Orfeo - Bei der Ruhrtriennale lassen Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ihre Zuschauer durch die Kleinbürgerhölle gehen
Aug' in Aug' mit den Zombies
von Wolfgang Behrens
Essen, 20. August 2015. Es war einmal: Christoph Schlingensief. Der inszenierte – viele Jahre ist's her – Wagners "Parsifal", auf einer Drehbühne, die war so wimmelig und prall gefüllt, dass es eine Lust zu schauen war. Aber, ach!, der Schlingensief war in das Haus einer bösen Familie in Bayreuth geraten, die wollte, dass alles mit rechten Dingen zuginge, und da musste es auch eine Personenregie geben. Und so hampelten damals ein paar Sänger durch die prächtige Bühneninstallation und taten, was sie immer taten: Sie spielten Oper. Ins Herz des Zuschauers aber pflanzten sie die Sehnsucht, diesen "Parsifal" einmal nicht aus der Guckkastenperspektive zu betrachten, sondern ihn zu begehen. Sich durch die Bühnenwelt des Schlingensief zu bewegen, sie als Parcours zu erleben anstatt als Opernkulisse (und tatsächlich hat Schlingensief später Ähnliches mit seinem Animatographen "Odins Parsipark" versucht).
2015 aber schlägt die Stunde des Zuschauers von damals: Sein Wunsch – die begehbare Oper – scheint in Erfüllung zu gehen. Denn die Ruhrtriennale hat einen "Orfeo" angekündigt, Monteverdis Oper vor allen Opern, als Parcours inszeniert von der Regisseurin Susanne Kennedy und den Performerinnen Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot in der ehemaligen Mischanlage der Kokerei Zollverein (dazu die Info des Festivals: "In der Mischanlage wurden die unterschiedlichen Kohlequalitäten zu einer optimalen Mischung für die Verkokung vermengt"). Wie wird das werden?
Parcours entlang schockgefrorener Bilder
Um es vorwegzunehmen: Die Sehnsucht wird weiter brennen. Denn was man in Essen erlebt, ist keine begehbare Oper, sondern eine begehbare Susanne Kennedy-Aufführung. Wer ihre Inszenierungen von Fegefeuer in Ingolstadt oder Warum läuft Herr R. Amok? gesehen hat, findet sich nun in ebenjene Welten versetzt – in die Hölle schockgefrorener Bilder, bevölkert von zombieartigen Figuren mit Kunststoffmasken, eng geschnittener Biederkleidung und blonden Perücken. Man sieht sie diesmal nicht aus dem Zuschauerraum, sondern steht diesen gespenstisch stillen Wesen gegenüber, Aug' in Aug', begleitet nur von sieben weiteren Zuschauer*innen, die zugleich mit einem auf den Rundgang geschickt werden.
Susanne Kennedy setzt Eurydike auf die Couch – das ist doch die Hölle! © JU / Ruhrtriennale 2015
Natürlich sind diese Räume eindrücklich. Schon der Grundraum, die Mischanlage mit ihren schrundigen Wänden und riesigen Trichtern, ist gigantisch. Katrin Bombe hat eine Zimmerflucht aus alptraumatisch sterilen Interieurs in ihn hineingebaut. Die blonden Zombie-Eurydikes, die hier residieren, sitzen auf scheußlichen Ledersofas oder an Tischen, auf die sie filigrane Muster aus Kirschkernen und -stengeln legen. Sie schauen stumpf auf Monitore, die leicht variierte, ebenso sterile Interieurs zeigen oder vergrößerte Details. Sie bewegen sich langsam, wie unerlöste Avatare. Akkurat platziert, finden sich in den Räumen Versatzstücke (klein-)bürgerlichen Wohnens: die Gießkanne, die Zimmerpalme, der Zimmerspringbrunnen, der künstliche Kamin. Auf einem gläsernen Beistelltischchen liegt wie vergessen ein schnurloses Gigaset-Telefon herum: "25 Anrufe in Abwesenheit verpasst". Plötzlich klingelt das Telefon mit einer leblosen Tschaikowsky-Melodie. Niemand geht dran. Jetzt sind es 26 verpasste Anrufe.
Warten wie beim Zahnarzt
Diese Eurydikes sind offenbar in einer Vorhölle hängengeblieben, sie rotieren in einem leergefegten Leben, dem eine keimfreie, nur noch simulierte Fassade als Kulisse dient: Die Ziegelwand, vor der ein Zombie-Streichquartett zeitlupenhafte d-Moll-Klänge intoniert, ist dann tatsächlich auch nur eine Trompe-l'œil-Tapete, aus der Nähe sieht man sogar die einzelnen Pixel. Vier solcher Räume, in denen man jeweils exakt zehn Minuten verweilt, durchläuft man, ehe man ein Wartezimmer betritt. Während man, wie schon seit Beginn des Parcours, versprengten Klängen der vom Solistenensemble Kaleidoskop gespielten Monteverdi-Musik lauscht – hier ein Ritornell, da ein paar Unterwelt-Echos, dort eine digitale Verfremdung –, wartet man darauf, für ein Minütchen eine Audienz bei Orpheus zu erhalten, der hinter einer Tür im antiseptisch weißen Raum mit einsam deplatzierter Schnittlauch-Dekoration vor sich hin klagt. In meinem Fall dauert es 35 Minuten, bis ich vorgelassen werde. Die Wartezeit, das darf ich verraten, habe ich als exakt so aufregend wahrgenommen wie diejenige beim Zahnarzt vor der Routineuntersuchung: Eigentlich schätzt man die ganze Zeit nur ab, wann man endlich drankommen wird.
Durch ein Sterbezimmer, in dem man sich ausnahmsweise nach eigener Zeiteinteilung aufhalten darf, entschwindet man schließlich in – ja, wohin? In den Tod? Die Freiheit? Das neue Leben? Erst am Ausgang erhält man die Gelegenheit, ein Programmheft zu erwerben. Vielleicht liest man jetzt den Untertitel der Veranstaltung: "Eine Sterbeübung." Oder man liest, wie sich die Künstler*innen auf ausführliche Weise selbst auslegen. Das Nervige daran ist, dass sich nahezu nichts von der Selbstexegese (tibetisches Totenbuch, Klaus Theweleit, Elfriede Jelinek etc.) in der Kunst- und Sterbeübung eingelöst hat. Ja, Susanne Kennedy hat mit ihren Mitstreiterinnen wieder einmal eine faszinierende, durch optische und akustische Vexierspiele auch durchaus irritierende Oberfläche geschaffen. Und ihr Theater, das schon längst eine Schlagseite zum Installativen aufwies, ist nun zur Installation geworden. Aber hinter den starken Bildern dieser Oberfläche lugt – bei allem konzeptuellen Rechtfertigungsaufwand – im Grunde eine recht schmale Pointe hervor: dass das (klein-)bürgerliche Zimmer mit Gießkanne und Palme die Hölle ist.
Orfeo. Eine Sterbeübung
nach Claudio Monteverdi
Uraufführung
Regie: Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt, Bianca van der Schoot, Musikalische Konzeption und Leitung: Tilman Kanitz, Michael Rauter, Bühne: Katrin Bombe, Kostüm: Lotte Goos, Dramaturgie: Marit Grimstad Eggen, Jeroen Versteele, Licht: Jürgen Kolb, Video: Rodrik Biersteker, Sounddesign: Ole Brolin, Musikalische Mitarbeit: Harpo 't Hart.
Mit: Hubert Wild, Suzan Boogaerdt, Indra Cauwels, Marie Groothof, Floor van Leeuwen, Bianca van der Schoot, Anna Maria Sturm, Solistenensemble Kaleidoskop.
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des Solistenensemble Kaleidoskop. Koproduziert von Berliner Festspiele und Toneelgroep Oostpool.
Dauer: individuelle Einlasszeiten, individuelle Aufenthaltsdauer, ca. 1 Stunden 30 Minuten.
www.ruhrtriennale.de
Die Nachtkritik zur Ruhrtriennale-Eröffnung Accattone, inszeniert vom Chef Johan Simons.
Die 1977 geborene Susanne Kennedy war bereits zwei Mal (2014 und 2015) zum Berliner Theatertreffen eingeladen, ist Trägerin des 3sat-Theaterpreises und wird auch Mitglied im Team des designierten Volksbühnen-Chefs Chris Dercon sein.
Ähnlich perfekt durchgestylte und doch ganz anders geartete Höllen-Parcours gestaltet das Performance-Kollektiv Signa für sein Publikum, zum Beispiel Die Hades-Fraktur (Schauspiel Köln, 2009) oder Club Inferno (Volksbühne Berlin, 2013).
Das Projekt "klingt hochgemut, ist aber langweilig“, befindet Wolfram Goertz in der Rheinischen Post (online 21.8.2015). "Wir streifen durch Räume, in denen wir jeweils etwa zehn Minuten verweilen, ohne dass Relevantes passiert. Überall sterbensblasse Puppenfrauen. Einmal essen sie Kirschen, zwei Zimmer weiter spielen sie Streichquartett auf weißen Instrumenten." Und von Orpheus wird vermeldet, dass er "die wenigen Töne Monteverdis nicht mal sauber trifft; diese Gummimasken sind aber auch die Hölle".
Über ein "Event, in dem man sich vorübergehend in eine andere Welt versetzt fühlen kann", berichtet Pedro Obiera auf dem Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (20.8.2015). "Da allerdings die meiste Zeit in den banalen Wohnkammern verbracht wird, kommt die Wucht der architektonischen Kulisse der Mischanlage zu wenig zur Geltung."
Als "kleinmütig" empfindet Andreas Rossmann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.8.2015) Susanne Kennedys Umgang mit dem Raum wie mit der Musik von Monteverdi. "Akustisch kommt die Musik zu kurz – zersplittert, abgedrängt und entkernt, bleiben von ihr nur Fragmente. So erscheint diese Opern-Installation als Kopfgeburt, ausgedacht und abseitig, die pastellfarbenen Angsträume haben etwas Steriles, fast allzu Nettes!"
Eine feministische Lesart gewinnt Markus Schwering dieser ""Dekonstruktion des Orpheus-Mythos" in der Frankfurter Rundschau (22.8.2015) ab. Eurydike, die Kennedy ins Zentrum rücke, folge hier Orpheus nicht mehr. "Das Tun des thrakischen Sängers wird zum Nicht-loslassen-Können, das die Partnerin zu einer qualvollen Zwischenexistenz verdammt. Damit verfehlt er in männlichem Allmachtswahn, so Kennedy, das 'Wichtigste im Leben: zu akzeptieren, dass alles endlich ist'". Allerdings stellt sich die behauptete Soghaftigkeit der Inszenierung für den Kritiker nicht ein: "Wer nach dem Parcours das Programmheft liest, ist erstaunt darüber, was er alles erlebt haben soll. Der Weg vom Konzept zur Bühne, vom Gedanken zum Bild ist hier ziemlich weit, da geht einiges in den Winkeln und Schächten der Kokerei verloren."
"Ein bisschen Zeigefinger-Didaktik ist mit im Spiel, durch eine Art Schnellkurs in buddhistischer Lebensweise scheucht einen Susanne Kennedy"; aber es gelinge ihr dabei auch, das Publikum "zu hypnotisieren", berichtet Maja Ellmenreich auf Deutschlandfunk (21.8.2015). "Eine Mischung aus Grusel, Neugier und Verstörung packt den Unterwelt-Touristen, der – nur von akustischen Signalen gelenkt – durch die spießbürgerlichen Plastikzimmer wandelt. Es wird größtmögliche Verunsicherung erzeugt durch minimale Verschiebungen und Verzerrungen – in den körperlichen und musikalischen Bewegungen."
Auf Deutschlandradio Kultur (20.8.2015) berichtet Ulrike Gondorf über einen packenden Auftakt in der Wagonfahrt und ein packendes Finale mit Bariton Hubert Wild als Orpheus. Aber für den Rest des Parcours der vielen Eurydikes gilt: "Das Problem ist: man erlebt nichts in diesem Theater. Nichts außer der Unbehaglichkeit, angestarrt zu werden, und der Verlegenheit der übrigen sieben Unterweltgäste in einer Besuchergruppe, und das, worüber man nachdenkt, sind absurde Banalitäten: wie kriegen die Performerinnen diese Masken übers Gesicht, können sie ihre wulstigen Lippen öffnen und die Kirschkerne, auf der sie in einer Sequenz herumbeißen, auch wieder ausspucken? Je mehr Zimmer man durchquert, umso distanzierter wird man."
Auf welt.de (22.8.2015) schreibt Stefan Keim: Senationell sei der Spielort, die Mischanlage in der Essener Zeche Zollverein. Der Rundgang beginne mit der Fahrt in einer Grubenbahn, doch habe dies mit der Aufführung nichts zu tun. Dieser "Orfeo" sei eine Tourneeinstallation, die "Playmobil-Unterwelt lässt sich in jeder größeren Halle aufbauen, der Reiz des Ortes wird komplett ignoriert".
Alles spiele sich in "Megazeitlupe" ab, gegen die eine Robert-Wilson-Inszenierung wie ein Schnelldurchlauf wirke. "Ein Zuschauer stellt sich vor die vier Puppenblondinen, spielt den Dirigenten und gibt einen Einsatz. Sie starren weiter und machen nichts... Käse im Backofen beim Zerlaufen zuzusehen ist spannender". Kennedys Theater sei "radikale Konzeptkunst". Man könne gut drüber reden, es anzuschauen, sei "eine Folter".- "Schwerblütiges, überambitioniertes Intellektuellentheater".
Eine Installation, die "allenfalls eine irritierende Selbstbegegnung ist, aber keineswegs eine Transzendenzerfahrung" hat Regine Müller für die taz (24.8.2015) besucht. Die "Räume, die Katrin Bombe in die Mischanlage gebaut hat, nehmen die schrundige Architektur gar nicht zur Kenntnis. Denn die klaustrophobischen Zimmerchen, die in fiesen Pastellfarben mit Plastikmöbeln ausgestattet sind, könnten so überall installiert werden."
"Man erlebt hier den 'Orfeo' nicht als die erste erhaltene Oper der Musikgeschichte, sondern als Soundtrack eines beklemmenden, todtraurigen Gangs durch die eigene Psyche", schreibt ein begeisterter Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.8.2015). Oft könne man "die oft ratlosen Mitzuschauer betrachten, und erst wenn man ganz am Ende allein dem singenden, auch maskierten Orfeo gegenübersteht, weiß man, dass jedes intellektuelle Verstehen dieser Produktion Mumpitz ist. Dieses Teil wirkt viel tiefer."
Im Anschluss an die Uraufführung auf der Ruhrtriennale gastierte diese Produktion in Berlin im Martin Gropius Bau. Die Berliner Kritik ist enttäuscht:
Kennedys "Ansatz dieses Performance-Projektes, die Oper Monteverdis mit ihren klaren, doch kunstvoll verzierten Melodien zu zersplittern und so der Zerrissenheit unserer Zeit anzupassen", sei "durchaus spannend", findet Barbara Wiegand vom Inforadio des rbb (19.9.2015). Aber Kennedy tauche zu wenig in die Orpheus-Geschichte ein. "Ihr Ausflug in die Unterwelt bleibt letztlich oberflächlich, wirkt künstlich konstruiert, voller Klischees und simpler Symbolik. Das, was so schwer greifbar ist, das Leben, das Abschied nehmen, sterben, das will sie uns allzu plakativ vor Augen führen."
"Im Lauf der 80 "Orfeo“-Minuten entwickelt man eine geradezu entsetzliche Sehnsucht nach Tönen, nach Gesang, man verzehrt sich danach, wie Orpheus nach seiner Eurydike", schreibt Christian Peitz im Tagesspiegel (20.9.2015). Der Bariton Hubert Wild, der im Finale des Parcours mit einer Orpheus-Darbietung aufwartet, sei keine "überwältigende Stimme, die Intonation schwankt, irgendwie enttäuschend. Aber tausendmal besser als diese Selbsterfahrungsstille."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 09. Juni 2023 Chemnitz verlängert Spartenleiter:innen-Verträge
- 08. Juni 2023 Wien: Theater Drachengasse vergibt Nachwuchspreis
- 07. Juni 2023 Stadt Wien erhöht Etat 2023 für Kultur und Wissenschaft
- 07. Juni 2023 Max-Reinhardt-Seminar Wien: Maria Happel tritt zurück
- 06. Juni 2023 Thüringen: Residenzprogramm für Freie Darstellende Künste
- 05. Juni 2023 Stralsund: Lesbisches Paar des Theaters verwiesen
- 05. Juni 2023 Tarifeinigung für NV Bühne-Beschäftigte
Die Frage scheint mir hier eher: Wann wird das zeitgenössische Theater endlich wieder damit aufhören, Oberflächen zu inszenieren, hinter denen sich nur die eigene Ödnis verbirgt. Bei Susanne Kennedy hat sich das jetzt auch tatsächlich totgelaufen. Und so wie ich das lese, bauen die Macherinnen hinter der schönen Fassade ja selbst erst das verstaubte Bücherregal auf. Ist das jetzt eine neue Form der Ironie? Ich zeige zombiehafte, geklonte Wesen in gecleanten Räumen vor Tapetenwänden. Dazu spiele ich eine elektronisch verfremdete Version von Monteverdis Orfeo und treibe das Publikum durch diese künstliche Welt und behaupte das Leben wäre schon die Hölle, Wiedergeburt inbegriffen. Von welchem Leben ist die Rede? Wen soll das überraschen? Oder, was soll das beim Zuschauer auslösen? Nach der feministischen Infragestellung des Mythos vom Liebestodpaar (Jelinek) oder der Beziehung von Künstler und Künstlerfrau (Theweleit) jetzt also die postfeministische Totaldekonstruktion in digitale Zombies. Halb Mensch, halb Maschine. Das Geschlecht, die Identität ist bloße Maske. Erkenne, dass alles nur eine Illusion ist. Projektionen des eigenen Geistes. Oder auch Suggestionen oder eingeübte Verhaltensmuster, die Leid und Unzufriedenheit erzeugen. Damit sind wir dann beim „tibetischen“ Totenbuch. Ziel ist es, sich das schon zu Lebzeiten vor Augen zu führen. Dazu muss ich aber nicht 90 Minuten durch die sechs Zimmer einer leblosen Installation latschen. Das wirkt auf mich etwas überkonstruiert und lenkt auch nur von der eigentlichen Erkenntnis ab, dass aus Leid nicht immer Kunst entsteht, sondern dass das Leid, das man aus einem bestimmten Grund empfindet, erkannt wird und man den Leidenskreis überwindet. Damit könnte sich Frau Kennedy dann ja demnächst an der Volksbühne beschäftigen.
Kann man sich auf Kennedy an der Volksbühne freuen?
Ich lese da lieber die Karamasows und freue mich.
Dann doch lieber die Karamasows.
Mal abgesehen davon, dass ich es keine besonders kreative Idee finde, einen Sterbeprozess und das Jenseits als einen spießigen Raum der Langeweile zu interpretieren...
"Ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens kann der Gedanke der Utopie nicht gedacht werden." sagt Adorno. Pollesch hat diesen Gedanken aus einer Diskussion von Bloch und Adorno in einem Stück an der Volksbühne verwendet. Adorno und Pollesch beschäftigen sich mit der Frage, warum die alltäglichen Wunschträume nicht in gesellschaftsverändernde Forderungen münden. Adornos Antwort: „... das kommt davon, daß die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, daß sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen und daß sie also, um mit Freud zu reden, sich „mit dem Angreifer identifizieren“ und daß sie sagen, daß das nicht sein soll, von dem sie fühlen, daß es gerade ja sein sollte.“ Da ist er also der Alf auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Kennedy bereitet die Menschen, so sie geistig nicht schon lange tot sind, oder von den Verhältnissen physisch vernichtet worden sind auf den Tod vor. Darauf, dass man alles akzeptieren soll, wie es ist. Buddhistisches Einübung ins Dulden. Das ist der Alf, der auf dem Rosa-Luxemburg-Platz landen wird. Regt Euch nicht auf! Sterbt!
Ich war jedenfalls lang nicht mehr so enttäuscht und zugleich aufgeregt um die kuratorischen Dramturgenschreiber drumrum.
Ist das die eigentliche Kunst?
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/09/20/warten-auf-orpheus/