Die gefesselte Phantasie - Burgtheater Wien
Und jetzt nochmal rückwärts
30. März 2023. Wo Herbert Fritsch draufsteht, steckt meist auch Herbert Fritsch drin. Diesmal hat sich der Großmeister der Komödie als Hochleistungssport einen Schwank von Ferdinand Raimund vorgenommen. Jede Menge Vorlagen also für die Effekte des Fritsch-Universums. Alles wie immer?
Von Martin Thomas Pesl
30. März 2023. Etwas muss dran sein an diesem Stück, dass es die Fantasie jener Regisseure entfesselt, die ihre eigenen Bühnenbildner sind. Letzten Sommer inspirierte Ferdinand Raimunds Zaubermärchen "Die gefesselte Phantasie" Achim Freyer in Gutenstein zu visuellen Kapriolen. Jetzt verschlägt es Herbert Fritsch auf die Halbinsel Flora. Die Corona-bedingt um einen Monat verschobene Premiere kommt rechtzeitig, bevor auch abseits der Burgtheater-Bühne all die bunten Blumen blühen.
Bekenntnis zur Sinnlosigkeit
"Alberne Blödelregie", "quietschbunt", "Witzfiguren": Gegen diese Zuschreibungen verwehrt sich Fritsch in einem Interview mit der Wiener Zeitung. Im selben Gespräch bekennt er sich zur Sinnlosigkeit. Die von der zeitgenössischen Kritik 1828 eher mäßig aufgenommene Posse mit ihren zahlreichen Figuren, die alle nicht ernst zu nehmen sind, passt jedenfalls ung'schaut hervorragend zu ihm (anders als etwa Thomas Bernhard, den der ehemalige Volksbühnen-Schauspieler bisher nur außerhalb Österreichs zu inszenieren wagte).
So wie Freyers Abend dauert seiner zweieinviertel Stunden, nur beinhaltete diese Dauer beim Kollegen in Gutenstein eine 45-minütige Pause. Das sagt schon viel: Während Freyer bis zur Unkenntlichkeit straffte, schlägt Fritsch kein Angebot einer körperlichen Verjuxung oder Verkalauerung (Fassung: Sabrina Zwach) aus. Der Text lässt es mit sich machen, er hat die Phantasie schon im Titel.
Der Form halber ein Handlungsabriss: Zwei garstige Zauberschwestern (Sarah Viktoria Frick, Elisa Plüss) schikanieren seit einem Jahr die Blumeninsel und ihre Königin Hermione (Maria Happel). Apoll (Arthur Klemt, der bei jeder Nennung einmal mit einem großen Blitz unterm Arm über die Bühne läuft) lässt per Orakel verkünden, wenn Hermione heirate, ende der Spuk. Statt des ihr vorgeschlagenen Königssohnes will sie lieber den armen Hirten Amphio (Bless Amada), weil der am schönsten dichten kann. Doch die Schwestern fesseln die Fantasie (Tim Werths) und importieren als besten, weil einzigen Kandidaten Nachtigall, einen Harfe spielenden Trottel aus Wien (Sebastian Wendelin). In letzter Sekunde geht alles gut aus, und der Hirte ist eh in Wahrheit adelig.
Wiener:innen in Lederhosen
Fritschs Bühne erinnert auf den ersten Blick wieder an Freyer: Sie ist leer, nur der Bühnenboden sieht mit seinen Pinselstrichen aus wie der eines Malerateliers. Von oben fahren dann aber abwechselnd verschiedenfarbige Kulissen herunter, mit Ausschnitten wie die Comicblasen für "Boom!" und "Zack!". Hinein schwirrt ein Chor aus Studierenden des Reinhardt-Seminars, abwechselnd Blumenkinder, Katzenmusik spielende Löwen und Wiener Heurigengäste (in Lederhosen – ein vermutlich absichtlicher kultureller Fauxpas der Kostümbildnerin Geraldine Arnold!), gefolgt vom gar unübersichtlichen Inselpersonal aus Höflingen, Handwerkern, Hirten – zu unterscheiden durch die Farbe ihrer Disco-Anzüge und die spezielle Schrecklichkeit ihrer beim heftigen Buckeln vor der Königin oft herunterfallenden Perücken.
Wie von einem Fritsch-Abend zu erwarten, drücken alle von Anfang an mächtig auf die Tube. Nach Bedarf werden Louis de Funès ("Nein!" "Doch!" "Oh!"), die Teletubbies oder holländische Showmoderatoren zitiert. Manchmal ist das so doof, dass es wieder lustig ist – etwa wenn Frick und Plüss in einer "Mission: Impossible" von der Decke hängen und sich dabei extraunelegant anstellen. Manchmal ist es virtuos und provoziert Szenenapplaus – wenn Markus Scheumann in der Rolle des galligen Narren einen gestenreich vorgetragenen Monolog gleich nochmals rückwärts performt. Und oft genügt es sich in seiner handwerklich perfekten Hochtourigkeit derart selbst, dass die Zuschauer:innen beim besten Willen nicht mehr mitkommen.
Der Regisseur erscheint mit Harfe
Der Slapstick sitzt, der Dialog blitzt, das Timing innerhalb der Nummern, an denen sich die Handlung, jeweils lange verweilend, entlanghangelt, stimmt. Es ist ein typischer Fritsch/Zwach-Abend mit Klassikervorlage, dem geforderten Stil fügt sich gekonnt das gesamte Ensemble – der schlaksig-agile Schauspieler Tim Werths scheint dafür sogar wie geschaffen. So richtig Freude bereitet diese Komödie als ganze trotzdem nicht. Dafür ist Fantasie als Thema doch etwas zu wenig.
Zum Premierenapplaus erschien der Regisseur im goldenen Kostüm mit einer Harfe. Er ging vor zur Rampe, stoppte den Jubel und spielte in die entstandene Stille hinein genau einen Akkord. Dieser Gag war ihm anzusehen, sobald er die Bühne betrat. Alberne Blödelregie, quietschbunte Witzfiguren? Geschenkt! Aber es wär so schön, wenn Fritsch uns noch mal echt überraschen könnte.
Die gefesselte Phantasie
von Ferdinand Raimund
In einer Fassung von Sabrina Zwach
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Geraldine Arnold, Musik: Herbert Fritsch, Ingo Günther, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Bless Amada, Gunther Eckes, Sarah Viktoria Frick, Maria Happel, Marcel Heuperman, Arthur Klemt, Elisa Plüss, Markus Scheumann, Tilman Tuppy, Sebastian Wendelin, Tim Werths sowie im Wechsel Pilar Borower, Johannes Deckenbach, Laura Dittmann, Nico Dorigatti, Lenya Gramss, Nils Hausotte, Alexandra Schmidt.
Premiere am 29. März 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
Großes Lob hat Stephan Hilpold im Standard (30.3.2023) für Tim Werths als Fantasie, für seinen "Gedankenwitz" und seine "Luftsprünge" übrig: "Während die Pointenmaschinerie rings um ihn auch manchmal ins Stocken gerät: Allein dieser grandiose Schauspieler ist der lebende Beweis, wie viel Kraft und Komik im Theater stecken können." Im Ganzen habe Herbert Fritsch "das öde Raimund'sche Zauberspiel in einen grellen Slapstick-Spaß verwandelt. Das Bühnenbild aus munter rauf- und runterfahrenden Wolken- und Sternenprospekten ist übrigens auch von ihm. Perücke ab!"
"Operation gelungen, Raimund lebt!", ruft Norbert Mayer in der Presse (31.3.2023) aus, nachdem er eine "eine zügellose Show von heute" erlebt hat. "Eine Serie zum Brüllen komischer Sketches also, ohne Maß und Ziel. Das kann anstrengend sein, lohnt sich aber."
Für die Wiener Zeitung (30.3.2023) schreibt Christina Böck: "Wer sich dem vermeintlichen Nonsens einfach hingibt, wird einen guten Theaterabend haben." Aber "beim – und wenn es einer buchstäblich nimmt, dann Fritsch – "Entfesseln der Fantasie" wäre hier wahrscheinlich noch mehr 'Over The Top' drinnen gewesen".
"Zweieinviertel Stunden lang fegen" die Spieler:innen „als Akrobaten, Sängerinnen, Tänzer und Instrumentalistinnen über die Bühne", berichtet Thomas Götz in der Kleinen Zeitung (31.3.2023). Fritsch ließ "sein Ensemble von der Leine, und der Plot erwachte zu aberwitzigem Leben".
So "viel Anarchie war selten bei Raimund", findet Uwe Mattheiß in der taz (31.3.2023). Er erlebte ein Theater "das nicht mehr auf Erfahrung referiert, sondern welche erzeugt und das im genüsslichen Übermaß. Eines, das Sprache ins Tänzerische übersetzt und Bilder erzeugt, die die Wahrheit der Wirklichkeit überbieten."
"ADHS-Theater in Vollendung" hat Peter Kümmel gesehen und schreibt in der Zeit (6.4.2023): "Jeder Einfall, der in Fritschs Kopf aufglüht, scheint mittels durchgebrannter Nervenleitungen in die Glieder seiner Schauspielerinnen und Schauspieler gejagt zu werden, wo sie sich sofort entladen: in Sprüngen, Pantomimen, Grimassen." Fritschs Inszenierung sei "der Versuch, dem sprachlichen Reichtum des Autors (der hier nur zu ahnen ist) mit Clownskörpern Paroli zu bieten, um eine Art Waffengleichheit des Witzes herzustellen." Das sei jedoch unmöglich. "Seine tollen Spieler hetzen der Kunst Raimunds hinterher und holen sie nicht ein."
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