Faust I & II - Nicolas Stemann lässt den achtstündigen Faust bei den Salzburger Festspielen im Stil-Konglomerat wuchern
Des Pudels Kern ist ein weißer Fleck
von Reinhard Kriechbaum
Salzburg, 28. Juli 2011. Dieses Ende hätte man nach den acht Stunden nicht erwartet, auch nach d i e s e n acht Stunden nicht: "Alles Vergängliche" des Chorus Mysticus wird zur Musical-Nummer, sanft schunkelnd, während man – unter vielem anderen – Mephistos finales Lamento um die verlorene Seele als rote Leuchtschrift nachlesen kann und die Protagonisten und Statisten ihre Engels- und Phantasie-Puppen im Takt schwenken. Der Faust II endet in den frühen Morgenstunden (bei der Premiere exakt um ein Uhr siebzehn), als ob der Stoff für einen Lloyd-Webber-Bühnenaufguss hätte herhalten müssen.
Hat er letztlich ja auch, auch wenn die Sache auf der Halleiner Pernerinsel am mittleren Nachmittag um 17 Uhr völlig konträr angefangen hat: mit einem gut einstündigen Solo von Sebastian Rudolph alias Faust, alias Direktor, Dichter, Lustige Person, Mephistopheles, Herr, Wagner, und was da alles personenmäßig kreucht und fleucht. Allein rackert er sich ab für alle, bis hin zum Osterspaziergang (sieht man von der Mini-Episode ab, wenn ein Orgelspieler und ein Sängerknabe fürs "Christ ist erstanden" auf die Bühne kommen). "Faust I" ist bei den Salzburger Festspielen ein auf- und aus- und beinah überhaupt weggeräumtes Kammerspiel. Sebastian Rudolph ist erst mal alle. Mit verstellter Stimme, mit unterschiedlichen Dialekten oder mit Haarreif mit roten Hörnchen, die er sich flugs überstülpt.
Spiel und Spiegel einer multiplen Persönlichkeit
Aber dann wandelt sich, mit einem Video-Projektionseffekt hinter der fast leeren Bühne, das gelegentlich vorbei schlurfende Gespenst in einen hübschen weißen Pudel, und gleich drauf übernimmt Philipp Hochmair alias Mephisto die Soloperformance. Die nächste Dreiviertelstunde hat der bis-dato-Faust wenig zu vermelden. Mit dem Erscheinen von Patrycia Ziolkowska wendet sich das Blatt abermals, nun ist sie alle und die beiden Männer sind die Stichwortbringer.
Alles soweit klar: Nicolas Stemann lässt uns an der (gar nicht neuen) Idee Anteil haben, dass die Personnage des gesamten "Faust I" bloß Spiegelung einer multiplen Seele sei. Mephisto ist sowieso das Alter Ego und völlig identisch gekleidet. Gretchen ist der weibliche Anteil an der erkenntniswilligen und (ver)zweifelnden Faust-Seele. Wir finden sie im ersten Spielblock – ziemlich genau zwei Stunden vierzig – in psychogrammatisch leidlich genauen Diagrammen angelegt. Großes Schauspieler-Theater durchaus, bei dem man sich nur wünschte, die Sache nicht von der 22. (also einer der hinteren) Reihen beobachten zu müssen, näher ran, genauer schauen und vor allem auch genauer hören zu dürfen. Aber das Ohr des Zuschauers stellt sich überraschend gut ein auf die akustische Unbill.
Größer werdende Tischgesellschaft
Erfährt man bei den Salzburger Festspielen mehr, gar Neues über die Befindlichkeit des Faust? Nein, das Stück wird von Nicolas Stemann ebenso wenig neu erfunden wie die Theaterform. Eigentlich: eine handwerklich saubere, aber inhaltlich tendenziell brav, ja: bieder gedachte Arbeit.
Der neo-barocke Keulenschlag setzt nach einstündiger Pause unerwartet ein. Davon erholt sich niemand und nichts, das Publikum nicht, die Schauspieler nicht und der Tragödie zweiter Teil als Ganzes schon gar nicht. "Faust II ungekürzt" wird uns eingebläut von einer bunten Tischgesellschaft. Mit Dreien kommt man jetzt nicht mehr aus, zu Hochmair, Rudolph und der Ziolkowska kommen noch Barbara Nüsse, Birte Schnöink und Josef Ostendorf. Und eine Operntruppe mit der Sängerin Friederike Harmsen und anderen.
Erstmal ist Kapitalismuskritik im Groben angesagt, die drängt sich ja auf mit der Erfindung des Papiergelds. Ein bisserl täppisch und improvisiert, jedenfalls: szenisch unausgegoren sieht das aus. Viel Statisterie geht um, die Video- und Live-Projektionen beginnen zu wuchern, die Musik (ein tollkühner Mix aus live und Konserve) mischt sich aufdringlich in den Text, der sich manchmal wie eine Klette ans Ohr hängt, aber genau so oft abprallt und marginalisiert wird. Goethe begegnet uns als Dame und macht mit Pinsel und Farbe eine Strichliste auf, je tausend Verse einen. Über zwölftausend sinds, aber so heiß wird das von Stemann doch nicht aufgetischt.
Theatrales Multi-Tasking
Bei so vielen Stunden des theatralen Multi-Tasking, der aufblitzenden und gleich wieder versickernden Ideen, der Bühnen-Prallheit, des Masken- und Figurentheaters, aber auch des sich eigenartig fernhaltenden Gestaltungswillens wüsste man gar nicht recht, wo anfangen mit dem Beschreiben des Verqueren, des auseinander Driftenden.
Auch im "Faust II" wird Text nach allen Kräften auf einzelne Darsteller gebündelt. Alle sind alles und alles ist eins – das ist über Viertel- und halbe Stunden die einzige sich abzeichnende Botschaft. Manches wird (vor allem gegen Ende hin) auch chorisch gesprochen. Das mag Nicolas Stemann sehr, davon lebten im Vorjahr am gleichen Ort seine Schiller'schen Räuber. Nur: Hier wird die Übersicht geraubt, die Form. Man bleibt stecken im Erfinden mehr oder weniger plausibler, bühnenwirksamer und oberflächlich effekthascherischer Bilder. Besser gelungen der Helena-Akt, der zentriert und sprachlich gefasst, wenn auch ein wenig altmodisch gestelzt und mithin kunsthandwerklich wirkt.
Ausuferndes Texterlebnis
Natürlich lässt Nicolas Stemann sehr bewusst mit einem Stil-Konglomerat hantieren, will er uns vermitteln, dass wohl auch Goethe nicht recht wusste, wie er die übergroße Sache bändigen solle. Deshalb kommen auch Faust-Exegeten per Videoprojektion zu Wort. Interessant und lehrreich, was sie zu sagen haben. Bei alledem aber stiehlt sich der Regisseur – wenig elegant – hinaus aus der Option einer Deutung. Des weißen Pudels Kern bleibt ein weißer Fleck auf der Goethe-Landkarte. Hier wird ein Fädchen aufgegriffen, herausgezogen und wieder fallen gelassen. Da wird dem Publikum ein dürrer Knochen zum weiteren Abnagen hingeschmissen.
Stimmt schon: Vorgekaute Meinung ist Stemanns Sache nicht, gedankliche Bevormundung scheut er wie der Teufel das Weihwasser. Aber bei acht Stunden Mürbe-sitzen täte man sich halt schon gelegentlich gezieltere Angebote wünschen. Sonst wäre doch der Griff zum Reclam-Heft die bessere Wahl. Die selbsttätige Faust-Lektüre könnte man gesäßfreundlicher anlegen als auf der Pernerinsel – wo die Festspiele für den außergewöhnlichen Längenfall dankenswerter Weise die harten Stuhlreihen diesmal doch ein wenig weicher belegt haben.
Faust I + II
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Thomas Dreißigacker, Nicolas Stemann, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Thomas Küstner, Sebastian Vogel, Video: Claudia Lehmann, Puppen: Das Helmi, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Philipp Hochmair, Barbara Nüsse, Josef Ostendorf, Sebastian Rudolph, Birte Schnöink, Patrycia Ziolkowska.
Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Thalia Theater Hamburg
www.salzburgerfestspiele.at
Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt. Einen Blog über den Tänzer mit dem Deutsche-Bank-Emblem auf dem Bauch in dieser Inszenierung gibt es hier.
"Was hier geschieht, ist eine Welterschaffungsperformance", schreibt Peter Kümmel in der Wochenzeitung Die ZEIT (4.8.2011) über der Tragödie ersten Teil und bescheinigt Nicolas Stemann eine "großherzige Selbstironie". Seine Inszenierung mache postdramatisches Theater und mache sich gleichzeitig lustig darüber. "Sie tanzt in der Falle der Moderne. Sie weiß auf anfangs geniale, späterhin aufgekratzte, witzige, nervtötende Art nicht mehr weiter." Der Anfang sei grandios, was aus Kritikersicht insbesondere dem Schauspieler Sebastian Rudolph zu verdanken ist. Der nämlich hat, so Kümmel, "das Tollkühne eines Stand-up-Comedians", und in seinem Spiel sieht der Kritiker zwei Gegensätze im Kampf miteinander: "die gute alte Darstellungslust und das strenge moderne Verkörperungsverbot." In den letzten Jahren habe es in der Faust-Aufführungspraxis zwei Superlative gegebern. "Das Ganze" bei Peter Stein (2000) und "das Nichts" in Christoph Marthalers "Wurzelfaust" (1993). Stemann, "einer unserer schlauesten Regisseure" verbinde nun beides und baue ein Füllhorn, das "den Mangel ausspuckt". Damit habe er seinen Ruf gefestigt, auf der Höhe der Zeit zu sein. "Und ein bisschen weiter. Mit diesem Faust erweist er sich als der Postdramatische Rat des deutschen Theaters".
"So genial treffend ist der Beginn der Tragödie erster Teil noch nie inszeniert worden. Und auch noch nie so schonungslos", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.7.2011) "Man sah schon Doppel-Fauste und Vielfach-Mephistos (von den weiland vierzehn Gretchen des Einar Schleef selig ganz zu schweigen, Frankfurt 1989). Aber man sah noch kaum den einen Faust, der so viele andere ist." Und so grüßt Stadelmaier jetzt "den Regisseur der Salzburger Festspiel-Inszenierung, durchaus als: Erkenner." Der "studierte Szenenbastler", der gern auch zum Mikrofon oder zum Keyboard greife, um "singend oder dekonstruierend in seine Inszenierungen einzugreifen und sie mit dem zu verschneiden", sitze in Salzburg "mitten im Publikum an einer Art Misch- und Regiepult, von dem aus er öfters aufsteht, um in Ton und Technik und manchmal auch auf der Bühne nach dem Rechten zu schauen". Für den Kritiker ist das "ein fast rührendes Zeichen dafür", wie sehr "der sich über Texte und Stücke leicht schnöselig Erhebende sich hier auf das vermaledeite Reclam-Heft eingelassen, wie tief er sich in die Figuren hineinbegeben hat, wie klug und geniegelassen er sie durchdringt." So verschafft Stemann Stadelmaier also in "Faust I" das pure Theaterglück. "Dann aber leider "Faust II"", seufzt er. Wo Stemann zuvor "kopfgescheit sich auf den Text einließ, verquirlt er ihn jetzt rübenrauschend. Stemann ist an "Faust II" gescheitert. (Wie noch jeder vor ihm. Aber das entschuldigt nichts. Dann soll er ihn halt nicht machen.)"
Für Norbert Mayer von der Wiener Tageszeitung Die Presse (30.7.2011) ist der Abend "eine grausame Versuchsanordnung, die testet, was Darsteller und Publikum ertragen können. Denn aus Mayers Sicht handelt es sich bei diesem "Faust" auch um einen seriellen "Egotrip mit schizophrenen Zügen". Stemann beschränke sich darauf, Teil eins von drei Schauspielern präsentieren zu lassen, die nicht nur elend lange Passagen alleine bewältigen, sondern zudem auch in andere Rollen schlüpfen müssen. Allerdings zeige sich bei diesem Stoff, der "eine hundsgemeine Herausforderung", bei der sich jede Schwäche erbarmungslos zeige. Für den Kritiker wird das im zweiten Teil dann recht schmerzlich spürbar. Dort nämlich sieht er den Text der ersten zwei Akte "zur Klangtapete" werden, "während Stemann seine multimediale Show mit allen Registern durchzieht, mit einer Muppet-Show, schattenhaften Videos und viel Belehrung über den Lauf der Welt". "Nach arg viel Mummenschanz nähert sich die Mitternacht; die Szenen mit Helena sind klassisch ruhig, auch der geschäftige fünfte Akt steckt voller putziger Einfälle. Goethes Landhausmodell brennt. Skylines mit Wolkenkratzern werden umgestoßen. Freiheit! Freiheit? Stattdessen verkommt das Finale zur Schnulze über das Ewigweibliche. Täuschen die Sinne, oder haben die Hamburger Truppe und das brave Publikum tatsächlich zu schunkeln begonnen? Applaus braust auf. Faust ist jetzt wirklich mausetot."
Als "ebenso ambitioniertes wie auch trostloses Projekt" betrachtet Ronald Pohl in der Wiener Tageszeitung Der Standard (30.7.2011) die Inszenierung. Sie hebe "mit dem Furor des Gelehrten-Dramas an, mit Sebastian Rudolph als überreiztem Traumspieler, der wie ein Löwe mit dem Reclam-Heft kämpft. Es führt, über ein bewundernswert standhaftes Gretchen (Ziolkowska), hinüber zum Stemann-Theater, das sich "unmögliche" Texte einverleibt und diese in Bedeutungsbrei übersetzt. Die Bilder tanzen, die Soprane (Friederike Harmsen) schmettern." Goethes Faust hat bis zu diesem Punkt für den Kritiker nichts von seiner Rätselhaftigkeit verloren. Aber, so Pohl: "Stemann wollte auch gar keine Rätsel lösen." Stattdessen bricht er aus seiner Sicht "Goethes irrwitziges Getümmel auf die immer nächste, unbedingt erwartbare Einsicht herunter. Er verbannt den "Laboratoriums"-Faust (Hochmair) der Homunculus-Szene in das nostalgische Bett der Frühvergreisung: "Goethe - der postdramatische Geheimrat! Es woar a scheene Zeit!" Kleinere Binnenwitze sind gut für das Spielklima. Sie erhalten den Wunsch frisch, Goethes Landschaften, die pharsalischen Felder, die Gebirge und Zelte, im Blick zu behalten, während man sie weiträumig umschifft."
"Langweilig wird es nie, auf- oder anregend intensiv dagegen oft", findet hingegen Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (30.7.2011). Und es gebe "videophantasmagorische Bildkompositionen und traurig-schöne, rätselhaft flirrende Stimmungen", denen man sich schwer entziehen könne. Es sei also "ein lohnenswertes, wenn auch nicht immer sinnstiftendes Abenteuer", sich auf Nicolas Stemanns hochmusikalische 'Faust'-Inszenierung einzulassen, die der Tragödie ersten wie auch zweiten Teil durchschreiten, durchleuchten, ausforschen und oft auch nur ausstellen und fragend betrachten würde. "Einerseits also - sehr Stemann-typisch - karges, intelligibles, mit viel Mikrophoneinsatz gebotenes Textdurchforstungstheater, immer auch ein bisschen anstrengend. Andererseits ist Stemann Sinnenmensch genug, um gerade ein so inkommensurables Stoffkonglomerat wie 'Faust II' nicht als reines Text- und Denkexerzitium durchzuziehen. Insgesamt ergeben sich für die Kritikerin "in diesem monologischen Staffellauf durch die Überlagerung und Fremdaneignung von Stückpassagen sehr erhellende Momente und raffinierte Figuren-Links, und so wird 'Faust I' zu einem inhaltlich wie atmosphärisch sehr dichten, zunehmend berührenden Texttheater, in dem drei (auch sprachlich) grandiose Schauspieler zu bestaunen sind."
"So war "Faust I" bis dato selten zu erleben", schreibt Ulrich Weinzierl auf Welt-Online (30.7.2011) - "ein formales Experiment, der Dichtung nichts Fremdes aufnötigend, wie aus ihrem Geist entsprungen, das Goethes poetische Wunderkraft respektiert und strahlend zur Geltung bringt". Auch biete die Inszenierung mit Patrycia Ziolkowska, Philipp Hochmair und Sebastian Rudolph die für ihr Verfahren so zwingend erforderlichen "Ausführenden von Rang". Nicolas Stemann sei der Musikant unter Deutschlands Regisseuren. "Gerade wenn er, gleichsam als Komponist bis hin zur motivischen Engführung, mit dem Sprachmaterial arbeitet, bekommt seine Methode ihr Bezwingendes". Das spielerisch Leichte, gleichwohl Strenge erzeugt aus Weinzierls Sicht "Rhythmus und Sog", denen man er kaum zu entziehen vermag. Allerdings wirke, so der Kritiker auch "das Ende unfertig, beinah stümperhaft." Die Enttäuschung setzt sich für ihn in "Faust II" weiter fort. Akt eins und zwei sind aus seiner Sicht ein Ärgernis. "Über weite Strecken herrscht das längst öde gewordene Prinzip Dekonstruktion. Statt Goethes "sehr ernsten Scherzen" serviert uns Stemann höheren Blödsinn." Für Weinzierl ist es schwer zu glauben, dass derselbe Stemann beides ersonnen haben soll.
K. Erik Franzen dagegen kann - in der FR und der Berliner Zeitung (30.7.2011) - dem zweiten Teil deutlich mehr als dem ersten abgewinnen. Selten nämlich gebe es soviel Text bei so wenig Bildern wie in Stemanns Version der Tragödie erstem Teil. Doch in Teil zwei, so Franzen, mutiere "gleich der erste Akt zum irrwitzigen kapitalismuskritischen Wimmelbild; mit Kammellen und Schnäpsen für das Publikum, Filmaufnahmen vom Elend der Welt und eben mit Jean Ziegler. Der zweite Akt kommt als Lehrstück daher, in dem ein paar wunderbar bizarre Schaumstoffpuppen – aus dem Berliner Figurentheater "Das Helmi" – dem körperlosen Homunculus auf recht verschrobene Art erklären, warum er nicht zur Welt kommen kann." Das alles sei nah bei Goethe "und nahe bei uns". Dazu trage auch die "Leichtigkeit, ja Lässigkeit bei, die der Strom der Videobilder von Claudia Lehmann" aus Kritikersicht erzeugt: "Die punktgenauen Bilder und Effekte, von Negativbildern über Solarisationen bis zu kontrastreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, hinterfragen und erklären die Handlung, ohne aufdringlich zu sein". Auch die auf der Bühne anwesenden Musiker sowie der Tänzer Franz Rogowski, in vielen Szenen präsent als Begleiter und Sidekick der Schauspieler, fügen sich für Franzen "harmonisch ein ins eklektische, teils überbordende und doch geordnete Chaos, das nicht ermüdet und die Zuschauer gefangen hält."
Alles sei hier in einen "Toten- und Tragödientanz um das Goldene Kalb der Freiheit" verwandelt, "blitzgescheit gespielt und inszeniert" und "Faust I" dabei "ein superschlaues Schauspielfest", schreibt Dirk Pilz in Neuen Zürcher Zeitung (22.8.2011). Die Crux des langen Abends aber ist "Faust II", zu dessen "postdramatischer Szenenphantasie" Pilz bemerkt: "Das alles liesse sich leicht als blosses, beliebiges Splitterszenenbeiwerk schelten, dächte man den ersten Teil, den Anfang dieses Dramas der Freiheit, nicht hinzu. Goethe, mit Stemann gelesen, erscheint hier als der Prophet des 21. Jahrhunderts: als Zerbrösler aller Freiheitsgewissheiten. Wir wissen demnach nur noch, dass wir nicht weiter wissen, trotz oder wegen aller Freiheit. Das ist es, was Stemann in ehrlicher Radikalität inszeniert. Man kann auch sagen: Stemann scheitert mit seinem 'Faust'-Vorhaben in denkbar bester, aufschlussreichster Weise. Diese Inszenierung ist der Höhe- und Abschlusspunkt jenes postdramatischen Theaters, das Stemann mit erfunden hat. Sie ist sein Grabstein und Hochaltar gleichermassen. Was jetzt noch kommt, ist Epilog."
Joachim Mischke hat für das Hamburger Abendblatt (4.10.2011) den Faust-Marathon bei seiner Premiere an der Alster besucht und nimmt das ganze von der reportagehaften Seite eines "Sitzfleisch-Härtetests". O-Ton: "Radio-Reporter befragen Gäste, als wären wir in einem Himalaja-Basislager, kurz vor dem Aufbruch ohne Sauerstoff." Tipps hat er auch parat: "Um aus einer Überlänge-Performance wie dieser heil wieder rauszukommen, muss man einige Grundregeln beachten. Ganz wichtig, wie bei jedem Marathon, erst recht für Anfänger: Trinken, trinken, trinken." En passant wird Sebastian Rudolph erwähnt, der mit seinem einstündigen "grandiosen Solo" zum Faust-Dilemma den Abend eröffne. Dann wird's generell: "So konzentriert, leidenschaftlich und genau, wie Stemann den Doktor mit den zwei Herzen in seiner Brust auf uns Zuschauer loslässt, wird das Drama zeitlos, aktuell, aufregend. Faust ist Mephisto ist Gretchen, der Text wird zur dreistimmigen Goethe-Fuge." Mit "Faust II" folgen dann die Stunden, in denen die Inszenierung "mit ihrer holzhämmernden Kapitalismuskritik nervt". Des Regisseurs "gute Vorsätze scheitern auf sehr hohem, aber zumindest optisch sehr unterhaltsamem Niveau". Oder etwas nonchalanter formuliert: "Gut, ich bekomme lustig was zu sehen, doch, ach, an der Erhellung mangelt's."
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Faust I (und nur Faust I) - eine gute Entscheidung. Drei Stunden faszinierendes Theater, theatralische Faszination, eine Symphonie für alle Sinne, ein Konzert für brillante Solisten und perfekte Begleiter. Faust für (Un-)Eingeweihte: Nicolas Stemann (unsichtbarer Dirigent) setzte auf geniale Art und Weise doppeldeutige Zeichen, die Faustkenner anders interpretierten als Faustanfänger - und die sich doch für alle zu einer geschlossenen "Geschichte" fügten. Sebastian Rudolph als Faust gelang die hohe Kunst, eine Stunde lang die komplette Bühne allein zu bespielen. Er füllte den Raum, besetzte den Boden, zeichnete die Wände. Er war keine Sekunde abwesend und erzeugte eine Spannung, die aus 60 realen Minuten ein zeiten- aber keinesfalls endloses Erlebnis machten.
Faust I (und nicht nur Faust I)- eine interessante Entscheidung !
Ich muß auch sagen, daß mich Sebastian Rudolph mit seiner einstündigen Eingangspassage vollauf zu überzeugen wußte, und auch die Begründung Stemanns (siehe Programmheft) für die monologische Spielweise leuchtet hier und noch ein wenig darüber hinaus ein, aber: letztlich wird das im pausenlosen ersten Teil irgendwie zur Masche, zur Manier, verliert sich: ja, sogar den Handlungsfaden nicht zu verlieren, dürfte auch (!) gerade gen Ende des ersten Teils schwer fallen. Ab "Auerbachs Keller" geht es rapide bergab, die Kölsche Marthe ein wenig ausgenommen; dabei brachte gerade diese Szene ein interessantes, letztlich aber lediglich abgehandeltes Moment (Doppelaxelanmutung, siehe unten) zur Entstehungsgeschichte der Szene bei. Dieser Faden führt letztlich ins Nichts; auch Monologisierende könnten einander mehr fordern (etwa in der Form eines "Sängerwett-
streites") oder ihr eigenes "Gespaltensein" stärker mit dem Text kämpfen lassen; doch, ich fand, der Text hat letztlich den Faust I
geschluckt: da der Text aber nicht übel ist und großartig gesprochen wurde und immer wieder auch Glanzlichter gesetzt wurden, war natürlich schon viel Faust I zu sehen und zu erleben.
Was den Faust II angeht, bin ich nicht Ihrer Meinung: allein, daß er die drei Pausen ermöglicht, ist ein Verdienst, auch wenn das jetzt komisch klingen muß; aber wenn man zwischen Faust I und Faust II sich nen Kaffee beim U-Bahnkiosk der Haltestelle "Jungfernstieg"
zieht und/oder zur "Backeria" gegenüber des Thalia geht, dann sieht man da Menschen mit Programmheften versonnen allein oder im Gespräch und dazu allerlei "Alltag", fast die Wurzel aus Faust, was da in den Pausen zu erleben ist. Nein, ein Plädoyer für den Gesamt-Marathon sollte auch ein Plädoyer für Abende mit Pausen sein: Eben noch das Studierzimmer, dann schon die Studentin an der Garderobe, die eine Hausarbeit zu Paul Feyerabend schreibt.
Ich sehe auch nicht den "Abgesang auf die Postdramatik", viel mehr die Aussage in etwa, daß es mit der Postdramatik jetzt auch nicht mehr anders geht als mit sonstiger Dramatik; aber, da der Abend mindestens neugierig auf den Faust II macht und man gerade auch zB. in der Spielplatzszene erstaunlich am Ball bleibt, möchte ich auch den zweiten Teil nicht missen. Wäre schön, der Herr Ostendorf wäre noch ein Weilchen länger so "HMM"-sagend konfrontierend geblieben wie zur Eingangsszene des zweiten Teils (er erinnerte mich ernsthaft an den Göring-Darsteller des "Mephisto" von Szabo), und es wäre auch schön gewesen, wenn das nicht wirklich ziemlich zerfasert wäre, denn zB. der "Ikarussturz" mit Lars von Triers "Antichrist" (Babysturzszene) zu "verlinken"- das gerät hier dann leider, gerade vor der Pause, zu sehr zu "Beeindruckungstheater" (immer vor den Pausen ein "musikalisch"-szenisches Highlight). Ein Abend, der manches zu evozieren weiß, aber irgendwie auch die längste Schlittschuhkür, die ich je gesehen habe, bei der auch ein bißchen zu spüren gewesen ist, daß Herr Stemann möglicherweise wirklich lieber über diesen Abend gesprochen hätte (wie es das Programmheft ausweist, ein Programmheft, das durchaus lohnt, da es die Vorträge enthält, die in einer Szene des Abends parallelgeschaltet zu sehen bzw. hören sind)..
Ansonsten: Positiv, in Summe. Die Debilitäten werden durch großartiges Thater mehr als ausgeglichen.
http://teichelmauke.me/2013/05/27/faust-1-mephisto-2/