reconstruct:alan-turing - Ruhrfestspiele Recklinghausen
Genie auf Augenhöhe
von Christian Rakow
Recklinghausen, 4. Mai 2021. Alan Turing, Mathematiker, Logiker, Kryptonanalytiker, Erfinder des Turing-Tests zur Qualitätsprüfung von Künstlicher Intelligenz, Überwinder des Enigma-Verschlüsselungssystems der Nazis, "Vater der Informatik" und Wegbereiter des Computers. Mit einem Wort: Genie der Zahlen. Seit dem Film "Imitation Game" von 2014 stellt man ihn sich mit dem Gesicht von Benedict Cumberbatch vor.
Unfall ? Suizid? Mord?
Ein Genie des Versteckspiels hätte Turing obendrein sein müssen, als schwuler Mann im England des frühen 20. Jahrhunderts. Und er war es doch nur unzureichend. Anfang der 1950er wurde er nach Gesetzeslage wegen Homosexualität zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, deren Vollzug er nur entging, indem er in psychiatrische Behandlungen und quälende Hormontherapien einwilligte. Am 7. Juni 1954 starb Turing in seinem Haus in Wilmslow im Alter von 41 Jahren. Nach offizieller Version an Selbstmord durch Cyanidvergiftung. Oder war es ein Unfall? Oder gar Mord? Welche Rolle spielten die Depressionen, die die juristisch befohlene "chemische Kastration" auslöste?
An diesem Punkt setzt das Gesellschaftsspiel "reconstruct:alan-turing" ein, das das Hannoveraner Game-Theater-Kollektiv Büro für Eskapismus bei den Ruhrfestspielen herausbringt. Im Zoom-Treffen geht eine Gruppe von 12 Spieler*innen auf die Spurensuche im Sterbezimmer, sammelt historische Informationen über Turings Leben und Wirken, probiert Indizien zu orten und zu gewichten, um letztlich im Rund zu klären: Welcher Hypothese wollen wir folgen – Mord, Unfall oder Suizid?
Kunstform des sozialen Austauschs
Angeleitet wird die Gruppe dabei von einer Künstlichen Intelligenz "CRIS", die uns aus ihrer Zoom-Kachel in herrlich vergröbter Vektorgraphik gesichtslos anblickt und mit notorisch gleichförmiger Maschinensprache dirigiert. Spätestens, wenn sie eine unserer Teilnehmer*innen zurechtweist, dass diese inaktiv sei und womöglich den Anweisungen einer weiblichen Stimme nicht gern Folge leiste (woraufhin "CRIS" zur männlichen Stimme wechselt), ahnt man, dass die Gruppe selbst der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist und all unser Handeln dazu dient, die KI mit Daten zu füttern und ihre Leistung zu optimieren.
Der Rückbezug des Spiels auf die Spieler*innen ist ein gängiges Element in Games und ebenso im Game Theater. Die Laborratten sind wir! Unsere Käfige die Algorithmen. Es ist nicht so, dass wir das nicht wüssten. Und doch befällt einen der leise Grusel stets aufs Neue, wenn man die Manipulation unvermittelt an sich verspürt.
Als Kunstform des sozialen Austauschs empfiehlt sich das Game Theater vielerorts in diesen bühnenleeren Corona-Tagen. Nunmehr in Onlineräumen. Kommet zusammen und spielet, gleich ob auf Zoom, Telegram oder Instagram! Verglichen mit den Genre-Kapitänen von machina eX ist "reconstruct:alan-turing" weniger auf Knobelei und Rätseln angelegt und wirkt im Ganzen auch weniger theatral. Mehr wie ein Educational Game. Schauspielerische Zwischensequenzen gibt es nicht, der Fokus liegt auf der Tatort-Besichtigung, auf dem Lesen von Infotafeln und dem anschließenden Informationsaustausch in der Gruppe. Der kommt über die rund hundert Minuten Spieldauer allerdings bestens in Gang. In den finalen Abstimmungen über die Deutungen des Falls ist richtig Leben in der Zoom-Bude.
Das Team um die Designerinnen Miriam Wendschoff und Katharina Laage bereitet für all das einen angenehm diskreten, betont schlichten Rahmen. Das Sterbezimmer, das ursprünglich für eine begehbare analoge Aufführung entworfen wurde, ist in klinischem Weiß gehalten, mit Planen als Raumwänden. Alles hoch abstrakt. Die Zoom-Gruppe begegnet ihm als 360-Grad fotografiertem Raum. Per Mouse-Schwenk schaut man sich um und klickt auf die "Hotspots", hinter denen sich die Texte, Audionachrichten und in einem Fall auch ein Video verbergen.
Nachahmung des Unnachahmlichen
Einen besonderen Moment hat das Büro für Eskapismus exklusiv für die Onlinefassung des Stückes entworfen und er wirkt exzeptionell und berückend theatralisch. Da zeigt uns "CRIS" historische Fotos von Alan Turing: Turing als reifer, gelassener Mann; Turing jung und zuversichtlich, Turing wohl zu Studententagen verschmitzt, selbstbewusst, auch überlegen. Und "CRIS" bittet uns, den jeweiligen Gesichtsausdruck gestisch nachzuempfinden. Um Turing besser zu verstehen. Und alle im Zoom probieren es – ein Tableau vivant daheim. Wie wirkt Turing auf Euch? Tastend beschreiben wir: Überheblich oder souverän oder optimistisch? Wie menschlich gleiten die Worte ab, wie unscharf sind die Gesten! Da ist es, das Theater der Imitation. Ein "Imitation Game". Nachahmung des Unnachahmlichen. Einmal auf Augenhöhe mit dem Genie. Wenigstens äußerlich. Turing-Test bestanden.
reconstruct:alan-turing
Ein interaktives Live-Game über Zoom
Basierend auf der Inszenierung "Die Akte Alan Turing. Ein Fictional Reality Game – Theater trifft Escape Room"
von Büro für Eskapismus
Künstlerische Leitung: Büro für Eskapismus (Miriam Wendschoff und Katharina Laage), Szenografie: Katharina Laage, Dramaturgie: Miriam Wendschoff, Sounddesign & Musik: Benedict Hartsch, Technik: Joseph Winkler mit Hauke Heeren und Milan Töllner, Video: David Bakke, Assistenz: Rahel Künzi, Greta Stauch.
Sprecher*innen: Noelle O’Brien-Coker, Piet Gampert
Premiere am 4. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.ruhrfestspiele.de
www.buero-fuer-eskapismus.de
Mehr über Zoom- und Netztheater auf nachtkritik.de:
Intime Räume – Wie das interaktive Netztheater den Zuschauer für sich entdeckt (7/2020)
Der Aufstieg des Netztheaters während der Pandemie (10/2020)
Alles zu Theater und Games auf nachtkritik.de im Lexikon.
Als "spannend" hat Mareike Graepel von der Recklinghäuser Zeitung (6.5.2021) diese Nachforschungen zu den Todesumständen von Alan Turing empfunden. Die "Ereignisse haben ordentlich Tempo", schreibt die Kritikerin. "Miteinander warm zu werden über die kleinen Bildschirm-Kacheln dauert einen Moment, aber dann wächst ein Team heran".
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Zum ersten Punkt: mich hat die Art und Weise wie andere Teilnehmende über die Homosexualität von Turing sprachen geschockt, da wurde von "Liebelei" gesprochen, gemutmaßt, dass die angeordnete Hormonbehandlung gegen die Homosexualität ihn vermutlich nicht belastet hat. Ich konnte meinen Ohren nicht glauben, egal ob es ein Suizid, ein Mord oder ein Unfall war; dieser Mann wurde zu einer "chemischen Kastration" gezwungen, seine Arbeit stand auf dem Spiel, sein ganzes Leben war aus dem Fugen. Und wir sitzen nun genüsslich da und zocken ein Game? Ist das Leiden von homosexuellen Person ein Spielball, der nichts bedeutet? Und warum greift die Performance-Leitung nicht ein, moderiert? Ich empfinde das als sexistisch und diskriminierend.
Zweitens: Ich empfinde es als pietälos, dass hier ein reales Schicksal ausgebeutet wird. Wenn wir über Turing reden, sollte es doch zunächst um seine Leistungen gehen (die werden nebenbei erwähnt), dann vielleicht um eine Lebensumstände, die zum Tod führten und nicht die Spekulation im Umfrage-Modus auf Zoom ob es Mord, Unfall oder Suizid war.
Es ist wichtig, dass wir über Turing und Menschen reden, die unterdrückt wurden. Aber nicht so. Eigentlich führt diese Arbeit - meiner Meinung nach - zu einer Bestätigung dieser Unterdrückung und zum Sensationsanlass, dass hier eine homosexuelle Person zum Gaming-Anlass wird.
Vielleicht mag sich der Nachtkritiker Georg Kasch auch äußern, auch er war in der Vorstellung dabei ...