Worte für die unbehausten Seelen

von Sarah Heppekausen

Wuppertal, 22. März 2013. In "Licht frei Haus" hausten die Randexistenzen noch in einer Hinterhofgemeinschaft. Jetzt sind die Figuren auch räumlich weiter an die Grenze der Großstadt geraten. Im dritten Teil seiner "lockeren Lichthaus-Trilogie" schickt Thomas Melle sie in den Speckgürtel. In der Peripherie Berlins wollen Birger und Kevin, ein "schwules (...), altersdifferentes Paar", ihr amöbenhaftes Dasein zurückgezogen und in Ruhe vor Diskriminierung leben.

Das kann nicht gut gehen. Das kann keine Basis für eine Friede-Freude-Eierkuchen-Idylle im Einpaarhaus-Paradies sein. Ausstatterin Birgit Stoessel baut aber trotzdem eine schicke Fassade fürs Familienglück auf die Foyer-Bühne im Wuppertaler Schauspielhaus. Fröhlich petticoated und gediegen im Anzug lässt Uraufführungs-Regisseur Eike Hannemann die Figuren im 50er-Jahre-Schick flanieren. Dazu passend: eingefrorenes Grinsen und überschwängliches Winken in die Nachbarschaft. Raus aus dem Großstadtdreck, rein in den Bürgermief.

Postmoderne Perspektivlosigkeit

Dabei sind Melles Figuren alles andere als solide. Das Verrückte, die Paranoia sind immer auch präsent. Das Unbehagen, das irgendetwas im Leben nicht stimmt, ist das Grundgefühl der Protagonisten in Melles Stücken genauso wie in seinem Erfolgsroman Sickster. Das Draußen wird zum Verhängnis, weil es eine andere Sicht auf Dinge und Personen hat. "Ich kann mich nicht sehen, wie Sie mich sehen können; unser Lebensproblem", sagt Birger in "Aus euren Blicken bau ich mir ein Haus". Melle diagnostiziert postmoderne Perspektivlosigkeit nicht nur als Gesellschaftsphänomen, er veranschaulicht sie sprachlich. Ihre Folge sind Einsamkeit, Drogen und Depressionen.auseurenblicken1 560 tombuber uWillkommen in den 50er Jahren, ihr einsamen Seelen! © Tom Buber

Auch Dorte ist eine unbehauste Seele. Im wahrsten Sinne des Worte. Birgers und Kevins Nachbarin (in spe) hockt im nicht fertig werdenden Rohbau zwischen Farbeimern und Bierdosen. Sie ist geflohen vor Geistern der Vergangenheit, aber längst noch nicht angekommen. Bei Anne-Catherine Studer sucht sie nach Worten wie nach Geborgenheit, sie misstraut Sätzen ebenso, wie sie ihre Umgebung beargwöhnt. Dorte beginnt mit Kevin und Birger eine Ménage à trois. Sie darf bei ihnen wohnen, zum Dank dürfen die beiden ihr das von ihnen langersehnte Kind machen. Was Dorte bei Melle im unbeschönigt präzise geschriebenen Monolog erzählt, wird auf der Bühne noch mit einer albernen Pantomime-Orgasmus-Nummer ausstaffiert.

Menschengrausame Direktheit

Überhaupt sind die drei in Hannemanns Inszenierung Ausgestellte. Textträger, die ihre Szenen abarbeiten. Auch Jakob Walser (als schöner Kevin) und Lutz Wessel (als alternder Perücken-Birger) schieben die Sprache vor sich her, als wäre sie eine Angelegenheit aus diesem Draußen, das es zu bezweifeln gilt. Oder auch zu belachen. So wird dann jedes Sprachspiel bei Wessel zum Kalauer. Eine distanzierte Haltung ist bei Melle-Stücken sicher nicht unangebracht. Der Autor ist selbst Sprachskeptiker. Aber seine Figuren sind es nicht. Sie jonglieren mit Worten, mal in lakonischen Dialogen, mal in allegorischen, fremdwortgesättigten Monologen, die in all ihrer menschengrausamen Direktheit dennoch poetisch klingen.

Melles Menschen sind (lebens)unsicher. Aber Sprache ist für sie wie eine Waffe, die sie zu nutzen wissen. Die halten sie nicht von sich fern. "Du machst zuviel Worte", wirft Dorte Birger vor. "Ich brauche das. Die Worte. Den Überbau", ist seine Antwort. Bei Wessel klingt das lustig, nicht lebensnotwendig. Wenn es zur Katastrophe kommt, wenn das Schwulenpärchen die manische Dorte in die geschlossene Anstalt schafft und sorgeberechtigt und sektschlürfend das Kind mit Stofftieren überhäuft; wenn Dorte blutigen Mord imaginiert und plötzlich geheilt und entlassen wieder vor der schick tapezierten Hauswand steht, dann bleibt eine verstörende Vermischung der Ebenen von alltagsnaher Realität und grausiger Vorstellung bloße Behauptung. Die Fassade ist so stabil gebaut, die kippt einfach nicht.

Doppelt schade

Eike Hannemann hat auch in seiner Inszenierung von "Licht frei Haus" mehr auf Skurrilität und Komik – die ja durchaus in den Melle-Stücken vorhanden sind – als auf Bitterkeit gesetzt. Aber diesmal sind die dargestellten Figuren keine Typen von nebenan. Sie sind von gestern. Und das ist schade.

Dass so ein spannender, Sprache auch erprobender Autor wie Thomas Melle für das Wuppertaler Schauspiel schreibt, gehört vermutlich der Vergangenheit an – schließlich ist der Vertrag von Christian von Treskow auch deshalb nicht verlängert worden, weil angeblich nicht genug Zuschauer kamen, weil er das Unterhaltungstheater vernachlässige. Auch das ist schade.

 

Aus euren Blicken bau ich mir ein Haus (UA)
von Thomas Melle
Regie: Eike Hannemann, Bühne und Kostüme: Birgit Stoessel, Dramaturgie: Sven Kleine.
Mit: Anne-Catherine Studer, Jakob Walser, Lutz Wessel.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.wuppertaler-buehnen.de

 

Kritikenrundschau

"Ein ausgezeichnetes Stück, geeignet für jede Kammerspielbühne, eine packende Uraufführung mit hervorragenden Schauspielern" hat Stefan Keim im Deutschlandradio Fazit (22.3.2013) gesehen und schreibt: "Diese Geschichte ließe sich als effektvolle Mischung aus Edelboulevard und Psychothriller erzählen." Thomas Melles Stück habe auch einen entsprechenden Spannungsbogen, gehe aber sprachlich weit über das Unterhaltungstheater hinaus. Der bürgerliche Lebensentwurf gebier hier Ungeheuer, und diese politische Dimension trage weder Autor Thomas Melle noch die Inszenierung von Eike Hannemann plakativ vor sich her. "Sie entsteht durch sprachliche und spielerische Präzision." Die Schauspieler hätten dabei eine schwierige Aufgabe. "Sie dürfen nicht eindeutig psychologisch spielen, sonst käme die konzentrierte, stilisierte Sprache nicht zur Geltung." Doch eine zu große Abstraktion funktioniere auch nicht, "weil dann der Bezug zum Leben fehlt". Ann-Catherine Studer, Jakob Walser und Lutz Wessel spielten "stets auf dem schmalen Grat zwischen Identifikation und nachdenklichem Staunen über die eigenen Gedanken und Empfindungen".

Ein einziger, durchgängiger Höhepunkt sei das Kammerspiel um drei menschlich-entrückte Grenzgänger zwar nicht – trotzdem habe es seine spannenden, berührenden, berechtigten Seiten, schreibt Martina Thöne in der Westdeutschen Zeitung (25.3.2013). "Die große Stärke des Stücks ist, dass Melle zwar klare Andeutungen macht, aber dennoch vieles in der Schwebe lässt." Der große Nachteil sei, dass der komplexe Text den Zuschauer an vielen Stellen an den Rand der Überforderung bringe. "Die sprachlichen Finessen, mit denen die postmoderne Perspektivlosigkeit seziert wird, zu lesen, ist eine vergnügliche Herausforderung. Den Text hingegen auf der Bühne zu hören, ist anstrengend – gerade in den analytischen Monologen, die Melle zwischen die Szenen streut." Die Darsteller hätten deshalb kein leichtes Spiel. "Man spürt, dass ihnen die stilisierte Sprache noch nicht so leicht über die Lippen geht, wie es nach weiteren Vorstellungen der Fall sein dürfte." Eike Hannemann habe das Stück insgesamt kurzweilig auf die Bühne gebracht. "Die große Stärke der Inszenierung wiederum ist, dass die Figuren nicht überzeichnet werden."

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