Germans are different - In Leipzig kreuzt Matthias Matschke einen Kantinen-Witz mit dem Milgram-Experiment
Her mit der Reißleine!
von Christian Rakow
Leipzig, 16. April 2016. So schön, einen Abend mit einem Lächeln zu beginnen. Besonders, wenn man dazu von Hubert Wild aufgefordert wird. Der Bariton ist seit seinen Auftritten bei Herbert Fritsch der singende klingende Gemütsaufheller par excellence (man denke nur an seinen Flohwalzer auf dem Minihocker in "Frau Luna" an der Berliner Volksbühne; wer da nicht wie eine chinesische Grüßekatze grinst...). "Singen beginnt mit einem Lächeln", sagt Wild. "Mit grundlosem Lächeln." Let’s do it. Und also Mundwinkel hoch, Backen breit, Stimmbänder schwingen lassen!
Großwesir
Leicht abseits hinter Wild, der an diesem Abend für rund 100 Zuschauer den Animateur oder – in den Worten des Stücks – den "systemischen Musiktherapeuten" gibt, sitzt jemand der im Reich des Lächelns einer der Großwesire ist: Matthias Matschke. Ja, der Matthias Matschke, der sich in zig Volksbühnen-Klassikern von Frank Castorf und Christoph Marthaler in unserer Herzen gespielt und gewitzelt hat. Populärere Gemüter kennen ihn u.a. aus der "Heute Show" auf ZDF.
"Finde Deinen Ton"
Matschke sitzt wie wir alle auf weißen Kartons auf einer weiß abgeklebten Spielfläche auf der Leipziger Hinterbühne. Er bleibt sitzen, er muss nicht mehr ran, sein Job ist getan. Matschke zeichnet als Regisseur verantwortlich für diese Stückentwicklung namens "Germans are different". In loser Folge hat er einige Chorübungen arrangiert: mit den Gästen Marie Goyette als Keyboarderin und Hubert Wild als Ice-Breaker, der mit uns Johann Sebastian Bach anstimmt ("300 Meter von der Thomaskirche entfernt, yeah"); mit Tilo Krügel und Runa Pernoda Schaefer aus dem Leipziger Ensemble, die ein paar gruppendynamische Lockerungen für uns Zuschauer anleiten ("Bewege dich durch den Raum, ohne jemanden anzustoßen, und finde Deinen Ton!"); und mit dem Junior Brian Völkner, der sich ein paar satte Ohrfeigen verpassen lässt, wenn der Abend auf die Dunkelseite der sangesfreudigen Körperpraktiken zusteuert.
Ob sie wissen, was sie tun ???
Spätestens hier wird das Lächeln tatsächlich grundlos. An irgendeinem Punkt der kleinen Singstunde wollte Matschke seine workshopartigen Praktiken der Körper- und Stimmschulung als autoritäre Disziplinierung überführen, scheint’s. Der notorische Zwangspädagoge Moritz Schreber (1808-1861) wird stichwortgebend herbeizitiert, ohne dass die Zusammenhänge wirklich klar werden. Der Abend kulminiert im rudimentären Nachstellen des Milgram-Experiments (in dem Probanden schonungslos Gruppenmitgliedern Leid zufügten, weil sie sich durch die Autorität des Experimentleiters legitimiert sahen).
Man ahnt vage, dass Matschke hier die Licht- und Schattenseiten des Künstlerdaseins verhandeln will: Erst Workshop-Positivkultur mit Grinseface – und alle Zuschauer machen brav mit. Dann Ohrfeigen für abweichlerisches Verhalten – bis dem armen Brian Völkner die Wangen rot anschwellen. Und kein Zuschauer schreitet ein, weil die Autoritätsstruktur des Theaters alles abdeckt: Sie werden schon wissen, was sie tun...
Gefrierende Mundwinkel
Das alles hätte eine Lehrstunde in Sachen Theater und Autoritätszwinge ergeben können samt stillschweigendem Verweis auf die deutsche Obrigkeitstreue ("Germans are..."). Aber es ward nur eine Ausnüchterungskur – bis die Mundwinkel gefrieren. Die Chorstunde auf Volkshochschulniveau ist im Grunde ein Theaterkantinenwitz. Alles holpert, nichts greift. Warum hat niemand die Dramaturgie aus dem Tiefschlaf geweckt? Und die Intendanz? Die Leipziger haben sich ja einen Namen gemacht, als sie vor nicht allzu langer Zeit eine ästhetisch läppische Unternehmung wie "Welcome to Germany" von Monster Truck kurz vor der Premiere absagten. Und bei den Promis ist die Reißleine plötzlich verloren gegangen? Schön ist es, einen Abend mit einem Lächeln zu beginnen. Aber man will ihn auch mit einem Lächeln beenden.
Germans are different
Stückentwicklung von Matthias Matschke
Regie: Matthias Matschke, Künstlerische Mitarbeit: Dag Kemser, Bühne & Kostüme: Cleo Niemeyer, Musik: Hubert Wild, Dramaturgie: Christin Ihle, Licht: Ralf Riechert.
Mit: Marie Goyette, Tilo Krügel, Runa Pernoda Schaefer, Brian Völkner, Hubert Wild.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Erhellend sei die Inszenierung eher dahingehend, dass sie den amerikanischen "Think-Positive-Terror" beleuchtet, schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (18.4.2016). Sonst werden in Riess' doch einige Zweifel angemeldet, was das dramaturgische Funktionieren des Abends betrifft. "Banalitäten werden zur Erleuchtung aufgeblasen", heißt es auch einmal.
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Das könnte allerdings der interessanteste Aspekt dieser Arbeit sein: Teamprozesse können eben manchmal schon auch alles ziemlich einebnen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist selten pointiert, mutig oder gar radikal. Und wenn die Dramaturgie Teil dieses Prozesses ist (ich weiss nicht, ob das der Fall war), dann fehlt bald mal jede Aussensicht. Niemand mehr da, der bereit dazu ist, den womöglich mühsam errungenen Kompromiss grundsätzlich infrage zu stellen.
Und was ganz anderes: Bemerkenswert finde ich, dass in dieser Rezension ein entschlosseneres Eingreifen der Intendanz in so einem Fall gefordert wird. Wie die Zeit die Dinge doch verändert! Wenn ich mich richtig erinnere (und man kann es hier auch nachlesen), stand Lübbe damals ziemlich im Regen. Jetzt wissen wir: Er hat Eier gezeigt und darf das durchaus wieder tun.