Die Banalität der Verhältnisse

16. April 2023. Gewöhnlich versuchen Regisseur:innen den Kanon ja zu vergegenwärtigen, indem sie die Stoffe ins Heute transportieren. Eberhard Köhler geht den umgekehrten Weg und lässt Horváths Elisabeth durch die Verhältnisse der Weimarer Republik radeln – mit einem überraschend erhellenden Ergebnis.

Von Sascha Westphal

"Glaube Liebe Hoffnung" in der Regie von Eberhard Köhler am Theater Koblenz © Matthias Baus

16. April 2023. Diese Elisabeth könnte eine Schwester von Doris, Irmgard Keuns "Kunstseidenem Mädchen", sein. Sie hat erst einmal nichts Hilfloses oder gar Verlorenes an sich. Als sie gleich zu Beginn über die Bühne radelt, auf der Suche nach dem Anatomischen Institut, strahlt sie eine fast schon unerschütterliche Zuversicht und einen fröhlichen Pragmatismus aus.

Mich kann nichts aufhalten, scheint sie ihrer Umwelt mit ihrem selbstbewussten Auftreten zu signalisieren. Dazu passt auch ihr strahlend rotes Kleid mit seinem tiefen Rückenausschnitt und seinen kurzen Ärmeln. Zusammen mit ihren schulterlangen lockigen hellblonden Haaren ergänzt sich dieses Kleid zu einem Look, der von weiblichen Filmstars der 1920er und frühen 30er Jahre geprägt ist. Genau wie Doris scheint auch die von Esther Hilsemer gespielte Elisabeth den Kopf voll von Träumen aus dem Kino zu haben. Allerdings begegnet diese kunstseidene junge Frau den Männern mit deutlich mehr Distanz und Skepsis als Keuns Romanheldin.

Hier ein Präparator im Selbstrausch, da ein zudringlicher Baron

Vor allem im ersten Teil von Eberhard Köhlers Inszenierung von Ödon von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" kämpft Esther Hilsemer mit einem überwältigenden Elan gegen das Bild der leidenden jungen Frau an, die zwischen die Räder der von Arbeitslosigkeit und Kälte gezeichneten Gesellschaft in der ausgehenden Weimarer Republik gerät. Ihre Elisabeth hat, wie sie selbst einmal sagt, ihren "eigenen Kopf", und den weiß sie auch zu behaupten. Es ist ein echtes Vergnügen, dabei zuzusehen, wie sie Marcel Hoffmanns von sich selbst berauschten Präparator um den Finger wickelt, ohne ihm diesen auch nur zu reichen. Auch den Zudringlichkeiten des von David Prosenc verkörperten Barons weicht sie ganz souverän aus. Sie weiß ganz genau, dass die Männer, die sie von allen Seiten bedrängen und verfolgen, "nur Egoisten" sind, und sie weiß auch, wie sie das für sich nutzen kann.

Glaube Liebe Hoffnung 03 805 Matthias Baus uFahrrad-Zeitreise durch die Weimarer Republik: Esther Hilsemer als Elisabeth © Matthias Baus

Dass Elisabeth in den Augen der Justiz dadurch, wie sie den Männern sagt, was sie hören wollen, oder auch verschweigt, was sie eben nicht wissen wollen, zu einer Betrügerin wird, ist Teil einer Ordnung, die Ödön von Horváth und sein Co-Autor, der Gerichtsreporter Lukas Kristl, in "Glaube Liebe Hoffnung" sehr genau sezieren. Eberhard Köhler, der für seine Inszenierung die zwei unterschiedlichen Fassungen dieses "kleinen Totentanzes" miteinander verschränkt, bleibt zunächst ganz an dieser äußerst präzisen Obduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Zeiten der großen Wirtschaftskrise. Gemeinsam mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Vesna Hiltmann taucht er tief in der Welt der Weimarer Republik ein.

Schneller Szenenreigen

Das beginnt schon mit den schwarzweißen Filmbildern von Arbeitern und Angestellten, die mit dem Rad zur Arbeit fahren oder auch nach einer solchen suchen. Und setzt sich nahtlos mit den Kostümen fort, die die Mode jener Jahre heraufbeschwören. Auch Vesna Hiltmanns Bühnenbild, das mit einer vielseits einsetzbaren, einige Meter langen Wand, in die mehrere drehbare Milchglastüren eingelassen sind, die verschiedenen Orte des Stücks andeutet, ist auf eine stilisierte Weise der Welt vor gut 90 Jahren verpflichtet. So ergibt sich besonders vor der Pause das Bild einer heute nahezu anachronistischen Inszenierung, die Ödön von Horváths schnellen Szenenreigen auf beinahe realistische Weise auf die Bühne bringt. Diese Methode geht erstaunlich gut auf.

Glaube Liebe Hoffnung 02 805 Matthias Baus uTotentanz ohne Ende: Das Koblenzer Ensemble © Matthias Baus

Die Art und Weise, in der Köhler und all seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter auf und hinter der Bühne hier den Zeitkolorit der Weimarer Republik und damit auch den Abstand des Geschehens zur Gegenwart des Publikums betonen, schärft den Blick für die von Horváth und Kristl beschriebenen Verhältnisse, besonders für die patriarchalen Strukturen, gegen die nicht nur Elisabeth ankämpft. Auch die von Dorothee Lochner gespielte Frau Amtsgerichtsrat, hinter deren mit Standesdünkeln behafteten Auftreten sich eine mitfühlende Frau versteckt, führt einen Kampf um eine gewisse Freiheit und Autonomie.

Köhlers Inszenierung führt einem deutlich vor Augen, was sich seit Ende der 1920er Jahre verändert hat. Zugleich lässt sie aber auch keinen Zweifel daran, dass dieser Totentanz trotz aller äußerlichen Differenzen längst nicht an sein Ende gekommen ist. Er setzt sich immer und immer weiter fort, und das nicht nur in den kurzen Choreografien, die die einzelnen Bilder des Stücks voneinander trennen und miteinander verbinden. Es sind diese stilisierten Momente eines Tanzes, dem sich Elisabeth zu entziehen versucht und dem sie doch nicht entkommen kann, in denen sich das Überzeitliche des Stücks offenbart.

Milde und Resignation

Horváth hat einmal geschrieben, dass er jedem seiner Stücke dasselbe Bibelzitat aus dem Ersten Buch Mose als Motto voranstellen hätte können, ein Zitat, das mit dem unendlich fatalistischen und zugleich unendlich hoffnungsvollen Satz endet: "So lange die Erde stehet, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." Genau diese von Milde und Resignation geprägte Haltung den Menschen und ihren Schwächen gegenüber erfüllt Köhlers Inszenierung. Auf der einen Seite gibt es in ihr eine beeindruckende Schärfe. So stellt Jona Mues als Tierpfleger eine Frauenfeindlichkeit zur Schau, deren brutale Auswirkungen auch heute allgegenwärtig sind. Auf der anderen Seite blitzt immer mal wieder eine fast schon verstörende Zärtlichkeit auf. Der von Reinhard Riecke gespielte Oberinspektor nimmt Elisabeth genau in dem Moment auf eine väterlich fürsorgliche Weise in den Arm, in dem er ihre Beziehung zu Christof Maria Kaisers Schupo zerstört und ihr damit alle Hoffnungen genommen hat.

Es sind Augenblicke wie dieser, in denen Köhler einem die schreckliche Banalität der menschlichen Verhältnisse vor Augen führt. Das Böse und das Gute im Menschen existieren nebeneinander. Nur ist dieser Totentanz, den wir gemeinhin das Leben nennen, so eingerichtet, dass sich am Ende das Böse und Zerstörerische durchsetzt.

Glaube Liebe Hoffnung
Schauspiel von Ödön von Horváth und Lukas Kristl
Regie: Eberhard Köhler, Bühne und Kostüme: Vesna Hiltmann, Musik: Simon Ho, Dramaturgie: Caro Thum, Licht: Christofer Zirngibl, Video: Britta Bischof.
Mit: Esther Hilsemer, Christof Maria Kaier, Reinhard Riecke, Marcel Hoffmann, Jona Mues, David Prosenc, Raphaela Crossey, Lukas Winterberger, Dorothee Lochner, Wolfram Boelzle, Jana Gwoskek, Viktoria Schreiber, Simon Ho und Statisterie.
Premiere am 15. April 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-koblenz.de

 

Kritikenrundschau

"Unaufgeregt, ganz im Sinne der Horvath'schen 'Stille', die im Text immer wieder notiert ist", findet Claus Ambrosius (€) in der Rhein Zeitung (17.4.2023) die Inszenierung. Inspiriert und "vom Regisseur zu großer Ausdrucksvielfalt motiviert" wirke das Ensemble, allen voran Esther Hilsemer als Elisabeth. Die Tanzeinlagen habe der Koblenzer Ballettdirektor Steffen Fuchs den Schauspieler:innen "beeindruckend organisch und ausdrucksstark" auf den Leib choreografiert. Mit Bedacht gestaltet seien die Kostüme im Stil der 30er Jahre, die abschüssige, wie Elisabeths Lebensbahn wirkende Bühne, die rhythmisierende, auf Chopins Trauermarsch aufgebaute Livemusik. Letztere nimmt für Ambrosius eine zentrale Stellung ein: "Um der Distanzierung gerecht zu werden, die sich Horvath … für seine Stücke gewünscht hat, ist der Musiker Simon Ho auf der Bühne präsent, der mit vorbereiteten Klängen und Livespiel wie ein moderner Moritatensänger wirkt oder als verbindender roter Faden oder als Todesfigur, da gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten." Frappierend nah an der Realität sei Horváths Text heute noch: Hier werde "die Unterdrückung von Frauen auserzählt, denen nichts Besseres widerfahren kann als eine günstige Heirat", so der Kritiker. "Selbst für sich verantwortlich sein, wie es Elisabeth will: Das war in der Gesellschaft nicht vorgesehen – und ist es heute vielerorts immer noch nicht."

 

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