Silberhöhe gibts nich mehr - Dirk Lauckes neues Stück über und mit Hallenser Kids
Hauptsache, wir sin nich die Opfer
von Wolfgang Behrens
Halle, 14. März 2008. Am Vortag hatte der gebürtige Hallenser Clemens Meyer für seinen Erzählungsband "Die Nacht, die Lichter" den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen. Und noch einen Tag zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine in ihrer Besprechung des nun ausgezeichneten Buches folgende Überlegung angestellt: "So schnell Kritiker mit dem Vorwurf sozialer Irrelevanz bei der Hand sind, so schnell fertigen sie etwas ab, wenn ein Autor sich im Detail auskennt – so genau will man es dann doch nicht wissen, wie viel Leergut Arbeitslose in ihrer Wohnung horten." Street credibility sei willkommen, so der Rezensent, "solange sie nicht zu riechen anfängt".
Das Problem ist auch auf dem Theater bekannt. Zwar fordert ein bürgerliches Publikum – oder doch nur das bürgerliche Feuilleton? – immer mal wieder die Ausleuchtung gesellschaftlicher Randlagen ein, doch die Tücken solcher theatralischen Illumination sind spätestens seit Gorkis "Nachtasyl" bekannt: behaglich sich suhlende Mauerschau, falsche Einfühlung, der Hang zum Klischee auf der einen und Authentizitätswahn auf der anderen Seite.
Weg aus dem Sozialvoyeurismus
Auch der junge, gleichwohl bereits sehr erfolgreiche Dramatiker Dirk Laucke – sein Stück "alter ford escort dunkelblau" wurde im vergangenen Jahr nach Mülheim eingeladen – ist, wie Clemens Meyer, in Halle geboren und aufgewachsen. Im Kleinen Haus des Thalia Theaters seiner Heimatstadt hat Laucke nun sein jüngstes Stück "Silberhöhe gibts nich mehr" uraufgeführt, dabei auch erstmals Regie geführt und – er hat seinen eigenen Ausweg aus dem Dilemma des Sozialvoyeurismus gefunden.
Wie die Figuren Meyers wurzeln auch diejenigen Lauckes außerhalb der gesellschaftlichen Mitte. Und das kann man ganz wörtlich, nämlich räumlich auffassen: Sie entstammen dem Stadtteil Silberhöhe, einer Plattenbausiedlung am südlichen Stadtrand Halles. Sie heißen Ecky, Dave, Struwe und Jeany, und gespielt werden sie von Robert Eckelmann, David Richter, Michael Struwe und Janine Schmidt – die unschwer als die Namenspaten der Stückfiguren zu erkennen sind. Denn auch diese jugendlichen Laiendarsteller kommen aus Silberhöhe und sie spielen im Grunde sich selbst.
Wovon sie träumen: Respekt und Arbeit
Laucke führt sie jedoch nicht à la Rimini Protokoll als Experten des Alltags vor, sondern bastelt um sie herum eine kleine raffinierte Geschichte: Ecky will mit seinen Kumpels einen Film über Silberhöhe drehen, der eine Art Ghetto zeigen soll – die dazugehörigen Gewalttaten stellen sie nach, indem sie sie begehen. Jeany hält die Sache für eine ziemliche Schnapsidee und lässt sich lieber von Struwe ein Bewerbungsvideo drehen. Dave schneidet die beiden Filme und vertauscht sie bei der Versendung an die Adressaten, die da sind: das Fernsehen, das den Ghetto-Kids "Respekt" einbringen, und das Arbeitsamt, das Jeany eine Stelle verschaffen soll.
Der Autorregisseur Dirk Laucke treibt nun ein durchaus intelligentes Spiel mit dem Konzept Authentizität – schon im Stücktext wird es unaufdringlich, nichtsdestoweniger deutlich in Frage gestellt: Eckys Film möchte vorgeben, Realität abzubilden, der dann aber nachgeholfen werden muss. Die Art der Inszenierung treibt die Spirale jedoch weiter. Auf der sparsam mit Feuertonne und Skater-Utensilien (darunter eine sogenannte Funbox) ausgestatteten Spielfläche sind die vier Darsteller mindestens dreierlei: sie selbst, Schauspieler ihrer selbst und – ganz gewöhnliche Laienschauspieler.
Persönliches Authentizitätsexperiment
Sie selbst sind sie, wenn sie sich anstandslos über das Spiel der anderen oder technische Pannen amüsieren – am schönsten grinst da der schlaksige, stoppelhaarige Ecky, der auch schon mal Augenkontakt mit seinen Kumpels im Publikum sucht. Schauspieler ihrer selbst sind sie, wenn es ihnen gelingt, ihren eigenen, "echten" Habitus mit den Handlungen ihrer Figuren in Deckung zu bringen – oder ihn zu ironisieren, was sie angenehm häufig und regelrecht charmant tun (und so der bürgerlichen Authentizitätslust augenzwinkernd den Spiegel vorhalten). Gerade die coolen Selbstbehauptungsgesten geraten so mitunter zu komischen kleinen Nummern, und auch die im gezeichneten Milieu wohl unvermeidlichen Gewaltexzesse werden immer nur witzig oder formalistisch angedeutet.
Doch dann sind da auch noch die Laienschauspieler, die nicht wissen, was man mit den Händen tun soll, die auf der Stelle tänzeln, undeutlich sprechen und manche (aber wirklich nur manche) Passagen des Textes – obwohl der ihnen geradezu virtuos aufs Maul schaut und vermutlich zum Besten gehört, was realistische Dialogkunst derzeit zu bieten hat – wie dressiert herunterhaspeln. Das ist der Preis, den Laucke für sein persönliches Authentizitätsexperiment zu zahlen hat. Es ist zum Glück kein hoher Preis. "Hauptsache wir sin nich die Opfer", sagt Struwe einmal. Nein, das sind sie nicht, nicht jedenfalls an diesem Abend. Und den Respekt hamse auch nich verschissen.
Silberhöhe gibts nich mehr, UA
von Dirk Laucke
Regie: Dirk Laucke, Ausstattung: Simone Wildt, Musik: Timm Völker, Video: Friedemann Clauß. Mit: Robert Eckelmann, David Richter, Michael Struwe, Janine Schmidt.
www.thaliatheaterhalle.de
Lesen Sie hier über David Böschs Zweitaufführung von Dirk Lauckes dramatischem Erstling alter ford dunkelblau am Thalia Theater in Hamburg. (Bei der Uraufführung in Osnabrück im Januar 2007 war nachtkritik.de noch nicht online.)
Kritikenrundschau
Ein "gelungenes Experiment" nennt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (17.3.2008) Dirk Lauckes "Silberhöhe gibts nich mehr" am Thalia Theater Halle. Man habe "engagiertes, seriöses Theater" gesehen, nicht aber – wie früher schon einmal am selben Haus – "voyeuristischen Klamauk". Es gehe in Lauckes mit Laiendarstellern uraufgeführtem Stück "weder darum, bildungsbürgerliches Mitleid einzuwerben noch wohlfeiles Entsetzen vor den Abgründen des Ghettos zu schüren". Vielmehr gehe es "unverkennbar immer um Kunst, wie man es etwa von den Volksstücken Oliver Bukowskis in bester Erinnerung hat." Die Produktion sei "wohltuend unpathetisch", dafür gebe es "eine große Portion vom reduzierten Witz der Hallenser, der so lebensecht schlafmützig vorgetragen wird, dass es eine Freude ist". Um Respekt gehe es "ganz wesentlich in diesem Stück. Laucke & Co. haben ihn sich uneingeschränkt verdient."
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