Nachtrag zur Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft 2018 in Greifswald
Lebenselixier der Demokratie
von Lene Grösch
7. Februar 2018. "Wir haben es heute noch nicht mit der Zerstörung des sozialen Zusammenhangs zu tun, aber mit einem ungeheuren Potential dazu. Wenn diese Diagnose zutreffend ist, dann ist allerdings Widerstand nötig. Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen Überlebensgrundlagen, gegen den Extraktivismus, Widerstand aber auch gegen die Okkupation des Sozialen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit. Widerstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner selbst, leichthin zu sagen: 'Ist ja egal, es kommt doch auf mich nicht an.'"
Diese Worte stammen von dem Sozialpsychologen Harald Welzer, aus dem längst vergangenen Jahr 2013. Diese fünf Jahre haben mit brutaler Leichtigkeit das "noch" aufgefressen, sie haben kurzerhand den Konjunktiv eliminiert und die schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Unsere Welt sieht anders aus im Jahr 2018. Und selbst wenn schlaue Menschen diese Entwicklungen längst vorhergesehen haben, ist doch am entscheidendsten die Schlagzahl, das Tempo, die ungeheure Dynamik, mit der unverrückbare Gewissheiten in den letzten paar Jahren und Monaten und Wochen eine nach der anderen zu fallen schienen. Folgerichtig erschien da das Thema der diesjährigen Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft in Greifswald: "Dramaturgien des Widerstands. Internationale Positionen zu künstlerischer Freiheit und Unfreiheit".
Alarmiertes Bewusstsein und unabdingbare Solidarität
Widerstand. Ein großes Wort. Störrisch, selbstherrlich, ein bisschen anmaßend, auch ein bisschen heroisch. Ein seltsames Wort für Millenials, und für andere vielleicht auch. Was hatten wir denn bisher, außer Turbokapitalismuskritik und Entfremdung? Und plötzlich bestand akute und ernsthafte Gefahr, dass Marc Jongen den Vorsitz des Kulturausschusses des Deutschen Bundestags übernimmt und sich mit der Kampfansage in Stellung bringt, er würde "die Förderung politisch korrekter Projekte herunterfahren"? Zwar ist diese konkrete Gefahr inzwischen gebannt, unsere Gesellschaft scheint (noch) wehrhaft genug, um rechtpopulistischen Versuchen, demokratische Werte auszuhebeln, keinen Vorschub zu leisten. Dennoch bleibt das alarmierte Bewusstsein der angereisten Kulturschaffenden, neue und andere Kanäle finden zu müssen, um sich zur Wehr zu setzen gegen eine rechtspopulistische Perspektive auf Gesellschaft, die den allgemeinen Diskurs öffentlichkeitswirksam an sich zieht und zeitweise nach Belieben zu steuern scheint.
Paradoxerweise lässt der Blick in andere Länder die hiesige Situation weniger schlimm erscheinen als sie ist, denn dort haben die Wörter "Widerstand" und "Unfreiheit" endgültig einen brutal konkreten und elementaren Klang. Die rapide Zunahme von Zensur, Bedrohung und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Theaterkünstler*innen im Ausland innerhalb der letzten Jahre ist nicht hinnehmbar – und doch geschehen derartige Vorfälle täglich, selbst innerhalb Europas, selbst in deutschen Nachbarländern. Widerstand meint damit auch eine Kategorie der unabdingbaren Solidarität: Die Frage darf nicht lauten, ob, sondern wie sich deutsche Theatermacher*innen sinnvoll solidarisch verhalten können.
Internationaler Input zur (Selbst-)Reflexion
Die Referent*innen der dg-Jahrestagung 2018 sind, ganz in diesem Sinne, international wie nie, sie kommen unter anderem aus der Türkei, aus der Ukraine, aus Russland und aus Polen. Und der Tagungseinstieg gestaltet sich nach ersten Impulsen von Maxi Obexer und Elżbieta Matynia, Professorin für Soziologie und Liberal Studies sowie Direktorin des Transregional Center for Democratic Studies an der New School, New York, schnell sehr konkret und pragmatisch. Das ist angesichts von 200 anwesenden theorieaffinen Dramaturg*innen durchaus bemerkenswert und unterstreicht die Dringlichkeit der Auseinandersetzung.
"Arts under Attack" ist die Podiumsdiskussion übertitelt, bei der zum einen die Initiative "Artists at Risk" des Deutschen Bühnenvereins, des Goethe-Instituts und des Instituts für Auslandsbeziehungen ifa vorgestellt wird, um konkrete Handlungsspielräume für deutsche Theaterschaffende aufzuzeigen; bei der zum anderen aber auch im Schulterschluss mit den internationalen NGOs "Reporter ohne Grenzen" und "Freemuse" danach gefragt wird, was wir lernen können, um uns für die Rechte bedrohter Künstler*innen einzusetzen. Als unmittelbares und erstes Resultat der Tagung wird die Gründung einer Vereinigung für bedrohte Berufskolleg*innen in von Zensur betroffenen Ländern nach dem Beispiel von "Freemuse" angeregt.
Damit es aber nicht nur beim notwendigen "talking" bleibt, sondern auch das "doing" folgen kann, hat der dg-Vorstand eigens ein neues und mehrstündiges Begegnungsformat mit dem stolzen Namen "Agora" entwickelt – und rund zwanzig internationale Künstler*innen eingeladen, mit den Anwesenden über Arbeitsbedingungen, (strukturelle) Zensur und Wege des künstlerischen Widerstands zu diskutieren: eine nicht zu unterschätzende Gelegenheit für alle Dramaturg*innen, deren Arbeiten im Alltag nicht sowieso schon international ausgerichtet ist.
Dabei geht es nicht nur darum, potentielle Theaterpartner*innen für zukünftige Kooperationen kennenzulernen, sondern zugleich auch die (gut gemeinten) Zuschreibungen deutscher Theater zu hinterfragen. Es ist ein Armutszeugnis, wenn eines der profiliertesten Theater in Deutschland einer Dramaturgin, die seit acht Jahren nicht mehr in ihrem Heimatland war, zwar eine feste Stelle anbietet, diese Stelle aber gleichzeitig auf den Schwerpunkt "Migrationsprojekte" festschreibt. Es ist bewundernswert, dass eben jene Dramaturgin diese Stelle abgelehnt hat – und es ist auch ein kleines bisschen beruhigend, dass sie dann doch ein Haus gefunden hat, das derartige Reduzierungen nicht nötig hat. Dennoch zeigt dieses kleine Beispiel, wie wenig wir (immer noch) den Umgang miteinander reflektieren, und stellt die Frage, ob wir im Diskurs schon weit genug sind, das klassische Opfer/Täter/Retter-Paradigma zu überwinden.
Das aus der Agora unter der Obhut von Maxi Obexer entstandene polyphone "Greifswalder Manifest" verzichtet auf jeglichen Agitprop. Es versammelt Meinungen, Thesen, Grundüberzeugungen, die an den einzelnen Tischen dokumentiert wurden. Es ist nicht laut, weil Widerstand nicht schreien muss, auch wenn der Impuls schnell zur Hand ist. Es ist sehnsuchtsvoll, weil wir den Optimismus nicht verlieren dürfen. Es spricht in Bildern, weil wir den sensiblen Umgang mit Sprache mehr denn je brauchen. Es insistiert, ohne zu moralisieren.
Plasmatisch denken: Wir brauchen einen langen Atem
Zum Programm einer dg-Tagung gehört traditionell auch der fachfremde Input mit Institutionen vor Ort. Dabei geht es nicht nur im Sinne der reinen Wissensakkumulation darum, über den eigenen theatralen Tellerrand zu schauen, sondern auch darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie Theater aus einer Außenperspektive – gerade von kulturfernen Einrichtungen – betrachtet wird.
Am Samstagabend in Greifswald deshalb ein kleiner, völlig fachfremder Exkurs über Plasmaphysik. Wendelstein 7-X heißt die weltweit größte und modernste Fusionsforschungsanlage ihrer Bauart, seit 2015 in Betrieb im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik. Der selbstredend ungeheuer kluge, aber auch performativ hochbegabte Institutsleiter erklärt 40 Geisteswissenschaftler*innen in 120 hochspannenden Minuten nicht nur die Grundvision eines Fusionskraftwerks, sondern benennt zwecks Anschaulichkeit eines hochkomplexen Stellerators auch beiläufig seine persönliche Vorstellung von Dramaturgie: Die tonnenschweren Magnetspulen, die das erhitzte Plasma im Inneren einschließen, seien nichts anderes als das Rückgrat der Versuchsanordnung – genau wie die Dramaturgie innerhalb eines Theaters.
Was daran interessant für Theater ist? Der deutsche Staat investiert Milliarden in eine Technologie, die im besten aller Fälle ab 2050 die Energieversorgung revolutionieren könnte. Der Output ist ungewiss, trotzdem überzeugt eine nachhaltige Idee. Internationales Arbeiten ist in diesem Wissenschaftsbereich nicht nur eine hinreichende, sondern eine notwendige Bedingung. Und die Forschungsergebnisse sind der Welt frei zugänglich.
Vielleicht sollten wir also ein bisschen plasmatischer denken im Theater. Wir brauchen einen langen Atem. Wir müssen den Kern unseres Miteinanders schützen. Wir brauchen eine Moral des Widerstands, überall dort, wo sich demokratische Selbstverständlichkeiten von Normen in unserer Gesellschaft auflösen. Wir müssen widerstehen, und wir müssen an uns glauben. Ganz wissenschaftlich.
Lene Grösch ist Schauspieldramaturgin am Theater und Orchester Heidelberg und dort verantwortlich für Internationale Kontakte. 2010 initiierte sie die Arbeitsgruppe "dg:möglichmacher" der Dramaturgischen Gesellschaft, die auf praxisorientierter Netzwerkarbeit junger Dramaturg*innen basiert. Gemeinsam mit dem Heidelberger Intendanten Holger Schultze leitet Lene Grösch seit 2017 das iberoamerikanische Festival ¡Adelante!.
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