpfsinn" und der Traurigkeit zum Tode! -
Jedoch, Iwanows scheinbares Glück mit der von ihrer Verliebtheit
energiegeladenen Sascha, dauert nicht, dauert nur einen Tanz lang,
dauert nur kurz - wie auch unser Leben ein viel zu kurzes Leben ist.
Andreas Wilink hat Recht: Das Räderwerk Mensch ist kompliziert (Arthur
Schnitzler: - aber interessant). Iwanow: "zu viele Räder, Schrauben und Ventile", eine hochinteressante Maschine! - So hat ein solcher Mensch
es weit gebracht in der Introspektion, er sagt Anderen das Grausamste
und führt doch gegen sich selbst eine schonungslose Anklage. (Henrik
Ibsen: Gerichttag halten über sein Ich! (Bezug Tschechow zu seinem
großen Vorbild Ibsen)).
Das Unlösbare und Unerlöste einer solchen menschlichen Existenz.
Iwanow stellt es für uns dar.
Wir sind vergängliche Wesen. Darauf deutet hin gegenwärtig
unmissverständlich unsere gefährliche Zeit.
„Das Theater hat der Gesellschaft in dem Punkt etwas voraus. Es probt seit Jahrhunderten Katastrophen und Dystopien und spielt sie in der Phantasie durch und ist somit kulturell und sozial erfahrener in dem Bereich oder sollte es zumindest sein. Hier liegt die Krux. Spielt das Schauspiel diese Konstellationen nicht mehr durch, verliert es enorm an Relevanz und wird zum Vehikel einer wie auch immer gearteten politischen und wirtschaftlichen Vernunft.“
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