Angst essen Seele auf - Nuran David Calis inszeniert den Fassbinder-Stoff am Schauspiel Leipzig
Die Projektion der Anderen
von Tobias Prüwer
Leipzig, 17. Mai 2018. Harald Glööckler springt den Zuschauer an. Oder ein Verschnitt vom ihm. Dann morpht das an die Wand projizierte Gesicht zu dem eines anderen. Aufgespritzte Lippen bleiben eine Konstante im Larvenreigen, der Silikonaufwerfungen zeigt, Kunstbräune, getrimmte Bärte, künstlich klimpernde Endloswimpern. Gleich schon zu Beginn deutet sich an: Um Projektionen wird es in Nuran David Calis' Inszenierung am Schauspiel Leipzig gehen. Ästhetisch gibt es bei seinem "Angst essen Seele auf" nichts Neues zu sehen. Wesentliche Elemente enthielt schon sein 2015 am selben Haus produzierter Baal. Das ist nicht weiter schlimm: Wer einen Calis bestellt, bekommt einen Calis.
Wie bei "Baal" bildet ein weißer Körper den Bühnenrahmen. Hier ist es ein konkaves Siebeneck, in das im Hintergrund eine Wand aus Plexiglasscheiben eingelassen ist. Leise erinnert das an 70er-Jahre-Architektur aus Beton und Glas. Während die beiden Protagonisten Emmi und Salem naturalistisch gegeben werden, sind – wiederum wie in "Baal" – alle anderen Figuren comichaft-grotesk verformt. Puppenartig staksen sie in grellen Gewändern über die Bühne, machen komische Gesten mit verdrehten Gliedern, sprechen aus dem Off. Dialoge mit Emmis Kindern klingen wie ein Besuch bei den Geissens.
Am Film geschult
Inhaltlich hält sich die Interpretation eng an Rainer Werner Fassbinders Filmvorlage aus dem Jahr 1974. Putzfrau Emmi, 60 plus, verliebt sich in einen 20 Jahre jüngeren Marokkaner, der als Arbeitsmigrant in München lebt. Während Emmi und Salem zueinander finden, begegnen sie einer fremdenfeindlichen Umwelt im Alltag wie auf Arbeit. Als sich diese mit dem als ungleich wahrgenommenen Paar etwas arrangiert, kriselt es zwischen beiden. Mit einer Krankenhausszene, ein bewusstloser Salem leidet an Magengeschwüren, Emmi weint an seinem Bett, faden Film und Inszenierung aus. Filmisch geschult sind auch die harten Schnitte, mit denen Calis von Szene zu Szene überleitet: Licht aus, kurze Maskenprojektion, Licht an. Das jeweilige Setting wird einfach durch eingeblendete Übertitelung angegeben.
Choreografisch gut gebaut sind die einzelnen Szenen. Immer wieder finden Stellungswechsel im Siebeneck statt, werden Darsteller im Hintergrund wie Scherenschnitte zur Dekoration neu positioniert. Diese Schablonenhaftigkeit der menschlichen Umwelt hebt die Protagonisten und ihre innige Beziehung hervor. Bettina Schmidt gefällt als schüchtern-frisch Verliebte im zweiten oder dritten Frühling. Roman Kanonik gibt einen ziemlich klischeefreien Arabischstämmigen.
Die Krisenmomente zwischen beiden bleiben dabei allerdings unter zu viel Geschrei blass und weniger nachvollziehbar. Die Nebenrollenstaffage ist in allen Personen herrlich schräg, aufgrund des Maskencharakters dieser Masse geht aber ein bisschen die Nuanciertheit der Rollen unter. Denn nicht jeder – etwa der Vermietersohn – ist gegen die Beziehung oder von rassistischem Ressentiment getragen.
Entlarvung des Zuschauerblicks
Dass Calis keine Aktualisierung des Stoffes vorgenommen hat, ist Gewinn und erschreckend zugleich: So gibt "Angst essen Seele auf" die anhaltende Kontinuität von Rassismus in Deutschland wieder. Und eine weitere kritische Spur hat der Regisseur gelegt. Denn unter dem Zuschauerlachen über die komischen Käuze, die überdrehten Figuren mit tuntigem Touch, eröffnet sich eine zweite Ebene: Der vermeintliche Mutantenstadl stellt den Zuschauerblick in Frage. Übt sich das Publikum nicht in genauso einem Othering, wenn es sich über die selbst projizierte Fremdheit der "anderen" lustig macht?
Klar, man distanziert sich mit Emmi und Salem mitfühlend von ihrer rassistischen Mitwelt. Aber die Belustigung über dessen grotesk überschminkte Maskenartigkeit beginnt bei Minute eins, also allein bei der Optik. Bestätigt man – wie Emmis und Salems Mitmenschen – nicht nur die eigene, natürlich "gute" Normalität? Diese leise entlarvende Frage ist Calis’ Abend unterlegt. Keine schlechte Leistung am Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie.
Angst essen Seele auf
von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Amélie von Bülow, Musik: Vivan Bhatti, Video: Adrian Figueroa, Dramaturgie: Clara Probst, Licht: Ralf Riechert.
Mit: Bettina Schmidt, Roman Kanonik, Timo Fakhravar, Andreas Herrmann, Dirk Lange, Michael Pempelforth, Denis Petković, Julia Preuß, Annett Sawallisch, Ismail Deniz.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Calis habe die Gesellschaft in die Groteske verzerrt. "Fremd ist hier nicht Salem aus Marokko; fremd bzw. entfremdet ist hier eine – ich abstrahiere von München – deutsche Mittelstandsgesellschaft, die immer prekärer lebt." In dieser Inszenierung habe die Angst vor der Veränderung an den Seelen der anderen genagt. "Pathetisch gesprochen: Die Deutsche Seele ist jetzt tot! Deswegen sind wir nur noch Zombies", so Stefan Petraschewsky von MDR Kultur (18.5.2018). "Und wenn wir auf den bayerischen Vorwahlkampf gucken, und damit wieder nach München, und sehen, was Ministerpräsident Söder gerade so veranstaltet, um den Zombies gewissermaßen nach dem Mund zu reden: dann haben wir hier in Leipzig eine der aktuellsten, klügsten, politischen Inszenierungen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe."
In Anlehnung an die Theatermittel, die Calis bereits in seiner Leipziger "Baal"-Inszenierung vor drei Jahren verwendete, gestalte der Regisseur wieder "ein gelungenes Tableau" und zeige eine Gesellschaft "unter dem Mikroskop", lobt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (20.5.2018). Fassbinder habe die Mechanismen der Ausgrenzung "bereits eindrucksvoll freigelegt. Calis spitzt weiter zu, indem er dem Alltag eine groteske Maske überstülpt, die das Vernichtende hinter vermeintlicher Harmlosigkeit unterstreicht." Das gelinge "im sich konsequent wiederholenden Regie-Prinzip" nicht "ganz ohne Längen, entfaltet aber eine erfreuliche Verspieltheit im Dienste der Botschaft. Calis ist ein sanfter Mahner ohne Zeigefinger."
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Alles in Allem ein netter Abend, solide Aufarbeitung aber ohne wirkliche Nachhaltigkeit. Die Theaterabokartenbesitzer haben sich bestimmt wohlgefühlt - "mal wieder was experimentelles" was man trotzdem direkt in der Garderobenschlange wieder vergessen konnte. Das Leipziger Schauspiel eben, wie es seit Jahren ist.
Wieder großes Theater am Schauspiel Leipzig, wie seit Jahren!!!