Die Ärztin - Schauspielhaus Graz
Ein Bulldozer der Rechthaberei
11. Dezember 2022. Eine Sympathiefigur sieht anders aus als "Die Ärztin" Ruth Wolff, die der Brite Robert Icke an die Stelle von Schnitzlers "Professor Bernardi" gestellt hat. In Graz wird das Stück nun das zweite Mal in Österreich aufgeführt, nachdem der Autor selbst es Anfang dieses Jahres im Burgtheater inszeniert hat. Anne Mulleners führt in Graz Regie.
Von Reinhard Kriechbaum
11. Dezember 2022. Wenn Körpersprache entlarvend ist, dann wirkt Sarah Sophia Meyer in der Rolle der jüdischen Ärztin Ruth Wolff von Anfang an splitterfasernackt. Je begründeter die Einwände sind, die wer auch immer ihr gegenüber vorbringt, umso mehr lässt sie den Pseudo-Macho raushängen. Jede Geste ist auf Abwehr gestellt. Ihrem jeweiligen Gegenüber wendet sie sich bestenfalls halb zu. Dass sie das Wort abschneidet, ist so üblich wie der schnippische Tonfall.
Es nötigt Respekt ab, wie Sarah Sophia Meyer das durchzeichnet und durchhält. Auch wenn es überdeutlich macht, wie sehr der britische Erfolgsautor Robert Icke in seiner Schnitzler-Paraphrase Klischee an Klischee fügt, ja, dass er eigentlich überhaupt nichts anderes gemacht hat als dem Schnitzler'schen Plot die im aktuellen Gesellschaftsdiskurs üblichen Schlagwörter und Handlungs-Folien umzuhängen. Aber es ist ja der Trick dieser aus dem anglikanischen Raum kommenden Theaterform, dass große Fragen der Gesellschaft fast unverschämt trivial eingekleidet werden. Auch "Die Ärztin" ist eine solche Boulevard-Tragödie.
Krankenhäuser wie Kirchen
Die Ärztin hat einem Priester verweigert, dass er einem Mädchen, das an sich selbst einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hat, die Sterbesakramente reicht. Sogar zu einem Handgemenge ist es gekommen. Das Video geht viral, der Shitstorm ist unvermeidlich. Sie: weiß, jüdisch, lesbisch. Der Pater: katholisch und schwarz. Ihr Team: mehrheitlich jüdisch und weiblich. Die Kampffelder sind rasch abgesteckt. Das Einbunkern im Ärzteteam funktioniert natürlich nicht, die Ärztin wird in eine Live-Fernsehsendung gezwungen, wo sie nochmal mit ihrer herablassenden Art alle Sympathien verspielt.
Die Regisseurin Anne Mulleners und ihre Bühnenbildnerin Vibeke Andersen haben einen Satz aus dem Schlussdialog beim Wort genommen. "Wir sollten Krankenhäuser so schön bauen wie Kirchen", sagt die Ärztin da zum Priester. Ein Bühnenbild aus schlanken, hohen Säulen. Die können als Kreis einen Käfig bilden oder als geschwungene Kolonnaden aufgestellt werden. Jedenfalls kein klassisches Spitals-Interieur. Auf diesen schmalen Säulen verfangen sich die teils live gefilmten, teils vorproduzierten Video-Projektionen. Wirkt gut, weil die Brüchigkeit, ja Fadenscheinigkeit dieser Figuren und der von ihnen vertretenen Ansichten gespiegelt wird.
Geballter Diskurs
Es kommt aber auch ziemlich schonungslos heraus, wie plakativ der Autor argumentieren lässt. In der Originalsprache funktioniert die Überschreibung des Schnitzler-Stoffs gewiss besser. In der deutschen Übersetzung ist es eher eine aufdringliche Anhäufung der gängigen Diskurs-Floskeln und Vokabeln, durch den sich auch das Publikum erst durchkämpfen muss. Im Original steckte durchaus hinterhältiger Witz. Aber hier erlebt man gute zwei Stunden lang nur, wie Themen "abgehandelt", "durchdekliniert" werden. Solche Ausdrücke assoziiert man viel eher als "gespieltes" Theater. Selten so viel Händeringen gesehen.
Ein Trick des Autors wird beibehalten: Er will dezidiert Männer- und Frauenrollen durcheinander gewirbelt sehen. Der Diskurs soll nicht von der Gender-Thematik geleitet werden. Das könnte funktionieren, wenn die Frauen in Männerrollen nicht dauernd vorführen wollten, dass sie die besseren Männer (mit all deren schlechten Eigenschaften) sind. Da wird die gut gemeinte Sache eigentlich ad absurdum geführt. Das gilt auch für die Besetzung einer Arzt-Rolle mit einem schwarzen Schauspieler. Diversität schön und gut – Textverständlichkeit wäre dann doch wichtiger als die Hautfarbe. Irgendwie geht einem in Graz durch den Kopf, dass man ein Zerrbild von diversem Theater vorgezeigt bekommt.
Endlich auf Augenhöhe
Einer Nebenrolle galt offenbar die besondere Sympathie der Regisseurin: Sami (Daria von Loewenich) ist eine junge Transgender-Person, die sich der Ärztin anvertraut, die da in kurzen Momenten zur Hörenden wird. Gerne würde man mehr solch durchgearbeiteter Personenbeziehungen sehen statt marktschreierischer Plakativität.
Glücklicherweise bleiben noch zehn ruhige Minuten am Schluss. Da sind die sprichwörtlichen Leichen aus dem Keller geholt, die Karriere und das Privatleben der Ärztin sind ruiniert. Das erste Mal wirkt sie unaffektiert, begegnet ihrem Gegenüber auf Augenhöhe. Sie ist allein mit dem Priester. Ein ernsthafter Dialog ohne Verstellung, ohne Gestikulieren. Die Ärztin ist ganz bei sich selbst. Zwei Menschen stehen jeweils für ein System, für eine Ideologie. Das Humanum ist wohl zu lange auf der Strecke geblieben. "Mensch sein ist nicht einfach", sagt der Priester. Und das klingt mehr wie eine Erkenntnis als ein Vorwurf an die Frau, die zu rabiat ihren Mann gestellt hat.
Die Ärztin
von Robert Icke
sehr frei nach "Professor Bernhardi" von Arthur Schnitzler
Aus dem Englischen von Christina Schlögl
Regie: Anne Mulleners, Bühne: Vibeke Andersen, Kostüme: Chani Lehmann, Musik: Aki Traar, Videokunst: Timo Neubauer, Videoschnitt: Michael Hartl, Licht: Anton Oswald, Dramaturgie: Franziska Betz.
Mit: Sarah Sophia Meyer, Yasmin Mowafek, Daria von Loewenich, Henriette Blumenau, Clemens Maria Riegler, Beatrix Doderer, Ramsès Alfa, Lukas Walcher, Iman Tekle, Mathias Lodd, Katrija Lehmann.
Premiere am 10. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus-graz.at
Mehr: Im Januar 2022 hat Robert Icke seine Schnitzler-Überschreibung selber am Burgtheater Wien inszeniert.
Kritikenrundschau
Ickes Text lade zum Mitfühlen ein, ergreife aber nicht Partei. "Stellung bezieht der Autor an ungewöhnlicher Stelle: In seinen Regieanweisungen empfiehlt er konsequente Gegenbesetzung." Das sei mehr als eine subtile Antwort auf das, was der Text offenlasse: ein Statement zum aktuellen Identitätsdiskurs, schreibt Hermann Götz von der Kleinen Zeitung (11.12.2022). "'Die Ärztin' am Schauspielhaus Graz überführt Schnitzler virtuos
in aktuelle Identitätsdiskurse. Jede und jeder kann alles darstellen."
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Und das die Frauen „die besseren Männer spielen wollen“ und „vorführen“ habe ich nicht gesehen. Ich habe sehr schlagfertige, karriereorientierte Positionen gesehen. Verbinden wir das gesellschaftlich und auch in dieser Kritik zu oft als ‚männlichen‘ Aspekt ?
"...Besetzung einer Arzt-Rolle mit einem schwarzen Schauspieler. INKLUSION schön und gut – Textverständlichkeit wäre dann doch wichtiger als die Hautfarbe. Irgendwie geht einem in Graz durch den Kopf, dass man ein Zerrbild von INKLUSIVEM Theater vorgezeigt bekommt...."
- wäre hier der Begriff der "Diversität" nicht der richtigere Begriff und kann die Verwendung des Begriffes "Inklusion" an dieser Stelle nicht missverstanden werden?
(Liebe:r checkONE, er ist auf jeden Fall weniger missverständlich, weil der Begriff der Inklusion in den letzten Jahren anders geprägt wurde, deshalb habe ich den Text dahingehend angepasst. MfG, Georg Kasch / Redaktion)