Black Intervention – Eine denkwürdige Zusammenkunft zur Kinderbuchdebatte am Berliner Ballhaus Naunynstraße
Pippi Langstrumpf im Herzen der Finsternis
21. Februar 2013. Das Berliner Ballhaus Naunynstraße lud zu einer Veranstaltung ein, in der Positionen der N-Wort-Debatte noch einmal zusammengefasst wurden. Auch wurde der Verstörung über Kälte und Ignoranz Ausdruck verliehen, mit der das deutsche Feuilleton sein Recht auf Rassismus verteidigt.
Von Esther Slevogt
Berlin, 21. Februar 2013. Es war der Abend des Tages, an dem der Tod Otfried Preußlers bekannt wurde, der am Montag gestorben ist: Otfried Preußler, der einer der wesentlichen Ermöglicher der sogenannten Kinderbuchdebatte war. Denn er hatte sich vom Brief eines Vaters berühren lassen, der von der Verstörung seiner siebenjährigen Tochter Timnit über das N-Wort in "Die kleine Hexe" berichtet hatte. Daraufhin hatte er der Entfernung aller rassistisch konnotierten Begriffe aus seinen Büchern zugestimmt.
"Black Intervention" hatte das Berliner Ballhaus Naunynstraße eine Veranstaltung überschrieben, in der wesentliche Positionen der Debatte noch einmal aufgearbeitet wurden. Auch wurde hier der Verstörung über die Ignoranz und Indolenz Ausdruck verliehen, mit der das deutsche Feuilleton so vehement sein Recht auf Rassismus verteidigt.
Wegweiser Otfried Preußler
Diese Haltung zeige, dass wesentliche Ideologen der "Leitkultur", die sich in den deutschen Feuilletons verbarrikadieren, nicht auf Augenhöhe diskutieren wollten, brachte Mekonnen Mesghena seine Einschätzung auf den Punkt. Im Berufsleben ist er Leiter eines Schlüsselreferats der Heinrich-Böll-Stiftung, und zwar der Abteilung "Migration und Diversity" – und im Privatleben der Vater der siebenjährigen Timnit, deren folgenreiche Erschütterung über den herabsetzenden Rassismus in der Sprache eines berühmten Kinderbuchs er an den publizierenden Verlag weitergeleitet hatte.
Mesghena wies in seinem Beitrag noch einmal darauf hin, dass Preußlers wegweisende Rolle in dieser ideologisch geführten Debatte komplett unterschlagen werde. Stattdessen inszeniere das Feuilleton diesen Vorgang als "Angriff auf das Weiß-Sein", vergleiche die Forderung nach Schutz vor rassistischem Vokabular mit Zensur und der nationalsozialistischen Bücherverbrennung. Doch wer das tue, ignoriere die Tatsache, dass diese Begriffe mit einer langen Geschichte der Entmenschlichung, Misshandlung und Ausbeutung verbunden seien. Mesghena erwies Otfried Preußler noch einmal ausdrücklich seine Reverenz: Dessen Einlenken verbinde ihn und seine Tochter für immer mit diesem Autor. Sein Tod mache traurig, das Zeichen, dass er kurz zuvor noch setzen konnte, jedoch froh.
Wider die hoffnungslos Vorgestrigen
Es war eine denkwürdige Veranstaltung, bei der schnell klar wurde: Die Debatte hat erst begonnen und wird die Kultur dieses Landes nachhaltig umkrempeln. Schon nach dreißig Minuten wirkten die, die da in den großen Feuilletons immer noch um Deutungshoheit ringen, hoffnungslos vorgestrig: Jene, die das N-Wort in den letzten Wochen provokant auf ihre Titelseiten setzten, ebenso wie der verblendete Literaturkritiker Denis Scheck, der sich nicht entblödete, im Fernsehen mit schwarz geschminktem Gesicht (also mit Blackfacing) das N-Wort in Kinderbüchern für schützenswert zu erklären.
Schon der enorme Andrang vor dem Theater machte deutlich, dass dieses Thema keineswegs nur ein Minderheitenthema ist, sondern die Gesellschaft längst damit begonnen hat, ihre Werte und Begriffe neu zu vehandeln. Höchstens die Hälfte aller Interessenten fand am Ende im überquellenden Zuschauerraum des Ballhauses Naunynstraße in Kreuzberg überhaupt Platz. Wer nicht hereinkam, konnte die Veranstaltung per Live-Stream im Internet verfolgen.
Ach, du armes männliches weißes Bildungsbürger-Ich!
Gekommen waren Autoren, Musiker und Performer, die jeweils Arbeiten zur Debatte präsentierten. Die Berliner Landschaftsarchitektin und Kolonialismusforscherin Noa Ha las einen ironisch-melancholischen Text, der die Argumente der aktuellen Debatte reflektierte. Dazwischen flocht sie Fetzen eines Selbstgespräches des gekränkten männlichen weißen deutschen Bildungsbürger-Ichs, das sich von den Folgen von Mesghenas "höflich argumentierendem Brief" nun so tief getroffen zeigt: Nicht nur, dass bereits die Blackfacing-Debatte vor einem Jahr seine bildungsbürgerliche Selbstverständlichkeiten zutiefst untergraben hätte. Nun solle der deutschen Identität auch noch ihre Kindheit genommen werden! Doch könne es nicht sein, fragte Noa Ha, dass dieses Land nicht erwachsen werden wolle?
Der Autor Philipp Khabo Koepsell, der sich bereits mit seiner Publikation "Die Akte James Knopf" zu Michael Endes Buch "Jim Knopf" in die Debatte einmischte, beeindruckte mit einer poetry-slamhaft vorgetragenen Fantasie über Pippi Langstrumpfs Vater Efraim, besser bekannt als König von Taka-Tuka-Land. Nicht nur, dass er dieses einst als antiautoritäres Vorzeigemodell verklärte Aussteigerleben als höchst zwiespältig, sozial auffällig, kolonialistisch und semikriminell dekonstruierte. Im Untergrund seines Textes funkelte dieser Pippi-Langstrumpf-Vater ziemlich finster als romantisierte Kinderbuch-Version des bösen Elfenbeinhändlers Kurtz, dem dunklen Zentrum von Joseph Conrads abgründiger, imperialismuskritischer Erzählung "Heart of Darkness" – bei Lindgren allerdings jeglichen kritischen Potenzials beraubt.
Beitrag zur Kinderbuchdebatte im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht hatte, stellte ihr neues Theaterprojekt vor. Sie hatte ein schmerzhaftes Bonmot im Gepäck: So oft, wie sie stets nach ihren Wurzeln gefragt werde, habe sie eines Tages das Gefühl beschlichen, sie müsse ein Baum sein, aber kein Mensch.
Die Regisseurin und Autorin Simone Dede Ayivi, die jüngst einen (auch auf nachtkritik.de) viel diskutiertenMangelndes Geschichtsbewusstsein
Der junge Politologe und Historiker Joshua Kwesi Aikins schließlich kam noch einmal auf den unsäglichen Blackfacing-Fernseh-Auftritt des Literaturkritikers Denis Scheck im Januar zu sprechen. Dieser Auftritt, so Kwesi Aikins, belege gerade jenes mangelnde Geschichtsbewusstsein, das die N-Wort-Schützer stets als Argument gegen seine Streichung ins Feld führten: Scheck sei in dieser so tief im rassistischen Denken verwurzelten Aufmachung ausgerechnet am 27. Januar im deutschen Fernsehen aufgetreten, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag. Damit habe er die Opfer des Nazi-Rassismus verhöhnt, unter denen auch Menschen gewesen seien, die auf Grund von nationalsozialistischen Verordnungen, die überquellen würden vom N-Wort, das Scheck so schützenswert finde, misshandelt, sterilisiert und ermordet wurden.
Dann folgte ein so lapidarer wie eindringlicher Vortrag über die 350-jährige rassistische Tradition nicht nur des N-Wortes selbst, sondern auch der Gesellschaft, die so sehr auf seine Weiterverwendung besteht: Vor 350 Jahren nämlich habe der brandenburgische Kurfürst mit dem Handel von versklavten Menschen aus Afrika begonnen. Zu diesem Zweck sei damals übrigens die erste Aktiengesellschaft der deutschen Wirtschaftsgeschichte gegründet worden: die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie. Sprachgeschichte als Wirtschaftsgeschichte? Fest steht, beide Systeme müssen neu verhandelt werden.
Alles über die Blackfacing-Debatte auf nachtkritik.de im Lexikon.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
neueste kommentare >
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
-
Hamlet, Wien Zumutung
-
Sachsens Kultur Ich wünsche ...
-
Leserkritik Vorhang Auf, Rendsburg
-
Nathan, Dresden Unterschätze nicht den Kasper!
-
Nathan, Dresden Verbaute Sicht
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
es scheint da doch noch abweichende meinungen vom korrektgeschalteten zeitgeist zu geben.
Was ich weiterhin als schwierig empfinde ist, dass die Argumentation auf der Begriffsopposition "weiss" vs. "schwarz" aufgebaut wird, anstatt dieses dualistische Denken zu dekonstruieren. Oder anders gefragt: Wird der Literaturkritiker Denis Scheck hier als Verallgemeinerung "des bösen Weissen" gegenüber Otfried Preußler als Verallgemeinerung "des guten Weissen" betrachtet? Und warum wird der Anti-Blackfacing-Diskurs eigentlich überhaupt immer gleich mit dieser unsäglichen Anti-Bildungsbürgerdebatte verschaltet? Heisst das, dass einer, der die Klassiker liebt, automatisch rassistisch sein muss? Stimmt denn das? Wittgenstein schrieb dazu: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache".
Ausserdem würde ich nochmal unterstreichen wollen, dass die Neu-Konstruktion von Geschichte nie objektiv sein kann, sondern auch in meinen Augen immer von denen ausgehen muss, welche immer wieder in ihren Rechten unterdrückt wurden und werden und so das Vergangene aus ihrer Perspektive palimpsestartig überschreiben müssen. Und dieser Begriff des Überschreibens trifft es vielleicht besser als der Begriff des Umschreibens, welcher zu sehr nach politischer Korrektheit oder absoluter Wahrheit klingen könnte. Aber wie wir ja alle wissen, kann Wahrheit immer nur perspektivisch sein bzw. zwischen Menschen hergestellt werden.
@ 8 Ja, Inga, auch das mit dem Palimpsest ist eine möglich Annährung an den Konflikt. Das menschliche Gedächtnis funktioniert ja auf eine ähnliche Weise. Wobei das Überschriebene als Kerbe, gleich einer überformten antiken Spur im Stein, die wieder oder neu zu interpretieren wäre, weiter existiert.
wie soll man anders als verblendet finden, wenn ein renommierter literaturkritiker vom hohen ross der leitkultur (das ihm aber offenbar noch nicht hoch genug war, weshalb er auch noch auf einen stuhl gestiegen ist in dieser unsäglichen sendung) - wenn er also von diesem hohen ross herab menschen beleidigt. und zwar im glauben, er verteidige kulturelle werte. wie soll man anders als verblendet finden, wenn dieser kritiker sich nicht nur vollkommen indolent gegenüber der kränkung zeigt, die bestimmtes vokabular bei damit bezeichneten (bezw. diskriminierten!) menschen verursacht, sondern den ausdruck seiner indolenz auch noch mit der verhöhnung dieser menschen verbindet: in dem er nämlich für seine verkündigung eben jene maskierung wählt, deren verletzungspotenzial durch verächtliches ignorieren ihres rassistischen hintergrundes ja zuvor bereits hinreichend beschrieben war. das blackfacing nämlich. dabei waren alle argumente gegen das n-wort in sehr höflicher form vorgetragen worden: in einem freundlichen schreiben nämlich, dessen inhalt otfried preußler auch gleich eingeleuchtet hat. ein anderer brief kam von einem neunjährigen mädchen, das seine kränkung über dieses sogenannte n-wort dem feuilleton der wochenzeitung "Die Zeit" erklärte. und dann steigt so ein vertreter unserer feinen hochkultur schwarz angemalt auf einen stuhl, um sein recht auf rassismus zu verteidigen!? im öffentlich-rechtlichen fernsehen? ich finde, "verblendet" ist hier noch ausgesprochen höflich formuliert.
freundliche grüsse
beleidigend, im Sinne von es leid sein, empfinde ich einzig Ihren offensichtlich didaktisch motivierten Beitrag.
Sie unterstellen dem Kritiker Scheck eine Verblendung, gleichzeitig sind Sie nicht imstande, die Reaktionen auf Ihre Sicht selbstkritisch zu hinterfragen. Sie verlangen von anderen etwas, was Sie selber in keiner Weise leisten. Sie schreiben von einem Nichtachten, von einem Verletzungspotential und nicht zuletzt von dem Missbrauch eines Mediums. Dass Sie in der Weise, wie Sie Ihre Meinung hier multiplizieren, nichts anderes tun, lässt die Aussicht zu, dass es mit Ihnen anstatt des etablierten Personals zu keinem mehr geeigneten Diskurs kommen könnte.
Die Veränderung, die Sie so vehement einfordern, nimmt ihren Anfang im Kleinen, sie muss bei Ihnen selbst erfolgen. Sich selber ändern können, das wünsche ich Ihnen und bin, mit besten Grüßen,
Ihre Melitta
es ist Ihnen aber schon klar, dass das, was Sie von Esther Slevogt hier einfordern, von Herrn Scheck eben nicht erfüllt wurde in der in Rede stehenden Sendung? Und nachtkritik.de im Internet mit dem deutschen Fernsehen auf eine Stufe zu stellen, was die Massenwirksamkeit betrifft, würde ich als kühn bezeichnen. Slevogt argumentiert. Scheck in schwarzer Maske mit weißen Handschuhe provozierte sehr bewusst und gezielt. Er zielte nicht auf weiße Menschen, sondern auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe, als hätten die sich Machtmissbrauch zuschulden kommen lassen, indem sie sich einmal nicht mit Gewalt, sondern in Diskussionen zur Wehr setzten. So kann Ihre Forderung genauso an Sie zurückgegeben werden: "Die Veränderung, die Sie so vehement einfordern, nimmt ihren Anfang im Kleinen, sie muss bei Ihnen selbst erfolgen. Sich selber ändern können, das wünsche ich Ihnen..."
wie jeder andere Kritiker auch, sollten Sie und Ihre Kollegen sich entscheiden, ob Sie einen Bericht schreiben wollen oder einen Kommentar verfassen. Eine Argumentation ergibt sich jedenfalls nicht aus einem Aufzählen von Befindlichkeiten. Ich bin überzeugt, dass zumindest ein Teil Ihrer Leser imstande ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dieses zu begreifen und auch zuzulassen, dürfte der Massenwirksamkeit Ihres Portales förderlich sein. Aus der Mühle des harten Kritikeralltags befreit, wird der ein oder andere von Ihnen dann vielleicht auch einmal eine eigene Fernsehsendung bekommen. Ich freue mich drauf. Ihre Melitta
jetzt haben Sie die Ebene aber gewechselt, oder? Ich halte die Frage "Bericht oder Kommentar. Entscheiden Sie sich bitte!" für nachrangig gegenüber den Forderungen, die Sie oben erhoben haben. Für Ihre Freude, falls die eine oder der andere nachtkritik-Redakteur einmal eine eigene Fernsehsendung bekommen sollte, bedanke ich mich, auch im Namen der KollegInnen.
Ihre geschlechtergerechte Schreibweise kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie auf den Inhalt meiner Schreiben nicht eingehen. Und genauso funktionieren Ihre so genannten Diskussionen. So viel Aufwand wird betrieben und so wenig kommt dabei heraus. Am wenigsten für die Unterdrückten und Vorgeführten, für die Sie hier so ostentativ eintreten. Wie es wird, so wird es jedenfalls nichts. Machen Sie es gut oder besser: machen Sie es besser.
Viel eher noch einmal etwas zum Anlaß und zur Wirkung (sehr subjektiv) der besprochenen Veranstaltung.
Es war äußerst erholsam und ermutigend, ein paar Stunden in der Gemeinschaft von Menschen zu verbringen, Reflektionen über das Thema Rassismus in Kunst und Literatur zu hören, ohne wiederholt beleidigt und diskriminiert zu werden.
Dafür meinen herzlichen Dank an Wagner Carvalho, Nora Haakh und alle anderen vom Ballhaus, an Noa Ha, Mekonnen Mesghena, Simone Dede Ayivi, Noah Sow, Philipp Khabo Koepsell, Joshua, Kwesi Aikins und Nadine Golly.
Denn wissen Sie ‚Stefan‘, das hier: „Man muss gegensätzliche Meinung anhören, zulassen und aushalten können.“ – Das gab es in den letzten Wochen wahrhaft genug!
Wiewohl ich so etwas nicht als ‚Meinung‘, eher als Häme und Angriff bezeichnen würde:
„Es gibt [aber auch] feigen vorauseilenden Gehorsam vor den Tollheiten einer auf die Kunst übergriffigen politischen Korrektheit.“ Denis Scheck
„Es ist die vorauseilende Entschuldigungsbereitschaft, die das politische Lektorat vom Ernsthaften ins Lächerliche führt.“ Jan Fleischhauer
"Sehr geehrter Herr Mesghena,
wie armselig Sie sind!
Ihrer albernen Initiative haben wir es also zu verdanken, dass der Thienemann Verlag sich als Zensor von Kinderbuchklassikern aufspielt.
Heinrich Böll würde sich im Grab umdrehen bei dem Mist, den Sie unter dem Deckmantel und Briefkopf seiner Stiftung veranstalten!
Zu nichts habe ich gerade mehr Lust, als ein Kinderbuch zu verfassen, in dem es von Negern, Eskimos, Türken, Zigeunern, Scheichs und Indianern nur so wimmelt, und alle essen Negerküsse oder Mohrenköpfe.
Danach hat dann bestimmt auch "das" Familienminister Schröder noch ein bißchen Anlaß zur Empörung und kann dann gemeinsam mit Ihnen beim Vorlesen erröten. Oh, Gott - Erröten! Das geht ja gar nicht! Und sich auch noch als Türke oder Indianer verkleiden, good gracious!
Warum kümmern Sie sich nicht lieber ein um die Literatur ihrer Heimat Äthiopiens statt um die des Landes, das Sie aufgenommen hat? Da können Sie doch bestimmt auch vielen mit ihrer lächerlichen political correctness auf die Nerven gehen?!
Mt aufmerksamen Grüßen,
Claus Cornelius Fischer
Schriftsteller"
(Dieser Brief wurde bereits veröffentlicht. Z.B. hier >> http://www.diaxsrake.de/language/de/2013/01/20/claus-cornelius-fischer-rassist/ oder auch hier >> http://stoptalk.wordpress.com/category/do-something-right-now/)
Sie schreiben "Scheck dreht den Spieß einfach um und läßt den europäischen Kunstvertreter als den eigentlich verfemten Neger auftreten". Offen gestanden, ich habe diesen Scheck-Beitrag seinerzeit nicht gesehen, aber er ist ja mediathek-technisch jederzeit kostenlos abrufbar (diskutiert jetzt irgendjemand darüber, daß dieses sich so verhält ?- es wundert mich schon, daß jetzt nicht auch hier Stimmen laut werden, die weiteren "Reproduktionsmöglichkeiten" entgegentreten, nun gut), und so habe auch ich dann diesen Beitrag gesehen. Ein wenig ratlos hinterläßt er letztlich auch mich, weil ich gerade die Ineinsschaltung des "Blackfacings" mit der Verwendung des Wortes "Neger" für immer noch ziemlich fragwürdig erachte, und bei der freiwilligen Zurücknahme von Begriffen durch zwei Verlage geht es ja nicht ums Blackfacing, und es geht eigentlich eben auch nicht um einen Kulturkampf, wenngleich der Auftritt des Briefschreibers im Rahmen einer Veranstaltung, bei der möglicherweise doch wieder Kulturkämpferisches mit von der Partie ist ("Bildungsbürger" in eindeutig negativer Konnotation ist nicht unbedingt völlig fraglos zu akzeptieren); leider trägt Schecks Auftreten dann noch fahrlässig dazu bei, daß das Konfusionspotential keineswegs reduziert wird, sondern eher angestachelt !
Dennoch habe ich, um auf Ihren Satz zurückzukommen, Denis Scheck jetzt keineswegs in der Rolle (!)des von Ihnen attestierten gedrehten Spießes gesehen, er hat meineserachtens keine Rolle gespielt, spricht für sich, wollte von Beginn an als Denis Scheck durchdringen und verstanden werden und in der Aufmachung für meine Begriffe ganz offensichtlich auf den fremden Kontext der "Minstrel"-Shows hinweisen.
Es ist ja nicht leicht, auf der einen Seite offenbar einen Baum eher als einen Menschen anzusprechen, wenn man nach den Wurzeln fragt, andererseits aber beständig auf eine Tradition hingewiesen zu werden, die offenbar umso kräftigere Wurzeln hat, die nun sogleich Wirkungsmacht auszuüben hat über das, was Menschen hierzulande bislang so miteinander angestellt haben. Doch diese Minstrel-Shows haben nun einmal ihre Wurzeln woanders, und dort, wo sie ihren Ursprung haben, ist man wohl zurecht dafür sensibilisiert worden. Das muß man nun nachträglich nicht als große Sensibilität des anglo-amerikanischen Raums würdigen, wenn nun auch hierzulande in globalisierten Verhältnissen "Farbigschmink"-Praxis, auch ganz und gar nicht grundlos, siehe Blackfacing-Debatte, zunehmend kritisch ins Visier gerät. Die Debatten ums Blackfacing zB. waren gewiß einflußreich genug,
nicht gleich wieder den weißen Bildungsbürger bemühen zu müssen, wenn man freundlich darauf hinweist, daß eine bestimmte Praxis als verletzend empfunden wird und Verletzungen sicherlich nicht weniger schwer wiegen, wenn die besagte Praxis gut und gerne vermeidbar gewesen wäre. Ich denke, um den Kontext "Minstrel"-Shows als etwas (Debatten-) Fremdes zu markieren, würde Denis Schecks Vorgehen sogar taugen, würde er nun auf die Vermengung verschiedener Debatten anhand des Beispieles zweier Verlage, würde er nun also auf den dahinterstehenden "Kulturkampf" abheben und diesbezüglich Roß und Reiter nennen, aber er handelt(e) da seinerseits nicht minder vorauseilend als er es anderen vorhielt und dafür dann wieder zu uneindeutig und verkürzt, und als Beitrag zum engeren Thema des Vorgehens der Verlage, kann ich nur denjenigen zustimmen, welche hier deutlich von der Vermeidbarkeit des Mittels, nennen wir es "Blackfacing" oder "Scheckschen-V-Effekt seiner selbst", künden. So in etwa ist das um Denis Scheck bei mir rumgekommen; das Gekläffe in den Kommentarspalten diverser Großblätter zeigt allerdings wirklich ein bedenkliches Bild meineserachtens, und insofern kann ich letztlich auch die Reaktionen der nachtkritik-Redakteure verstehen, wenngleich ich wie "gast" hier mehr Wertung als Beschreibung (und zudem Themenvermengung)
finde und die Wertung der "Verblendung" für falsch halte..
Ob man dem nun viel beimißt oder nicht, jedenfalls heißt es in einem weiteren Blog, in dem der von Ihnen zitierte Brief ebenfalls nachzulesen ist, daß es seitens Herrn Fischers mittlerweile ein Entschuldigungsschreiben ("zerknirscht" heißt die Wertung des Bloggers) an Herrn Mesghena gegeben hat.
Wissen Sie, dass das, was Frau Slevogt hier tut, nämlich sich und ihren Text den Kommentaren hier aussetzen und darüber hinaus auf Nachfragen antworten, mehr ist, als die allermeisten Feuilletonisten in dieser Debatte geleistet haben oder zu leisten bereit wären? Welcher Zeit-Autor antwortet schon auf die Kommentare unter seinen Texten auf zeit online? Ich kenne keinen. Wenn Sie einen kennen, belehren Sie mich eines Besseren. Aber schimpfen Sie nicht auf die, die sich Mühe geben, eine Diskussion zu stiften.
da haben Sie mich wohl irgendwie falsch verstanden. Ich hatte die Frage nach der Verblendung eher rhetorisch in den Raum gestellt. Danke, dass Sie dennoch geantwortet haben. Ich will mich zwar nicht nur an Denis Scheck abarbeiten, aber er hat sich mit seiner Aktion ja geradezu zum Bashing selbst angeboten. Und eigentlich sind wir, was Herrn Scheck betrifft, doch auch einer Meinung. Nur das ich zunächst versucht habe, hinter die Ursache der angeblichen Verblendung zu kommen. Ich kann mir nämlich die Verbissenheit, mit der hier um jedes Wort gekämpft wird, nicht wirklich erklären. Es hat mit Sicherheit mit dem deutschen Selbstverständnis zu tun, einer gebildeten, aufgeklärten Kulturnation anzugehören. Und daher zunächst einmal allem, was aus dem angloamerikanischen Raum kommt, wie auch die political correctness, skeptisch gegenüber steht. Man stellt die Meinungs- und künstlerische Freiheit über alles, weil man eben meint, aus der Geschichte gelernt zu haben. Die Ignoranz, andere Sichtweisen zuzulassen, ist besonders im Fall des sich sonst so eloquent und weltoffen gebenden Literaturkritikers Denis Scheck so verwunderlich. „Si tacuisses, philosophus mansisses.“ hat hier jemand in einem anderen Thread geschrieben. Das trifft nun wohl auch auf Scheck zu. Obwohl er sicher viele hinter sich weiß, die ihre Meinung aber nicht öffentlich kund tun, sondern eher in anonymer Form.
Sie, Frau Slevogt, erregen sich darüber das Scheck in seiner Höhe auch noch auf einen Stuhl steigt. Scheck will damit wohl eher die in seinen Augen nicht vorhandene Relevanz des Themas karikieren. Die Debatte um das „kleine Negerlein“ also, das erst auf einen Stuhl gehoben werden muss, um überhaupt in Diskurshöhe zu gelangen, die Scheck mit dem Druckfrisch-Band andeutet. Das hat schon einen sehr perfiden Witz und braucht einiges an Hybris. Wie sie richtig bemerken, schützt er aber auch das N-Wort in der Kunst gegen vermeintlich übergriffige PC-Aktivisten, die es ins Visier genommen haben. Warum das so ist, verschweigt Scheck bewusst. Einerseits das Herunterspielen der Debatte, andererseits übertriebene Verteidigungsrede mit Orwell und Shakespeare als Anwälte des hilfsbedürftigen „Negerleins“. Dass er sich dazu noch schwarz anmalt, soll, wie schon erwähnt, nur davon ablenken, dass er, außer Zensur zu rufen, nichts Neues zu sagen hat. Wie auch schon andere vor ihm. Dass die ARD-Redaktion ihm auch noch Schützenhilfe gibt, indem sie sich auf Peter Zadek und Shakespeares Othello beruft, zeigt deutlich, dass man sich auch in den öffentlich rechtlichen Redaktionsstuben noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Diese Persiflage auch nur in die Nähe von Zadek und Shakespeare zu rücken, ist vollkommen lächerlich.
worauf wollen sie eigentlich hinaus? die verlage haben sich entschieden, in zukunft rassistische, beleidigende,diskriminierende begriffe auszulassen. auch autor otfried preußler hat sich dafür entschieden. daraufhin haben aber weiße, restaurativ gesinnte bürger einen unsäglichen "shitstorm" losgetreten. wer soll sich hier also wem annähern? aufeinander zugehen kann doch nur bedeuten: progressive schritte weg von rassistischen bezeichnungen zu unterstützen. sollten es die menschen, die sich auch hier wieder blind aufregen, nicht begrüssen, endlich mal auf die koloniale geschichte ihres landes aufmerksam gemacht zu werden? vieviel wissen sie selbst eigentlich darüber? gab es dazu etwas in ihrem schulunterricht?
liebe inga: das dualistische denken lässt sich vielleicht irgendwann dann mal dekonstruieren, wenn zb nichtbetroffene weiße wie sigfried aufhören, die bekämpfung rassistischer sprache als "luxusproblem" zu bezeichnen. ohne eigene rassismuserfahrung kann man natürlich locker darüber hinwegreden.
es ist überraschend, wie weit die meisten kommentare hier hinter den sozialpolitischen status quo zurückfallen. "meinungen aushalten", das sind argumente von überraschender naivität. das N-wort ist keine meinung, sondern eine beleidigung. und beleidigungen sind justiziabel, so einfach ist das ganze. überhaupt ist es bemerkenswert, wie affektiert hier argumentiert wird, besonders diese extrem absurde ablenkung vom thema seitens melitta ist ja an durchschaubarkeit nicht zu überbieten. wie lässt sich E.S. klare argumentationslinie bitte mit der rassistischen showeinlage von D.S. vergleichen? also bitte: einfach mal über den eigenen schatten springen. schreibt ein weißer. schönen abend.
Brief Nr.2:
"Sehr geehrter Herr Meshgena,
wie ich dem anhängenden Schreiben entnehmen kann, haben Sie meine Mail an Sie auf Ihrer Facebook Seite veröffentlicht. Das freut mich, dann muß ich mich nicht selbst um die Verbreitung kümmern. Wie ich der Presse entehmen kann, hat das Einknicken des Thienemann-Verlages vor Ihrer befremdlichen Kritik zu einer empörten Massenreaktion gefüht, die der Verlag auch wirtschatlich spürt. Gut so. Ich bin also nicht allein.
Ansonsten unterliegt meines Wissens auch eine e-mail dem Briefgeheimnis und darf nur mit Einverständnis des Absenders öffentlich gemacht werden. Unabhängig von den erfreulichen Nebenwirkungen Ihrer Veröffentlichung werde ich meine Anwälte bitten, deswegen Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.
Hochachtungsvoll,
C. C. Fischer"
"Sehr geehrter Herr Meshgena,
nachdem Sie meine Mails auf Ihrer Facebook Seite veröffentlicht haben, habe ich eine ganze Reihe von Zuschriften bekommen, die mir Chauvinismus, Rassismus, Anmaßung, rechtes Gedankengut und noch einiges andere vorgeworfen haben – vor allem aber den Tonfall meiner Beschimpfung.
Es liegt wohl im Wesen der facebook-Kultur, daß nicht der Beschimpfte zurückschimpft, sondern andere sich berufen fühlen, für ihn zu schimpfen. Das ist so, damit muß man leben.
Daraufhin habe ich mir aber meine Mails noch einmal durchgelesen und bin selber ziemlich erschrocken. In Ton und Wortwahl bin ich weit über das Ziel hinausgeschossen und bitte dafür um Entschuldigung. Sie entscheiden, ob Sie diese Entschuldigung annehmen können.
Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht all das wirklich bin, was man mir vorwarf. Ich denke – und hoffe -, ich bin es nicht.
Als Salman Rushdie 1989 für „Die Satanischen Verse“ mit der Fatwah belegt wurde, habe ich mich mit anderen in Deutschland für das Erscheinen des Buches eingesetzt und als Mitherausgeber fungiert.
Mit „Die Wälder des Himmels“ habe ich im Jahr 1991 einen Roman über das Schicksal und die Verfolgung der Sinti und Roma in Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 60er Jahre hinein geschrieben.
In diesem Buch habe ich sie Zigeuner genannt, wie sie sich selbst genannt haben. Aufgrund des Buches wurde mir vom Verband der Sinti und Roma die Ehrenmitgliedschaft im Pen Club der Sinti angetragen, auf die ich verzichtet habe, weil mir nicht schien, daß ich sie verdiene.
Einen anderen Roman habe ich über den Vernichtungsfeldzug des Deutschen Kaiserreichs gegen die Herero geschrieben.
Ich muß Ihnen aber auch sagen, daß ich als Schriftsteller rot sehe, wenn versucht wird, Bücher wegen ihres Inhalts oder darin enthaltener Worte zu zensieren, weil sie diesem oder jenem nicht gefallen. Leider sehe ich dann nicht nur rot, es brennen auch sämtliche Sicherungen durch.
Wütend und empört, wie ich nach der Lektüre des ZEIT-Artikels über die Änderungen war, die der Thienemann Verlag aufgrund Ihrer Beschwerde vorgenommen hat, habe ich ‚zur Feder gegriffen’. Aber eins muß auch ganz klar sein: ich zumindest kann an dem Wort ‚Neger’ nichts Rassistisches finden und sehe keinerlei Notwendigkeit, es durch ‚Schornsteinfegerlein’ zu ersetzen. Das ist lächerlich.
Man wird nicht durch ein Wort oder Worte zum Rassisten. Zweifellos gibt es viel zuviel offenen und verdeckten Rassismus in unserer Gesellschaft, aber durch Kinderbücher ist der nicht hervorgerufen worden noch wird er durch sie sanktioniert.
Immerhin war es Martin Luther King, der in seiner berühmten I have a Dream-Rede nicht nur einmal das Wort ‚Negro’ benutzt hat. Ich finde nichts daran auszusetzen, daß man sich in einem Text ‚als Neger, Indianer oder Eskimo verkleidet’, egal wieviele von absurder political correctness durchdrungene Universitätsassistenten dann entsetzt aufschreien.
Der Umstand, daß Sie aus Eritrea stammen, hat mit der Heftigkeit meiner Mail nicht das geringste zu tun – der Adressat hätte genauso weißer Amerikaner, sonnengebräunter Deutscher oder grüner Marsmensch sein können.
Man hat mir auch vorgeworfen, ich sei so anmaßend, Ihnen verbieten zu wollen, Kritik an ‚Ihrem Gastland’ zu üben. Zweifellos steht das so in meiner Mail, und das liest sich verdächtig wie „Geh doch zurück...“ Die entsprechende Formulierung bedauere ich, da ich sie nicht so meine. Schlimm genug, daß ich sie trotzdem verwendet habe.
Jeder, ob hier geboren oder eingewandert, hat natürlich das Recht Kritik an dem zu üben, was ihn stört oder ihm gar unerträglich vorkommt.
Das heißt in meinen Augen allerdings nicht, daß deswegen Bücher geändert, zensiert oder verboten werden müssen. Man muß sie ja nicht lesen. Aber die Empörung, die dem genannten Verlag nun deutschlandweit entgegenschlägt, finde ich richtig. Es handelt sich um Kinderbuchklassiker, in denen man nicht einfach mal eben so herumpfuscht, weil Sie oder jemand anderer ‚Rassismus’ rufen.
Es wäre schön, wenn Sie versuchen könnten, Verständnis auch für meinen – und ja nicht nur meinen – Standpunkt aufzubringen. Wenn Sie ihn nicht entschuldigen können, bedauere ich das. Ich bedauere in jedem Fall noch einmal die Heftigkeit meiner Worte.
Hochachtungsvoll,
Claus Cornelius Fischer"
Ausserdem wollte ich mit meinem Vorschlag der Dekonstruktion der Begriffsopposition "weiss vs. schwarz" darauf hinaus, dass wir alle Weltbürger sind bzw. als Gattung Mensch unsere Wurzeln alle in Afrika haben:
"Begriffe wie ENTSTEHUNG oder HERKUNFT bezeichnen besser als URSPRUNG den eigentümlichen Gegenstand der Genealogie. Daher sind ihre Bedeutungen genau zu analysieren.
HERKUNFT ist Abstammung, ist auf lange Zeit zurückgehende Zugehörigkeit zu einem Stand - des Blutes, der Tradition, der Gleich-Mächtigen und der Gleich-Niedrigen. Die Analyse der HERKUNFT bezieht sich oft auf die Rasse oder den gesellschaftlichen Typ. Allerdings geht es nicht so sehr darum, bei einem Individuum, einem Gefühl oder einer Idee die Gattungsmerkmale, die sie anderen anzugleichen erlauben, aufzufinden und zu sagen: dieses ist griechisch oder jenes ist englisch; vielmehr sollten die subtilen individuellen und subindividuellen Spuren aufgedeckt werden, die sich in einem Individuum kreuzen können und ein schwer entwirrbares Netz bilden. Anstatt eine Ähnlichkeitsbeziehung herzustellen, legt ein solcher Ursprung alle verschiedenartigen Spuren auseinander: die Deutschen glauben sich am Gipfel der Komplexität, wenn sie sagen, daß sie zwei Seelen in ihrer Brust tragen; sie haben sich in der Zahl etwas getäuscht oder vielmehr: sie versuchen eben, so gut sie können, mit dem Rassengemisch, aus dem sie bestehen, fertig zu werden. [...] Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. Nichts gleicht hier der Entwicklung einer Spezies oder dem Geschick eines Volkes."
(Michel Foucault, "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: "Von der Subversion des Wissens")