Maria Magdalena - Michael Thalheimer lässt im Burgtheater Hebbels Figuren Schatten werfen
Familienaufstellung 1844
von Reinhard Kriechbaum
Wien, am 20. Februar 2014. "Über Menschen sage ich nichts, gar nichts", versichert der alte Meister Anton, "ich mache nur Erfahrungen". Wäre er doch zu Erfahrungen fähig! Aber Meister Anton lebt in seinem hermetisch abgeschlossenen System, einzementiert in einer alten Welt, die er – so sagt er am Ende des Stücks immer noch voller Selbstmitleid – nicht mehr versteht. Er hat sie wohl nie kapiert. Zu bloßen Formeln geronnen sind Verhalten und Rede. Jede und jeder in seinem Umfeld weiß, welche Rolle sie oder er auszufüllen hat, welcher Satz wann fällig wird.
Vor ziemlich genau einem Jahr hat Michael Thalheimer im Burgtheater Hofmannsthals Elektra in einen Schacht gestellt, sie eingepfercht in Schräglage. Schon aus Gleichgewichtsgründen war sie ständig verheddert mit den anderen Figuren des Stücks. Einen ähnlichen Schacht hat Bühnenbildner Olaf Altmann auch diesmal gebaut, als dekoratives, aber nicht so konsequent genutztes Versatzstück. Thalheimer lässt Hebbels "Maria Magdalena" dort drinnen beginnen. Noch ist der Schacht gerade, doch er neigt sich, wenn die Nachricht kommt, der Sohn habe Juwelen entwendet. Da trifft die Mutter der Schlag. Leonhard, der eigentlich nur hinter der Mitgift her ist, nutzt die gute Gelegenheit und sagt sich von Tochter Klara los.
Tilo Nest stampft als Meister Anton bei jedem Schritt mit seinem Stock so fest auf, dass er suggeriert: Da steht einer mit drei kräftigen Beinen da, im Leben und in der Gesellschaftsordnung. Der Familienvater als Oberpharisäer. Bei einem solchen hätte eine Büßerin nicht das Geringste zu hoffen, und hieße sie Maria Magdalena. Die Tochter heißt aber Klara, und sie ist schwanger. Noch am Totenbett der Mutter nimmt sie der Vater ins Gebet, in die Hand der Verstorbenen muss Klara ihre Unberührtheit schwören.
Zurück zur Tragödie
Sarah Viktoria Frick ist diese Klara – ein pausbäckiges Püppchen mit weit abstehendem Rock. Die Arme hält sie steif wie eine Marionette seitwärts am Körper. Sie versucht, ein Abklatsch der Mutter zu sein oder wenigstens zu werden. Die Mutter (Regina Fritsch) ist freilich seelisch auch total verkorkst, sie fällt in eine unnatürliche Fistelstimme, wenn sie ihre Stehsätze aus der heilen protestantischen Bürgerwelt von sich gibt. Der Bruder Karl (Tino Hillebrand) versucht's mit Schneid und etwas mehr Lautstärke. Er wird sich ja dann davon machen, aufs Schiff, wogegen seine Schwester ins Wasser geht.
Michael Thalheimer führt uns krasse Charaktere vor, immer eigentlich an der Grenze zur Karikatur. Als präziser Zeichner von Gemütslagen bestätigt sich der Regisseur, aber diesmal auch als einer, dem die eigene Didaktik ein Bein stellt, der sich irgendwie selbst eingefroren hat mitsamt seinen Figuren. Es darf sich wenig, ganz wenig entwickeln an diesem Abend. Jede Gestalt ist von der ersten Minute weg fertig definiert. Hebbels bürgerliches Trauerspiel gerät zur Antikentragödie, in der alles zwangsläufig dem schlechten Ende entgegen läuft. Vielleicht ja auch deshalb Thalheimers Anspielung auf seine eigene "Elektra" am selben Ort.
"Wir wollen spießrutenlaufen!"
Dieses Nicht-Entwickeln wird zum Problem, denn in den Eindreiviertelstunden passiert wenig Unvorhersehbares. Wie Diaprojektionen wirken diese deformierten Menschen, von Sekunde eins ultra-scharf eingestellt. Der Fokus wird keinen Zehntelmillimeter mehr verrückt. "Es ist schönes Wetter, wir wollen spießrutenlaufen", heißt es einmal. Den Spießrutenlauf dieser Leute enthält uns Thalheimer dann doch weitgehend vor, sondern zeigt uns eine Familienaufstellung anno 1844. Ein schauspielerisch ausgefeiltes Setting freilich, das viel Anschauliches bereit hält. Die Verschlagenheit des verlobten Leonhard etwa, dem Lucas Gregorowicz leicht buckelnd eine mehr als traurige Gestalt gibt. Oder den kurzen Auftritt des Kaufmanns Wolfram (Johann Adam Oest), der sich gar nicht einkriegen kann vor Entsetzen, dass seine Juwelen ja gar nicht gestohlen sind.
Kurze Freiheitsoption
Klaras Jugendfreund, der Sekretär (Albrecht Abraham Schuch). Der kommt ganz unbefangen daher, legt los mit seinem herzhaften small talk. Und da sieht es ganz kurz so aus, als entglitte der stocksteifen Klara doch ein Lächeln wie ein Silberstreif am zapfendusteren Horizont. Übrigens: Sie schauen nicht nur aneinander vorbei, diese Leute, die nie auch nur ansatzweise gelernt haben, ein Gespräch zu führen. Ein (zu Tode gerittenes) Stilmittel von Thalheimers Inszenierung ist es, dass alle Protagonisten immer geradewegs nach vorne in den Zuschauerraum blicken. Es spielt ja jeder seine vordefinierte Rolle in diesem bürgerlichen Trauerspiel, da braucht es keine Dialogpartner, keine Blicke des Einverständnisses. Das hält Thalheimer auch wirklich durch, und nur in den paar Szenen, in denen ultra-kurz die Option auf persönliche Freiheit aufblitzt, wenden die Protagonisten einander die Gesichter zu. So wie eben Klara und der Sekretär in der kurzen Szene, da sie allein sind.
Der Sekretär wird, nach verlorenem Duell gegen Klaras Verlobten, dem Vater seine blutverschmierte Hand entgegen strecken – aber der alte Meister Anton sieht wieder einmal nicht hin. Warum sollte er? Er hört da wohl nur mehr jenen sirrenden hohen Ton, der sich gezielt-enervierend durch die ganze Aufführung zieht: Leute, die vor sich und anderen so kräftezehrend-intensiv (lebens)lügen, schweben in latenter Tinnitusgefahr.
Maria Magdalena
von Friedrich Hebbel
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Regina Fritsch, Lucas Gregorowicz, Tino Hillebrand, André Meyer, Tilo Nest, Johann Adam Oest, Albrecht Abraham Schuch, Stefan Wieland.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Wenn man auf dem Burgtheater, "das durch miserable Führung und missliche Finanzen in eine schwere Krise geraten ist, nichts weiter sähe als Hebbels kleine Klara," schreibt Gerhard Stadelmaier in der FAZ (22.2.2014), "wie sie leuchtet und wie Thalheimer sie verteidigt und ausstellt – es wäre Grund genug, dieses herrliche Theater mit Zähnen und Klauen zu retten." Auf das "kleine, taffe" Mädchen Klara lasse Thalheimer Gestalten aus einem Spuk-Albtraum einstürmen "bis es selbst dorthin geht, wo sie schon alle sind: in den Tod."
Obwohl die Aufführung aus Sicht von Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (22.2.2014) "etwas schleppend in die Gänge" komme, würden ihre Qualitäten schon in diesen ersten Szenen deutlich: "Sie hat, durch Altmanns Setzung, etwas Monumentales, ist zugleich aber detailgenau gearbeitet. Jede kleine Geste, jeder Lichtwechsel ist exakt gesetzt." Den ganz großen Auftritt aber habe Albrecht Abraham Schuch, der als hypernervöser Sekretär zu Hochform auflaufe: "Wenn er Klaras Namen ruft, klingt es wie ein Liebeslied, und aus seinem Monolog, in dem er über Eulen, Fledermäuse und Maulwürfe schwadroniert, wird eine hinreißende Performance, die Klara ein so strahlendes Lächeln ins Gesicht zaubert, dass man für ein paar magische Momente glaubt, es könnte doch noch alles gut werden. Schönste Liebesszene der Saison, gar keine Frage."
Die Inszenierung glänzt aus Sicht von Margarethe Affenzeller vom Wiener Standard (22.2.2014) vor Präzision, "allerdings um den Preis, dass sie in ihrer Mechanik wenig mitfühlend macht. Die Befremdung, die einen umfängt und mit der der Abend auch kalkuliert, hat auch Ungerührtheit zur Folge." Michael Thalheimer gehe es wie immer um den Überbau, "um das Konzept des von einem für alle ausgedachten guten Lebens, um flächendeckend wirksame, sittliche Parameter, denen kein eigener, unabhängiger Gedanke zugrunde liegt. Die Korsage, die nötig ist, dies zu zeigen, misst er Affenzellers Eindruck zufolge allerdings "seinem Ensemble bravourös an".
Die "Zurschaustellung" des von Hebbel mit diesem Stück sezierten Knochenbaus der frühindustriellen Gesellschaft bewegt Norbert Mayer von der Wiener Presse (22.2.2014) vor allem deshalb, "weil in einem prächtigen Ensemble Sarah Viktoria Frick als Antons Tochter Klara eine fantastische Protagonistin ist. Sie ist unter all diesen Marionetten ein liebendes, leidendes Wesen, das aus perverser Pflichterfüllung konsequent in den Tod geht. Der aber wird, fast wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel, von Anfang an gezeigt."
"Die Starrheit oder die Ticks der Figuren sollen moralische Verkommenheit oder moralische Rigidität repräsentieren", so Karin Fischer auf DLF Kultur vom Tage (21.2.2014). Das funktioniere hier, mit zuverlässigem Ensemble, nicht besser oder schlechter als an anderen Thalheimer-Abenden. "Dieser aber kommt nicht wirklich über die Rampe. Und die Frau ist am Ende natürlich trotzdem tot."
"Thalheimers Geisterstunde braucht Zeit, um in die Gänge zu kommen, läuft aber dann zu feinem, wenn auch kühlem Schauspieler-Theater auf", findet Karin Cerny in der Welt (online 17.3.2014). Obwohl das Stück uns einigermaßen fern sei, sei es "im Detail interessant genug gebaut, dass man gerne zuschaut". Weil "die Schauspieler ihre Figuren wie glitzernde Miniatur-Diamanten in den dunklen Bühnenraum stellen. Und weil der Tod von Klara am Ende doch sehr rührend ist, woran Bert Wredes wilde musikalische Mischung aus Moll-Tönen und flirrend hohen Tinnitusklängen nicht ganz unschuldig ist."
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Überhaupt sieht die Inszenierung aus wie der hundertste Aufguss der immer gleichen Thalheimer-Stilmittel. Gibts dafür volles Honorar? Hier funktionierts nur nicht - es bleibt ein sehr laues Erlebnis... Na ja, vielleicht das nächste Mal. Spalt wieder in die andere Richtung kippen und was Griechisches spielen, dann passts vielleicht wieder!
(Und vielleicht mal irgendeine andere Musik als die von Bert Wrede verwenden ... die wurde zur Karikatur ihrer selbst ...)
Stilmittel und Theaterschablonen aus einer anderen Zeit,die über das heute nichts mehr zu sagen haben.Vielleicht auch weil niemand mehr immer die genau erkennbare Marke wiedersehen will.
Vielleicht passt die Vorhersehbarkeit oder das "Eingefrorensein" nicht mehr hierher.
Es scheint fast als gäbe es ein Bedürfnis nach Organischem,Wärmerem,Berührenderem.
Nicht diese kühle Sterilität,vielleicht zerschmilzt der Kristallpalast einfach.
Ja Sinnlichkeit und Wagnis wären zu wünschen.
Wilhelm Roth
Ja ja, man wird ein bisschen wehmütig, wenn man zurückdenkt an die alten Regiegötter und ihre großen Zeiten. Als ich ans Theater kam, wie verehrte ich Hans Kresnik. Oder jemanden wie Ciulli. Viel später, wenn ich mir wieder Aufführungen von Ciulli ansah, dachte ich, ich muss verrückt gewesen sein. Das sah ja alles immer noch genauso aus wie in den Achtzigern, warum nur konnte ich dasselbe, was ich damals grenzgenial fand, kaum ertragen? War es wirklich nur die Zeit, die darüber hinweggegangen war? Auf der anderen Seite muss man zugeben, gab es früher mehr Regisseure, die unterschiedliche Genres inszenieren konnten. Heute sind die meisten Regisseure ihre eignen Genres. Jedes Stück, dass ihrem System einverleibt wird, wird dem individuellen Formdiktat gebeugt. Das allerdings kränkt mich auch nicht. Allerdings finde ich, es sollte weniger Epigonen geben, die dann noch zehn Jahre lang versuchen, Castorf oder meinetwegen Thalheimer hinterherzuinszenieren. Was soll der Quatsch? Seid mutig. Macht doch abseitiges Zeug. Und ihr Intendanten: Lasst es zu. Wir leben ja nur einmal. Und die Klassiker bleiben noch lange jung.
Gegen die Wiederverwendung von Bühnenbilddetails habe ich allerdings überhaupt gar nichts einzuwenden. Von mir aus dürften, ja MÜSSTEN, sie gedreht und gewendet werden bis das Material aus dem sie hergestellt wurden, so abgenutzt aussieht wie alte Schuhe. Ich fand das schon als Kind witzig am Theater, dass von Kleist bis Mozart und Puccini immer derselbe Leuchter umgefärbt wurde und es im Theater offenbar nur einen einzigen Koffer und auch nur einen Lehnstuhl oder Sessel gibt - warum spielt eigentlich keiner mit sowas? Jedes Kind kann das, bloß keine Staatstheatraliker - Man könnte sich auch ein geniales und bewährtes Bühnenbild von einer Bühne für eine Inszenierung ausleihen z.B. Das schreibt man dann eben ins Programmheft: Aus Kostengründen spielen wir heute Abend unseren neuen Faust im Hamlet-Bühnenbild von daundda… Das Publikum ist ja Wohnwelten-Denken durch die Werbung gewöhnt und hätte bestimmt Freude an der Vorstellung, dass das Theater ihm Vorstellungskraft zutraut-
Ich möchte nix neues ich möchte was echtes! was mich berührt! und das gibts im laden eben nicht!
im übrigen bin ich ein kind das den glorreichen sozialismus inhalieren durfte.
mein problem mit diesem kühlen theater ist eigentlich, das ich es eben nicht so menschlich finde.
eine beziehung zwischen menschen, ein kontakt, ein konflikt, ein schmerz, naja.
ansonsten fühle ich mich von ihnen ganz wunderbar verstanden herr rothschild.
das ist einem wirklich ein bisschen peinlich, auf welchem Niveau Sie gerade jammern: Glauben Sie wirklich, die böse "kapitalistische Logik" macht den Thalheimer fertig? Geht's auch eine Nummer kleiner: Dass ein Regisseur zu viele Stücke macht und ihm einfach nichts mehr einfällt - bzw, dass er seinen Ansatz ohne Unterscheidung über Sommernachtstraum, Tartüffe und Hebbel kippt und damit einfach bequem geworden ist? Ich finde Ihre Rolle als Rezensent dieser Seite und gleichzeitig als empörter "Leser" inzwischen sehr kokett und scheinheilig. Wollen Sie sich nicht für eine Seite entscheiden? Das wäre ehrlicher. Und Thalheimer braucht keine pseudoempörten Verteidiger wie Sie.
Grüße von Schildroth
Ihre feinsinnige Empörung nehme ich mit Gelassenheit hin, auch den Vorwurf der Scheinheiligkeit und der Koketterie. Nur eins: wenn Rezensenten an den Debatten nicht teilnehmen sollen, mag man das zur Regel machen. Ich dachte, just solche Auseinandersetzungen seien von der Redaktion gewünscht. Ich sehe nicht ganz, warum ein Rezensent keine Ansicht zu der angeblichen Langweiligkeit von Regiekonzepten haben und äußern soll, aber wenn Sie meinen: ich lasse mich gerne belehren. Nur dies noch, weil es die Ehrlichkeit betrifft: Ich verschleiere meine "Doppelrolle" nicht hinter einem Pseudonym. Im Gegensatz zu Ihnen.
ein Kommentar mit Klarname ist nicht schon an sich eine Tugend - diesem Missverständnis unterliegt der andere Grantler dieser Seite, Herr Baucks, auch immer: Die mutigen Klarnamen und die feigen Anonymen: albern.
Vielleicht ärgert mich gar nicht so sehr Ihre Doppelrolle, sondern der oberlehrerhafte Ton, den Sie in den Kommentaren kultivieren, als Rezensent und Kenner in Freizeit, sozusagen, aber immer auf der Seite der Gewissheiten.
Thalheimer ist leider auch in die Marken-Falle gegangen, wie das der Herr in 7. so treffend für Ciulli beschreibt. Oder einfach denkfaul geworden. Deshalb ist es so rührend, wie Sie meinen ihn verteidigen zu müssen.
ich verteidige nicht Thalheimer, zu dessen Inszenierungen ich ein ambivalentes Verhältnis habe - und er hätte meine Verteidigung nicht nötig -, wohl aber das Recht auf eine eigene künstlerische Handschrift, die man, wenn man denn will, auch "Marke" nennen kann. Ob sie jeweils dem umzusetzenden Text und dessen Autor gerecht wird, ist im Einzelfall zu entscheiden. Vielleicht ist es tatsächlich die beste Lösung, wenn man, wie die von mir uneingeschränkt bewunderte Ariane Mnouchkine, von Shakespeare und den Atriden zu für ein Ensemble geschriebenen und mit seiner Teilnahme kollektiv verfassten Texten übergeht. Aber auch sie hat ihre Handschrift 40 Jahre lang beibehalten, oder, wenn man es böswillig formuliert, ist zur Marke geworden (unter verkaufstechnischen Gesichtspunkten freilich ohne großen Erfolg). Wenn das denn so ist: ich möchte sie nicht missen. Was meinen oberlehrerhaften Ton angeht, so werde ich ihn mir wohl nicht mehr abgewöhnen können. Wohl aber kann ich ohne Entzugserscheinungen darauf verzichten, bei "Nachtkritik" Kommentare abzugeben. Da niemand Ihrer Forderung widerspricht, sich für eine "Seite" zu entscheiden (Rezensenten vs. Leser als Kontrahenten!), auch weil ich ungern zusammen mir Herrn Baucks in die Kategorie der Grantler gehören möchte, soll dies mein letzter Kommentar sein. Und weil ein Klarname zwar keine Tugend ist, wohl aber ein Zugeständnis an die von Ihnen eingemahnte Ehrlichkeit, unterzeiche ich mit den beiden Silben, die Sie so einfallsreich und ganz und gar oberlehrerkritisch für Ihr eigenes Pseudonym vertauscht haben.
@jubelperser: Ich denk schon seit gestern über den Palast vom jubelperser nach: Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wie die Schmelztemperatur von Kristall ist, denn nur Wärme, (Be)Rührung und ein Organon würde wahrscheinlich zum Zerschmelzen nicht ausreichen... Ich könnte meinen Jugendfreund Klaus – auch einst ein Sozialismus-beamtetes reales Kind und Libero der Hochschulmannschaft – fragen, der war Chemiker, aber ich erreich ihn nicht. Und die nächste Frage ist dann, erhöhte Temperatur doch sicher unter gleichzeitig erhöhtem Druck, oder nicht? Und was, wenn dann das Schmelzwasser – so ein Palast ist ja ein ziemlich großes Gebäude, nicht aufgefangen werden kann und irgendwem darin die Felle wegschwimmen? Gibt’s da einen Notfallplan, der die Überlebenden der Auftauphase rettet oder zumindest an ein sichereres Ufer bringt? – Und dann fällt mir noch ein, dass eigentlich bei höheren Temperaturen und gleichzeitig erhöhtem Druck – zumindest bei den Sternengeburten im Erd-Off, in den Kernen die Stoffe sich zu Diamant verdichten und wenn dann der Kern, nach ein paar Millionen Lichtjahren, sozusagen implodiert, allenfalls noch irgendwelche Gase entstehen und eine neue, schwarze Materie, die alle anderen Massen in der Nähe so anzieht, dass die anfangen zu kreiseln und sich dann wieder, im Verlaufe von wieder ein paar Millionen Lichtjahren, neue Sterne mit Diamantkernen davon bilden… Hat der Palast so lange Zeit?
Das meine ich dann mit schlechter dramaturgischer Beratung für Thalheimer. Womit wir sogleich beim beinahe zwangsläufig sich einstellenden „Totreiten“ von Stilmitteln (jubelperser) ankommen: Hier könnte zunächst einmal Sprachkritik beim Nachdenken helfen: in dem Wort Stilmittel steckt ja, dass ein Stil durch bestimmte angewandte Mittel sichtbar, bewahrt und für Zeugenschaft vermittelt wird. Und da müsste man überlegen, ob das für Theater überhaupt taugt, so ein bewusster Umgang mit eigenem oder fremdem Stil. Ob es für Theater als Kunst wichtig ist, Stil pirmär nicht nur zu entwickeln und sichtbar für andere zu machen, sondern das sekundäre Bewahren von Stil und Wiedererkennbarkeit von Stil zu sichern zum Primat zu erheben… Das ist ja eine Frage der Eitelkeit und da ist ja jeder anfällig dafür und im Theater sind dann aufrichtige Freunde wichtiger als tolle gegen das „Totreiten“. Ich glaube auch nicht, dass Thalheimer und Kriegenburg hier das gleiche Problem haben, auch wenn es im Moment vielleicht von außen so aussieht. Bei Thalheimer kommt das Problem vielleicht eher von innen und bei Kriegenburg eher von außen durch eine Art Zeitdruck, den der Betrieb aufbaut, und der ihm vielleicht immer weniger gestattet, seine individuellen Führungsqualitäten im Schauspiel so sinnvoll einzusetzen, wie es das Publikum verdient hätte. Weil Kriegenburgs Führungsqualitäten, soweit ich das beobachtet habe und zu sagen wage, auf einem gezielten Anfangsschweigen beruhen, das den Schauspielern gestattet wie abverlangt, sich eigenverantwortlich in einem Text zunächst ungehemmt auszubreiten, er hat hier Tugenden von Besson vielleicht aus meiner Sicht ins Extrem getrieben und der Betrieb mit seinen Organisationsstrukturen schneidet das zunehmend eher ab… Womit wir, Herr Schulz , auch bei Ihrem Mitleid für die jungen RegisseureInnen angelangt wären… Ich glaube nicht, A. Preitenegger, dass die Theater oder die älteren Regisseure Angst haben vor den jüngeren und ich glaube aber in jedem Fall, dass die jüngeren aus Mangel an praktischer Erfahrung (für den sie nicht unbedingt können) zu wenig Respekt haben vor einer langjährigen, dauerhaften, immer das Existenzielle berührenden (das meint durchaus nicht nur die ökonomische Existenz!) Auseinandersetzung mit dieser so schweren Theaterkunst, die sich für die Darstellung des Einfachen so lebensbestimmend anstrengen muss und die anders eben nicht zu haben ist. Was nicht unmenschlich, sondern Wesen der Kunst, jeder Kunst, ist. Da hilft keine Fluchtbewegung aus der Verantwortung, um sich diese Kunst etwas leichter zu reden oder zu machen. Geb ich das Ideal des Einfachen auf und begnüge mich mit dem Diffusen, Unklaren in der Darstellung, verlier ich das Publikum. Zu Recht. Geb ich das Ideal der existenziellen Selbstgefährdung auf, verlier ich die Bühne und die Schauspielkunst, geb ich das Ideal der historischen Genauigkeit im Fach – und das heißt Genauigkeit im Wahrnehmen der Fachgeschichte- auch der Arbeits-Geschichte der Älteren, Regie-Gurus, auf, dann bin ich eben (noch) kein/e Regisseur/In – selbst wenn das auf einem Hochschulzeugnis steht – Dagegen hilft kein Mitleid, sondern einzig und allein freundliche Übernahme aus sehr persönlichem, individuell unterschiedlich stark ausgeprägtem Verantwortungsgefühl… Und dann ist die Frage: Wer ist jung und wer ist alt? In meinem Alltag begegnen mir mitunter 20jährige Greise und 80jährige Mädchen, 11jährige, die alles für eine Mutter haben und 40jährige, die nicht einmal Verantwortung für einen Gang zum Zahnarzt übernehmen wollen, obwohl sie schmerzgeplagt sind und sogar Privatzahler sein könnten…
So so. Und die jüngeren Regisseure hätten also zu wenig Respekt vor den älteren, den Regie-Gurus? Irgendwann müssen eben auch die Gurus mal erkennen, dass sie, gemeinsam mit ihrer Kunst, alt geworden sind. Was Respekt natürlich nicht ausschließt. (...)
lauter kluge koepfe hier auf nk!
und wer von denen hat es ueberhaupt gesehen???
http://www.arte.tv/de/teenagermuetter/890568,CmC=890638.html