Der Prozess des Hans Litten - Mit dem Stück des Briten Mark Hayhurst erinnert das Schauspiel Nürnberg an einen jungen Berliner Anwalt, der sich mit Hitler anlegte
Gegen das Unrecht schreien
von Dieter Stoll
Nürnberg, 8. Oktober 2016. Der allein auf großer Bühne sitzende Mann am Flügel hat sich den Hemdkragen gelockert und spielt versonnen eine Sonate, als die gewaltige Explosion den Frieden zerfetzt. Im harten Schnitt fallen Wochenschau-Bilder vom Berliner Reichstagsbrand 1933 über die Idylle her, das Chaos scheint besiegelt. Schnitt zurück von der History-Konserve zur Bühnen-Realität, die sich sehr deutlich als Transportmittel der Wahrheit versteht.
Es geht um eine Frau, einsam im möblierten Zimmer, und einen gefesselten Mann, im Kellerraum der SA-Hilfspolizei. Mutter und Sohn, Irmgard und Hans Litten. Er ist der junge Anwalt, der es zwei Jahre vorher tatsächlich gewagt hatte, Adolf Hitler persönlich vor Gericht als latenten Gewalttäter zu entlarven und nun in sogenannter Schutzhaft von dessen Anhängern zusammengeschlagen wird. Sie ist die Mutter, die alles tut und notfalls auch Verrat begeht, um den Sohn zu retten, dafür sogar mit "Heil Hitler" ins Gestapo-Quartier stürmt. Beide hatten die Nazis zu lange unterschätzt. Hans Litten nimmt sich 1938 nach qualvoller Gefangenschaft im KZ Dachau und dem Ende aller Hoffnung das Leben, Irmgard Litten flieht nach England, will gegen das Unrecht "schreien" und bringt im Kriegsjahr 1940 in London das Buch "A Mother Fights Hitler" heraus.
Denkmal kämpfender Mutter
Der britische Autor Mark Hayhurst hatte sich dem "Fall Litten" bereits mit einer BBC-Dokumentation und einem darauf bauenden TV-Film genähert, als er die Geschichte 2014 fürs Chichester Festival Theatre noch einmal neu erzählte. Sein Stück, im Vorjahr auch in London erfolgreich, rückt die kämpfende Mutter als Überlebende in den Mittelpunkt und macht den Sohn zum intellektuellen Sparringspartner zweier prominenter Zellen-Genossen. Der provokante Anarchie-Poet Erich Mühsam, wütender Antifaschist, und der um strategischen Widerstand ohne Gewalt ringende "Weltbühne"-Herausgeber Carl von Ossietzky führen im Kerker sarkastische Wortgefechte, die wie Stabilisierungs-Übungen in Moral-Fitness wirken. Hans Litten ist fasziniert von diesen Geistes-Helden des anderen Deutschland.
Geisteshelden eines anderen Deutschlands: Philipp Weigand links als Hans Litten, Patricia Litten
in der Mitte als die Mutter © Marion Bührle
Jean-Claude Berutti, der Regisseur der deutschen Erstaufführung, entwickelt daraus realistische Stationen-Dramatik mit stilisierter Möblierung (Gefängniszelle, Gestapo-Büro, Berliner Waldkulisse mit Vogelzwitschern, Konzentrationslager), die dem Zuschauer Szene für Szene die Betroffenheit als Quittung abverlangt. Auf meist abgedunkelter Bühne mit viel Schattenwurf (Ausstatter Rudy Sabounghi hat allem einen Bodenbelag mit Pflasterstein-Muster unterschoben und lässt immer wieder Stacheldrahtzäune aus dem Bühnenhimmel runter und rauf fahren) werden die Figuren mit Suchscheinwerfern isoliert, die Szenen-Fugen mit viel "Die Fahne hoch" überplärrt.
Zwischen "Mein Kampf" und "Er ist wieder da"
Jede Person ist mit dem ersten Auftritt festgeklopft. Den Akteuren bleibt nichts anderes, als fertige Charaktere mit professioneller Empathie auszumalen. Patricia Litten ist da in einer besonderen Lage: Die Schauspielerin, die in Nürnberg früher unter anderem Schillers Maria Stuart und Racines Phaedra spielte, empfindet hier das Leid ihrer eigenen Großmutter nach. Sie tut das bei allem spürbaren Mitgefühl ohne Sentimentalität, zeigt deren burschikosen Durchsetzungswillen und hat besonders ergreifende Momente in der still machenden Verzweiflung. Wohl ein Grund dafür, dass die Aufführung weniger schneidig endet als im Original.
Leid hinter Stacheldraht: Hans Litten kam ins KZ Dachau und nahm sich dort das Leben
© Marion Bührle
Philipp Weigand ist Hans Litten, der mit dem Recht triumphieren wollte und im Unrecht untergeht. Sein sichtbares Ringen mit der Figur, die ans eigene Heldentum nicht glauben mag und mit eckigen Gesten überall an Fragezeichen stößt, bringt die interessantesten Einsichten.
Die stärksten Effekte nutzen Pius Maria Cüppers (Erich Mühsam) und Marco Steeger (Carl von Ossietzky) mit ihrem bitteren Comedy-Pingpong und der wieder mal automatisch in Umlauf gesetzten Frage, wie viel Parodie der Umgang mit Hitler, womöglich aber auch, wie viel Hitler die Parodie noch verträgt. Wer sowas heute am Theater wagt, landet ja zwangsläufig irgendwo zwischen "Mein Kampf" (wahlweise George Tabori oder Rimini Protokoll) und "Er ist wieder da" nach Timur Vermes.
An Realitäten vorbei
In Mark Hayhursts Stück und der eher zaghaften Inszenierung von Jean-Claude Berutti bleibt dieser seltsame "Führer", der im Zeugenstand vom jungen Anwalt auf Ganoven-Normalformat gestutzt und dennoch nicht besiegt wurde, entschieden ungreifbar. Beim Verzweiflungs-Jux der drei Gefangenen, die mit schnarrendem Tonfall und "Heil"-Händchen aus dem Roboterprogramm das Gerichtsverfahren zur eigenen Erbauung nachstellen, schnalzt die ganze Aktion an allen Realitäten vorbei direkt ins aktuelle Event-Universum. Die Inszenierung, die sich als Mahnmal aufbaute, sammelt Lacher zum Abstützen. Die wirklich beeindruckende Geschichte von Irmgard und Hans Litten war nicht darauf angewiesen.
Der Prozess des Hans Litten – Taken at Midnight
von Mark Hayhurst; Deutsch von Michael Raab
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Jean-Claude Berutti, Ausstattung: Rudy Sabounghi, Musik: Bettina Ostermeier, Dramaturgie: Horst Busch.
Mit: Patricia Litten, Frederik Bott, Pius Maria Cüppers, Heimo Essl, Michael Hochstrasser, Jochen Kuhl, Marco Steeger, Philipp Weigand.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Eine "fast klassische" Inszenierung mit Dialogen, die "oft stehend oder sitzend ins Publikum gesprochen" würden, hat Barbara Bogen für den Bayerischen Rundfunk BR2 (9.10.2016) in Nürnberg erlebt. Die Inszenierungsweise folge dem "traditionellen Erzählmuster" des Hayhurst-Well-made-Plays, "Etwas sehr Statuarisches, Historisches haftet dem Abend aber so auch an, als sei dies eben wirklich längst vergangene deutsche Geschichte."
Katharina Erlenwein von den Nürnberger Nachrichten (10.10.2016) hält das Stück für "bieder gestrickt". "Wirklich gepackt wird man nicht vom bemüht-realistischen Bilderbogen." Die Figuren seien "seltsam beziehungslos zueinander, ihre Charaktere zementiert". Dass so wenig Emotionen über die Rampe kämen, liege vor allem an der "uninspirierten Regie".
Das Stück müsse über den Text viel historische Information liefern, tendiere daher zum Erklären statt zum Stpielen, schreibt Isabel Lauer von der Nürnberger Zeitung (10.10.2016). Nach einem starken Beginn folgen "sehr konventionell, statische Erzählgespräche und Monologe an der Rampe". Regisseur Berutti wolle die Montage der Zeit- und Schauspielplatzwechsel eher beruhigen als thetralisch ausreizen.
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Nicht weiter störend war Frederik Bott, der überwiegend den SA-Offizier imitierte, durch seine kleinen Gesten ein klares, dümmliches Bild dieser Gestalten formte.
Philipp Weigand wurde wohl aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Hans Litten für die Rolle des Hans Litten besetzt. Sein Spiel war leider einen Tick zu überdreht und aufgesetzt, als dass sich Sympathien bzw. Antisympathien mit der Figur hätten aufbauen können.
Zusammenfassend: Das Stück ist es nicht wert gesehen zu werden, wäre da nicht Patricia Litten, die wirklich eines solide Leistung abgeliefert hat. Das Stück an sich, die restliche Besetzung und die Regie waren jedoch eher belangloses Handwerk.
Es tut mir sehr leid, dass "Peter" nach der ersten Première schon stöhnen muss, dass er "Schlimmes" für die kommende Spielzeit befürchtet...
Lächerlich. Solch demotivierende Unkerei können nur Laien von sich geben - die ahnenden Besserwisser. Schon mal etwas von der Vielfalt des Theaters gespürt? Geben Sie die Hoffnung nicht auf. - Im Übrigen: gerade der SA-Offizier nervte (Regie) durch die klischeehafte Darstellung, merke: nicht alle Nazis waren (leider)"dümmlich". Aber liebenswürdig, dass Patricia Litten von "Peter" gnädiglich eine "solide Leistung" bescheinigt wurde...
Das Stück selbst war nicht gut; die Regie war einfallslos und das Schauspiel war mittelmäßig. Weithin scheint es mir, als würde es Frau Litten vor allem um Aufmerksamkeit gehen; darauf lässt Ihre Aussage auf der Premierenfeier schließen. Und Herrn Kusenberg um ein großes Ereignis. Ebenfalls auf seine Aussage auf der Premierenfeier zurückzuführen.
Der "britisch lockere Umgang" mit dem NS-Thema scheint nach Betrachtung der Premierenfeier wohl nicht mehr ganz so locker....
Ein Stück über den NS schien vielversprechend.
Etwas Shocking fand ich die Tafeln am Treppenabgang zum Untergeschoss: Da stand in aufdringlicher, nicht zu übersehender Weise geschrieben, welche Autofirma, welche Banken, welches noble Kaufhaus und wer noch hier als Sponsor agiert. Auf der Tafel stand nicht, wer die Hauptlast der Kosten trägt – nämlich wir als Besucher und als Steuerzahler.
(Und natürlich stand auf der Tafel auch nicht, welche „Kultur“ z.B. in diesem Kaufhaus herrscht. Da müssen Sie mal die VerkäuferInnen fragen.)
Natürlich war hier auch kein Warnschild: Diese Kultur wird von interessierten Kreisen gesponsert, und wir nehmen doch auch an, dass diese einen Einfluss auf diese Kultur haben.
Genauso hat mir missfallen, dass man zum Heraus- und Hineingehen einen Passagierschein bekam, die Kultur entwickelt sich zum abgeschlossenen Sicherheitsbereich. Auch dies hat Folgen.
Natürlich ist das nichts Neues, das gibt es seit einiger Zeit auch bei uns, freilich, was das Sponsoring angeht, nicht so aufdringlich. Aber, vielleicht ist es gut ab und zu woanders hinzugehen, damit einem so etwas wieder auffällt.
Kurz noch zum Stück; der erste Teil gefiel mir deutlich besser, der zweite war kitschig, bzw. gefühlig. Das be- oder verhindert bekanntlich die zum (Mit-)Denken notwendige Distanz. Im Gegensatz aber zum Stuttgarter Staatstheater war das ein Stück, über das man anschließend noch reden konnte, die Anspielungen und Bezüge zur Gegenwart diskutieren, ja und natürlich die Mängel beklagen. Wenn das also auch kein wirklich großer Theaterabend war, so lohnt sich die Fahrt doch durchaus.