Peer Gynt - Düsseldorfer Schauspielhaus
Ich ist kein Anderer
13. Januar 2024. Was heißt das, im tiefsten Wesensgrund: man selbst sein? Peer Gynt, der Ich-süchtige Träumer, Poet und Lügner, macht sich bei Ibsen auf eine verschlungene Reise zum eigenen Wesenskern. Die Wegstationen ordnet Bernadette Sonnenbichler in ihrer Inszenierung rund ums Sterbenmüssen gänzlich neu an. Kann man da noch folgen?
Von Martin Krumbholz
13. Januar 2024. Vorsicht "Peer Gynt"! Das Stück ist verdammt schwierig, dramaturgisch, technisch, inhaltlich. Einerseits verführerisch wegen der bizarren mythologischen Aufrüstung (Trolle treten hier auf, als wäre es selbstverständlich), andererseits inkompatibel wegen der unüberschaubaren Ab- und Umwege, die der norwegische Dichterfürst in seinem ingeniösen Jugendwerk beschreitet. Selbst der große Jürgen Gosch hat seinerzeit vor diesem Stoff kapituliert wie vor keinem anderen.
Klimaneutral, aber nicht verständlich
Die Frage, die sich nach dieser "ersten klimaneutralen Bühnenproduktion" am Düsseldorfer Schauspielhaus stellt, ist also weniger die, wie die Klimabilanz tatsächlich ausfällt: Es lässt sich schwer beurteilen. Das Bühnenbild von Wolfgang Menardi gibt sich nicht unbedingt spartanisch, aber materialreduziert: Teile aus früheren Produktionen wurden wiederverwendet; an Licht scheint nicht gespart worden zu sein, man sieht alles. Im Wesentlichen ein Baugerüst, in der Mitte ein Krankenbett.
Die Frage ist vielmehr, ob man nicht versuchen sollte, die komplexe Geschichte so zu erzählen, dass sie verständlich wird. Davor hat die Hausregisseurin Bernadette Sonnenbichler sich gedrückt; stattdessen hat sie den Text (in der Fassung von Peter Stein und Botho Strauß) genommen und in einen rabiaten dramaturgischen Quirl gesteckt, der die Reihenfolge der Abläufe kräftig durcheinander wirbelt. Die Idee war offenbar, die Lebensgeschichte der narzisstischen Persönlichkeit Peer Gynt aus der Perspektive des Todes zu erzählen. Der "Knopfgießer", der Peer wegen dessen angeblicher Mittelmäßigkeit in seiner Kelle einschmelzen will, tritt schon gleich anfangs auf. Dann folgt unvermittelt der Sturm, in dem Peer einen anderen Passagier über Bord wirft, anschließend die besorgte Mutter Aase; die Trolle, die Peer beibringen, er habe "sich selbst genug" zu sein, erscheinen erst nach der Pause.
Projektionen eines Sterbenden
Doch Peer Gynt ist kein Jedermann. Seine Geschichte ist schon sehr speziell, sein Charakter ebenfalls, und es hat gute Gründe, wenn Ibsen das sonderbar Selbstbewusste, Hochfliegende dieses Charakters in der ersten Szene des Stücks ausführlich schildert, in der mit seiner Mutter Aase eben. Man will diesen Jungen doch erst einmal in groben Zügen kennenlernen, bevor man sich mit seinem unvermeidlichen Sterben beschäftigt! Sonnenbichler baut ohne Not Verständnishürden auf, einer Idee zuliebe, die sämtliche Nicht-Peers in dieser Aufführung als Projektionen eines Sterbenden erscheinen lassen.
Heiko Raulin, der lädiert in die Premiere gegangen ist (man merkt es kaum), spielt gleichwohl die Titelrolle faktisch allein. Aber Raulin spielt sie sozusagen aus einem Guss, nervös, dauerirritiert, oft laut, ohne merkliche Ausschläge nach oben oder unten. Er spielt im Unterhemd, was kaum klimapolitische Ursachen haben dürfte, was außerdem zu diesem selbsternannten Kaiser der Selbstsucht ungefähr so gut passt wie die Perlzwiebel zum Spaghettieis, und schöner macht es ihn auch nicht.
Wunder der Zwiebelszene
Die einzige Frau auf der Bühne ist die Musikerin Karla Wenzel, und die dezente live gespielte Musik ist ausgezeichnet; die Frauenfiguren Aase (Jürgen Sarkiss), Solveig (Raphael Gehrmann), Ingrid (Mila Moinzadeh) werden von Männern gespielt. Die das natürlich irgendwie können, aber sollte dieser Peer so monochrom männlich verfasst sein, dass er keine weiblichen Tiefen-Figurationen kennt? Kilian Ponert als Knopfgießer, als Meister des Recycling dagegen, vorbildlich sprechend, wirkt fast wie aus einer anderen Aufführung entliehen. Sozusagen klassisch, und eben deshalb geradezu ein Fremdkörper.
Dann, nach der Pause, doch noch ein kleines Wunder. Die Zwiebelszene! Der Schauspieler Rolf Mautz (man hat ihn vorher in der absurd verkasperten ägyptischen Kapitalistenszene gesehen) übernimmt als Trollkönig die Selbsthäutung des Peer, der plötzlich entdeckt, dass er nur eine Zwiebel ist, nur Schale, kein Kern. Wie Mautz sich da entblättert, melancholisch seinen Zipfel betrachtet, einsam und verlassen wie ein alter King Lear – das ist berührend und hat große Klasse. Aber es ist eben nur eine Art Einlage; diesen Schmerzgipfel hätte man sich vom alt gewordenen Peer selbst gewünscht. Als Höhe- und Endpunkt einer Entwicklung, die dem geneigten Publikum zu erzählen Bernadette Sonnenbichler leider versäumt hat.
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Deutsche Fassung von Peter Stein und Botho Strauß unter Verwendung der Übersetzungen von Christian Morgenstern und Georg Schulte-Frohlinde
Regie: Bernadette Sonnenbichler, Choreografie: Nir de Volff/Total Brutal, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüm: Anna Brandstätter, Musik: Tobias Vethake, Karla Wenzel, Dramaturgie: David Benjamin Brückel.
Mit: Heiko Raulin, Raphael Gehrmann, Moritz Klaus, Rolf Mautz, Mila Moinzadeh, Kilian Ponert, Jürgen Sarkiss, Anton Jäger/Rafael Wohlleber.
Premiere am 12. Januar 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
"Ein grandioser Theaterabend voller großartiger Bilder und märchenhafter Emotionen in einer denkwürdigen Inszenierung von Regisseurin Bernadette Sonnenbichler mit herausragenden Schauspielern", so berichtet Jo Achim Geschke von der Neuen Düsseldorfer Online Zeitung (14.1.2023) über diese Arbeit am Schauspielhaus.
Alles sei Rückschau in dieser Umgruppierung von Ibsens Szenenreigens zur psychologischen Studie, schreibt Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.1.2024). Man sehe und höre "eine Dezentrierung der Ich-Erzählung, … den innigen Schiffbruch eines fortgesetzten Selbstkontrollverlusts, in dem auch die Idee der Kontrolle verloren geht", so Bahners. Überholt sei das kuratorische Modell der Lebensführung, und "mit den poetischen Mitteln des Spiels, vor allem durch Rhythmus und Ton, bekommen wir zu spüren, welche Wahrheit in dieser Einsicht steckt". Famos agiere das Ensemble. Eine "unheimliche Harmonie" walte in den von Livemusik untermalten pantomimischen Bildern. Mit seinem hellen, trockenen Tonfall setze der grandiose Hauptdarsteller Heiko Raulin einen lakonischen Gegenakzent. Dieser Peer Gynt, so Bahners, bewahre sich "gegenüber seiner Geschichte eine Freiheit", die nicht mehr "den Bilanzregeln des Besitzindividualismus" gehorche.
Es sei beim Zuschauen "nicht unbedingt leicht", in diesem "Identitätsdschungel" aus sieben Peers "durchzublicken", urteilt Marion Meyer in der Rheinischen Post (15.1.24, €). "Vor allem im ersten Teil des mit drei Stunden etwas langen Abends geht der rote Faden häufiger verloren", so die Kritikerin – zumal man sich in dieser Inszenierung auch nicht "am Gerüst der Chronologie entlanghangeln" könne.
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Die Unterschrift des 2ten Bildes ist fehlerhaft.
Auf dem Bild sind folgende Personen zu erkennen:
(Heiko Raulin) Peer und (Raphael Gehrmann) Solveig.
Wenn es ganz genau werden soll, ist links oben noch Moritz Klaus zu sehen, nebst den Musiker*innen Karla Wenzel und Tobias Vethake natürlich.
Mit Bitte um Korrektur
Vielen Dank
(Anm. Redaktion. Vielen Dank, wir haben korrigiert. Raphael Gehrmann steht im Hintergrund.)
Es ging der Regisseurin also offensichtlich nicht um das reine Nacherzählen der Handlung, sondern um den Versuch das Leben im Moment des nahenden Todes zu betrachten. Mit diesem Hintergrundwissen konnte ich die zweite Hälfte famos genießen; ich wurde in einen fantastischen Sog hineingezogen und hatte gleichzeitig Raum für verschiedenste eigene Gedanken und Assoziationen; zum Beispiel erinnerte mich vieles an moderne psychologische Erkenntnisse, ich war berührt und gefesselt vom Spiel und von der Vielschichtigkeit der Erzählung.
Daher ist übrigens auch die gewählte männlich dominierte Besetzung für mich im Nachhinein sehr schlüssig und nachvollziehbar und hat nichts mit einer „fehlenden weiblichen Tiefen-Figuration“ zu tun. Auch das Kostümbild hat doch sichtbar unterstrichen, zu Beginn und immer wieder im Stück, dass alle Figuren als Anteile des Gynt’schen Ichs zu sehen sind und nicht als real existierende Figuren.
Das mag natürlich eine eigenwillige, nach einer kurzen Überlegung, dem Urstück, das ich vor Jahren in einer recht spießigen Inszenierung gesehen habe, aber sehr nahe und demnach auch konsequente Betrachtungsweise sein.
Eine Inkompatibilität oder vermeintliche Verbesserung des Stückes, geschweige denn, der naive und sehr leichtfertige Vorwurf eines Desinteresses der Regisseurin, finde ich schlichtweg falsch. Die Kommentare gründen wohl eher auf Unwissenheit bzw. dem Unverständnis des Rezensenten an einem für mich herausfordernden, aber sehr sehenswerten und schlüssigen Theaterabend.
Mir ist es tausend Mal lieber, im Theater mutige Herangehensweisen zu sehen, als eine weitere reine Bebilderung des Stoffes; dafür kann man das Stück einfach selbst lesen. Eine Interpretation gerade dieses Stoffes ist richtig und wichtig und so stellt sich, wenn, nur die Geschmacksfrage.
Was die Besprechung des Klimaaspekts dieser Inszenierung angeht, halte ich den Kommentar des Rezensenten für absurd. Man muss doch dem Intendanten und dem Programmheft glauben können; wieso sollte das Theater etwas als klimaneutral ausgeben? Klimaneutralität heißt meinem Wissen nach ja nicht, automatisch auf Scheinwerfer zu verzichten, oder? Ob ein klimaneutraler Abend denn automatisch mit wenig oder vielleicht gar keinem Licht stattfinden sollte, ist zumindest höchst diskussionswürdig. Auch hier hilft das Programmheft, im Sinne des Knopfgießers, als Meister des Recyclings.
Die ganze Rezension:
https://www.neue-duesseldorfer-online-zeitung.de/kultur/artikel/erste-klimaneutrale-produktion-peer-gynt-premiere-mit-phantastischen-bildern-im-d-haus-2768.html